„Bürgerliche Demokratie“ war und ist ein System der Klassenherrschaft des Kapitals
In seiner berühmten Rede in Gettysburg hatte der damalige US-Präsident Abraham Lincoln 1863 den Anspruch der Demokratie treffend b eschrieben: Demokratie, sagte er, sei „Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk“. Im Kalten Krieg mit dem sozialistischen Weltsystem gelang es der westlichen Propaganda, „Demokratie“ als Gegenbegriff zum „Kommnismus“ für die westlich-kapitalistischen Systeme zu reklamieren. „Demokratie“ und „Kapitalismus“ oder auch „Marktwirtschaft“ wurden zu Synonymen. (Ross 2012, S. 113) Erst im Verlauf der jüngsten Großen Krise des Finanzmarkt-Kapitalismus dämmerte es Gesellschaftswissenschaftlern und der allgemeinen Öffentlichkeit, dass es „dem Kapitalismus, dem zweieiigen Zwilling der Demokratie, der schon immer der Robustere und Gerissenere der beiden war, endlich gelungen (ist), die Demokratie zur `Marke` zu degradieren, jener spätmodernen Variante des Warenfetischismus, die das Verkaufsimage eines Produkts vollständig von dessen Inhalt ablöst“. (Brown 2012, S. 55)
Kapitalismus und Demokratie streben immer weiter auseinander, doch wäre es falsch, darin ein Abrücken der kapitalistischen Macht von ihren früheren Prinzipien zu sehen. Tatsächlich hatte die Idee und vor allem die Praxis der bürgerlichen Demokratie nur wenig gemein mit den Lincolnschen Prinzipien[1]. In Wahrheit hatten diese Idee und ihre bürgerlichen Verfechter mit einer Volksherrschaft als Herrschaft mit gleich- berechtigter Teilhabe aller nichts im Sinn. Ihr Versprechen war vielmehr das der Freiheit und politischen Gestaltung für und durch die bürgerlichen Eliten ein schließlich der Domestizierung subalterner Klassen. Dies wurde im ideologischen Rückgriff auf die griechische Demokratie begründet und in den bürgerlichen Revolutionen in den USA und Frankreich vorangebracht. Im neoliberalen Kapitalismus wurde die kapitalistische Quintessenz schließlich auf die Spitze getrieben: Politische Regeln werden durch markt- wirtschaftliche Kriterien wie Kosten -Nutzen-Verhältnis, Rentabilität und Effektivität ersetzt, „freie Wahlen“ werden zu einem „Zirkus von Marketing und Manage ment“ (Brown), Demokratie verkommt zu einem „Feigenblatt des Marktdespotismus und seines unverfälschten Wettbewerbs“. (Bensaid 2012, S. 23)
Kennzeichnend für diese Art Elite-Demokratie ist di e Berufung auf die antike Demokratie im alten Griechenland. Im damaligen Athen waren 80 – 90 % der erwachsenen Bevölkerung von der aktiven Teilnahme am politischen Leben ausgeschlossen: Frauen , Sklaven, ortsansässige freie Fremde und weitere, die nicht den strengen Abstammungsrichtlinien für attische Bürger entsprachen. Der großen Mehrheit der Bevölkerung war die Ausübung politischer Bürgerrechte also schon formal verwehrt. Bei der kleinen Minderheit der Berechtigten wäre die Frage zu stelle n, wer über die geistigen und materiellen Ressourcen verfügte, um sich auch praktisch zur Geltung zu bringen. Demokratía wurde von den oberen Klassen als Schmähbegriff geprägt, „um die ́Übermacht ́ (Kratos) der Besitzlosen (Demos) zu bezeichnen, wenn ́Demokratie ́ herrscht“ (Canfora 2007, S. 35 f – zit. nach Salomon 2012, S. 24). Die aus diesen Zeiten stammende Kritik Platons an der „Tyrannei der Zahl“ und am Mehrheitsprinzip gehört auch heute zum ehernen Grundsatzkanon der Elite-Demokraten.
Für den Verlauf der „modernen Demokratie“ ist zunächst, was Europa anlangt, Salomon zuzustimmen, dass sie „von Anfang an die Geschichte (mindestens) zweier antagonistischer Ideologien (ist). Der liberalen Konzeption einer Verfahrens- oder Elitendemokratie (was nicht immer das gleiche sein muss) entgegen standen bereits vor der Industrialisierungswelle des 19. Jahrhunderts Volksbewegungen (im sozialen Sinn des Wortes), die weitergehende Gleichheit und Freiheitsrechte für die traditionellen städtischen und ländlichen Unterklassen, später des Industrieproletariats forderten.“ (Salomon, a.a.O., S. 12f) Im 17. und 18. Jahrhundert waren bäuerliche, handwerkliche und kleinbürgerliche Gruppierungen „Träger und Motor demokratischer Forderungen“, im 19. Jahrhundert „fiel diese Rolle der (organisierten) Arbeiterklasse zu“ (a.a.O., S. 19).
Die US-amerikanische Entwicklung, die daraus entspringende „Bill of Rights“ bzw. die US-Verfassung, die weltweit als Modell demokratischer Entwicklungen propagiert wird, entsprach diese m Bild keineswegs. Die Führer der Revolution gegen Großbritannien waren Großgrundbesitzer und Sklavenbesitzer wie der erste Präsident, George Washington, oder Bankiers, wie ein späterer Nachfolger, Alexander Hamilton. Ihre Klasse bestimmte die Agenda der nordamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und schrieb die „Bill of Rights“, die Erklärung der Menschenrechte, die Teil der US-Verfassung ist. Schon in Artikel 4 wird der Schutz des Privateigentums als Menschenrecht proklamiert.
Diese großbürgerliche Revolution war in den Augen von Hannah Arendt ei ne „gute Revolution“. (Arendt 1963) „Die Französische Revolution und die nachfolgenden des 19. und 20. Jahrhunderts hingegen – allen voran natürlich die russische Oktoberrevolution von 1919 – verbanden die Frage des Sturzes des Ancien Régime mit der sozialen Frage und bezogen sich dabei auf den Massenaufstand der unteren Sozialklassen.“ (Deppe 2013, S. 69) Das waren nach Arendt schlechte Revolutionen, weil die Führer der Revolution die Gleichheit nicht nur als gleiche Rechte, sondern auch als materielle Gleichheit der Lebensbedingungen einschließlich einer Veränderung der Eigentumsverhältnisse entwarfen. (A.a.O.) Dies war auch die Auseinandersetzung unter den französischen Revolutionäre n, die eindeutig von der kapitalfreundlichen Seite gewonnen wurde. Nicht erst durch Napoleons Übernahm e der Reste der Revolution, sondern auch durch die Revolutionäre selbst. In Artikel 2 der Erklärung der Menschenrechte von 1789 heißt es: „Der Zweck jeder politischen Institution ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen. Diese Rechte sind die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit und der Widerstand gegen Unterdrückung.“ (Salomon, a.a.O., S. 48). Der Schutz und der Ausbau des privaten Eigentums standen seit je im Zentrum der bürgerlichen Demokratie-Überlegungen, wozu an vorderer Stelle die Niederhaltung der Kräfte gehört, die auf Aufhebung oder Einschränkung des Privateigent ums an den Produktionsmitteln aus sind.
Aus der „Volksherrschaft“ wurde ein Regeln-Verfahr en. Joseph Schumpeter formulierte 1942 eine „andere Theorie der Demokratie“, die er der „klassischen Lehre der Demokratie“ entgegenstellte: „Wir nehmen nun den Standpunkt ein, dass die Rolle des Volkes darin besteht, eine Regierung hervorzubringen oder sonst eine dazwischen geschobene Körperschaft, die ihrerseits eine nationale Exekutive oder Regierung hervorbringt. Und wir definieren: die demokratische Methode ist diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne di e Entscheidungsbefugnisse vermittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimmen erwerben.“ (Schumpeter 1950, S. 427f; Deppe 2013, S. 73).
Eine Methode, die bei der überlegenen Wettbewerbsmacht der Kapitale im Konkurrenzkampf um die Stimmen und bei der Besetzung der Spitzenpositionen der staatlichen Apparate durch Mitglieder der herrschenden Klasse, die Klassenherrschaft des Kapitals weithin sichert. Lenin hat diese liberale Demokratie deshalb zu Recht als „die denkbar beste politische Hü lle des Kapitalismus“ bezeichnet: „Daher begründet das Kapital, nachdem es … von dieser besten Hülle Bes itz ergriffen hat, seine Macht derart zuverlässig, derart sicher, dass kein Wechsel, weder der Personen noch der Institutionen der bürgerlich-demokratischen Republik, diese Macht erschüttern kann.“ (Lenin 1960, S. 405; Salomon, a.a.O., S. 17)
Die seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts dominierende Doktrin des neoliberalen Kapitalismus hat die egalitären Potenzen des demokratischen Konzeptes weiter geschliffen. Schon 1835 hat Alexis de Tocqueville in seiner Studie „Demokratie in Amerika“ vor der „absoluten Macht einer Mehrheit“ gewarnt, die eine „neue Abart der Knechtschaft“ hervorbringe. (Deppe, a.a.O., S. 82) Auf diesen Gedanken baut Friedrich A. Hayek, einer der wichtigsten Vordenker des Neoliberalismus, sein programmatisches Manifest „Der Weg zur Knechtschaft“. (München 2003, erstmals 1944). Darin wird unumwunden postuliert: „Das höchste Ziel ist die Freiheit und nicht die Demokratie“. (Hayek 2003, S. X) Weiter heißt es: „Die Demokratie ist vielmehr wesentlich ein Mittel und ein von der Nützlichkeit diktiertes Instrument für die Wahrung des inneren Friedens und der individuellen Freiheit. In dieser Eigenschaft ist sie keineswegs unfehlbar oder von absolut sicherer Wirkung. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es unter einem autokratischen Regiment oft mehr kulturelle und geistige Freiheit gegeben hat als in einzelnen Demokratien, während wir uns zumindest vorstellen können, dass eine demokratische Regierung unter der Herrschaft einer sehr homogenen und doktrinären Majorität die Menschen ebenso verknechten könnte wie die schlimmste Diktatur.“ (A.a.O., S. 99) Die Stoßrichtung Hayeks galt „den Sozialisten in allen Parteien“, denen er sein Werk ironisch widmet. In seinem Vorwort zur Neuauflage 1990, also zu m Zeitpunkt des Zusammenbruchs des sozialistischen Weltsystems, in seinen Augen das Ende der sozialistischen Idee, verkürzt der FDP-Politiker Graf Lambsdorff den Gegner auf die Anhänger des Sozialstaat es. Deren Aktivitäten seien zwar nicht so spektakulär, dafür umso bedrohlicher. „Davor sind wir kaum geschützt, wenn wir nicht mehr auf die Freiheit, Initiative und Leistungsfähigkeit des einzelnen setzen, sondern eine politische Strategie verfolgen, die den Bürger der vollständigen staatlichen Fürsorge anvertraut.“ (A.a.O., S. 5)
Hayek hatte einen Bruder im Geiste , der ideologisch vielleicht noch wirkmächtiger war als er: Walter Lippmann. Dieser war einer der einflussreichsten US-Journalisten, mehrfacher Pulitzer-Preisträger, Berater mehrerer US-Präsidenten, unter anderem von Woodrow Wilson, dessen 14-Punkte-Programm er wesentlich mitprägte. In Public Opinion (deutsch: Die öffentliche Meinung, Bochum 1990) schrieb er 1922 eine Art Bibel des Neoliberalismus. Ein Regime der Eliten, das durch die Kooperation von Big Business, Government, Think Tanks und Medien bestimmt wird, müsse die Demokratie vor der „Tyrannei der Mehrheit“ schützen.
Lippmann prägte den Begriff des „manufactoring consent“, der Fabrikation von Konsens. Die „spezialisierte Klasse“ der genannten Eliten müsse die Herde der Bürg er regieren und so den Hauptmangel der Demokratie aufheben: das unmögliche Ideal des „omnipotenten Bürgers“. (Zizek 2012, S. 116; https://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Lippmann)
In einem zweiten Text, The Cold War (1947), hat Lippmann wesentlich daran mitgewirkt, den Gegensatz Kapitalismus/Sozialismus aus den einzelnen Nationen in das internationale Feld zu verlagern. „Der eigentliche Gegensatz, der Hauptanlass des Konflikts, wird in den Außenraum verlegt. Aus dem innergesellschaftlichen Gegeneinander wird ein alles andere überschattendes Konfliktverhältnis zwischen Nationen von gegensätzlichem Gesellschaftstypus. Das Spannungsverhältnis scheint nun sozusagen aus der gesellschaftlichen Vertikalen transponiert in die Horizontal e national organisierter und räumlich geschiedener Ordnungswelten … Sozialer Streit erscheint als ein Reflex des äußeren Gegensatzes. Der landfremde Gegner sucht Zwietracht im Inneren der Gesellschaft zu säen. Solchem Bestreben muss im Namen der nationalen Geschlossenheit und Abwehrkraft begegnet werden. Die soziale Bewegung des eigenen Landes erscheint nun im Brechspiegel der Agenten-Theorie, sie ist aktuelle oder potentielle ‚fünfte Kolonne‘.“ (Hofmann 1967, S. 152 f; Salomon, a.a.O., S. 96).
Mit der Implosion des realen Sozialismus hätte de r Kapitalismus gerne auch die innergesellschaftlichen Konflikte für erledigt erklärt. Doch die Große Krise mit ihren eminenten Lasten für die Subalternen verhindert dies. Die Menschen fangen an, ihren Elite n zu misstrauen, die sich angeblich auskennen und zuverlässig die Richtung angeben. Doch noch gilt Slavoj Zizeks Anekdote über Niels Bohr, den dänischen Atomphysiker und Nobelpreisträger. Er hatte sich ein Hufeisen über seine Haustür gehängt. Ein Forscherkollege sagt ihm unwirsch, er teile diesen Aberglauben nicht. Darauf Bohr: „Ich glaube auch nicht daran; es hängt da, weil man mir gesagt hat, dass es auch wirkt, wenn man nicht daran glaubt.“ So funktioniert, meint Zizek, die demokratische Ideologie heute: Kein Mensch nimmt Demokratie oder Gerechtigkeit mehr ernst, wir alle wissen um deren Korruptheit, und dennoch praktizieren wir sie, das heißt wir demonstrieren unseren Glauben an sie, weil wir annehmen, dass sie wirkt, auch wenn man nicht an sie glaubt. (Zizek, a.a.O., S. 123)
Literatur
- Bensaid 2012: Bensaid, Daniel: Der permanente Skandal. In: Agamben, a.a.O., S. 23 – 54:
- Brown 2012 – Brown, Wendy: Wir sind jetzt alle Demokraten. In: Agamben, a.a.O., S. 55 – 71
- Canfora 2007 – Canfora, Luciano: Eine kurze Geschichte der Demokratie . Köln 2007
- Deppe 2013 – Deppe, Frank: Autoritärer Kapitalismus. Hamburg 2013
- Hayek 2003 – Friedrich August von:
- Der Weg zur Knechtschaft. München 2003
- Hofmann 1967 – Hofmann, Werner: Stalinismus und Antikommunismus – Zur Soziologie des Ost-West-Konflikts. Frankfurt/Main 1967
- Lenin 1960 – Lenin, Wladimir Iljitsch: Staat und Revolution. Lenin Werke, Band 25, 393 – 507. Berlin 1960
- Lippmann 1990 – Lippmann, Walter: Die öffentliche Meinung.
- Bochum 1990 (erstmals: 1922, The Public Opinion)
- Ross 2012 – Ross, Kristin: Demokratie zu verkaufen. In: Agamben, a.a.O., S. 96 – 115
- Salomon 2012 – Salomon, David: Demokratie. Köln 2012
- Zizek, Slavoj: Das „unendliche Urteil“ der Geschichte. In: Agamben, a.a.O., S. 116 – 136
[1] Die im Übrigen auch für die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland gelten. In Artikel 20 Abs. 2 des Grundgesetzes heißt es: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Bertolt Brecht fragte: Die Staatsgewalt geht vom Volke aus – aber wo geh t sie hin? Dies wird uns weiter unten beschäftigen.