Im Anschluss an den aktuellen report 114 "Indien im System des globalen Kapitalismus" 14 Thesen zur zukünftigen Rolle und Entwicklung Indiens:
- Indien stellt unter den 193 Mitgliedern der UNO mit rund einem Sechstel der Weltbevölkerung, als fünftgrößte Volkswirtschaft, Atomstaat und Ordnungsmacht im Indischen Ozean schon heute eine globale Macht. Seine wirtschaftliche und geopolitische Bedeutung wird weiterwachsen: drittgrößte Volkswirtschaft um die Mitte des Jahrhunderts repräsentiert es – nach dem Niedergang des Westens und Ende der US Hegemonie – einen Pol in dem multipolaren internationalen System der Zukunft. In dem sich abzeichnenden Konflikt zwischen den USA und China bzw. Russland kommt ihm eine Schlüsselrolle zu.
- Lange Zeit führender Vertreter der Blockfreien und des globalen Südens, seit kurzem Mitglied der BRICS und der Shanghai Organisation für Zusammenarbeit verfolgt das Schwellenland heute vorrangig eigene nationale Interessen, die sich auch in einem wachsenden Militärhaushalt Im Kampf um Macht- und Einflussvorteile im kapitalistischen Weltsystem werden sicherheitspolitische Allianzen auch mit alten imperialistischen Ländern, wie den USA und Japan, geschlossen, während China als Konkurrent und Gegner erscheint.
- Nach Jahrzehnten etatistischer, am Binnenmarkt orientierter Entwicklung haben seit den 1990er Jahren alle Regierungen eine Politik der Liberalisierung und Weltmarktintegration verfolgt. Der aktuelle Premier Modi hat sich dazu erneut in seiner Eröffnungsrede beim Weltwirtschaftsforum in Davos 2018 bekannt. Insofern hat Indien Modellcharakter für nachholende Entwicklung unter neoliberalen und bürgerlich demokratischen Bedingungen.
- Statt einer industriekapitalistischen Entwicklung nach dem Vorbild Westeuropas oder Chinas geht Indien direkt von einer dominant agrarischen zu einer Dienstleistungsgesellschaft über. Die nachholende Entwicklung wird darüber hinaus in viel kürzerer Zeit und durch den Einsatz von Digitalisierung (Smartphone) und Automatisierung (Industrie) in Sprüngen erfolgen.
- Selbst wenn dieser Entwicklungspfad zu hohem Wachstum konsumkräftiger Mittelschichten und des BIP insgesamt führen sollte, dürften soziale Ungleichheit und Arbeitslosigkeit steigen. Die Weltmarktintegration fördert die Bildung indischer Transnationaler Konzerne, während weniger konkurrenzfähige Betriebe verdrängt und damit Arbeitsplätze vernichtet werden. Ein Ausweg aus Prekarität, ein Rückgang der massenhaften Unterbeschäftigung auf dem Land und eine Überführung der Hunderte Millionen von Erwerbspersonen in den gesetzlich geregelten Arbeitsmarkt, zeichnet sich nicht ab. Ein ähnliches Schicksal erwartet die überwiegende Mehrheit der 12-14 Millionen jährlichen Neuzugänge auf dem Arbeitsmarkt.
- Über die Vertiefung des hierarchischen Schichtgefüges nach Einkommen und Vermögen, Qualifikation und Berufsstatus hinaus wird die indische Gesellschaft nur eine partielle Durchkapitalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse vorweisen.
- Als Resultat des dauerhaften Nebeneinanders vor-, halb- und kapitalistischer Produktions- und Verteilungsverhältnisse entwickelt sich nur partiell eine bürgerliche traditionelle Gesellschaft. Kollektive Identitäten wie Kaste, Religion, Sprache, ethnische Zugehörigkeit, etc. bleiben, wenn auch durch die dominanten Marktmechanismen überformt und verändert, bestehen.
- Die Fragmentierung der Gesellschaft hat Auswirkungen auf politische Willensbildung, gewerkschaftliche Organisationsfähigkeit und private Beziehungsverhältnisse. So wählen Parteien typischer Weise Kandidaten nach Kastenzugehörigkeit aus, sind religiöse Identitäten leicht zu mobilisieren und zu instrumentalisieren, bleiben Familie und arrangierte Heiraten dominante Bezugsmuster im privaten.
- Die Gewerkschaften sind angesichts geringer Urbanisierung (33 %), einem hohen Anteil von Selbständigen (50 %) und überwiegender Prekarität bei abhängiger Beschäftigung prinzipiell schwach und wenig sanktionsfähig. Institutionell nicht als Einheitsgewerkschaft organisiert, vielmehr politisch ausgerichtet, stehen sie verschiedenen Parteien nah. Realiter fungieren sie eher als deren Transmissionsriemen und Hebel politischer Mobilisierung denn als Vertreter von Arbeitnehmerinteressen.
- Während der Ausstoß an Klimagasen mit jährlichen CO2 Emissionen von 9 t pro Kopf sehr gering ist (globaler Durchschnitt 4,8 t, China 7,7, Deutschland 9,6, USA 16,1 t) und nach den Zusagen Indiens auf der Pariser Klimakonferenz 2016 auch in Zukunft so bleiben dürfte, ist das Land (wie die Staaten Afrikas südlich der Sahara) besonders vom Klimawandel betroffen. Steigende Temperaturen, das Abschmelzen der Himalaya-Gletscher, die steigende Unsicherheit nach Zeit, Ort und Niederschlagsmenge des für die Landwirtschaft lebenswichtigen Monsun sind schon heute spürbar und werden in den kommenden Jahrzehnten schwere wirtschaftliche, soziale und politische Folgen zeitigen. Die Auswirkungen in den Nachbarländern Nepal und Bangladesch, dessen Territorium vom Anstieg des Meeresspiegels besonders stark betroffen sein wird, wird die nationalen Probleme noch um eine internationale Dimension verschärfen. Ist doch zu erwarten, dass die schon heute umstrittenen Migrationsschübe nach Indien, drastisch zunehmen werden.
- Über den engeren Aspekt des Klimawandels hinaus ist die umfassendere Frage nach "nachhaltiger Entwicklung" generell gerade im Fall Indiens besonders. So liegt zwar der ökologische Fußabdruck pro Kopf (1,1 gha [globale Hektar]) weit unterhalb des global erlaubten Durchschnitts (1,7 gha), die ökologische Kapazität des Subkontinents ist allerdings von vorneherein sehr dürftig. Zum Vergleich: Obwohl jeder Einwohner Deutschlands einen fünfmal höheren ökologischen Abdruck (5,5 gha) aufweist, überschreitet er die Biokapazität (BK) des Landes (2,2 gha) mit 2,7 nur unwesentlich mehr als ein Inder (2,5, angesichts einer BK von o,4 gha). Die Überforderung der ökologischen Grenzen kann sich in den nächsten Jahrzehnten in Anbetracht des Wachstums der Bevölkerung wie der Wirtschaft nur potenzieren. National induzierte, durch externe weltweite Rückwirkungen drastisch negativ verschärfte Klima- und generell Umweltbedingungen werden früher oder später für Indien die Frage nach der Nachhaltigkeit des global verfolgten Entwicklungsmodells aufwerfen und zugleich neue regionale und geopolitische Fronten, bis hin zur Systemfrage, aufmachen.
- Die herrschende Klasse in Indien aus politischer Elite, Vertretern des transnationalen Kapitals, von Finanz- und Leih-(Wucher)kapital, Großgrundbesitzern, Vertretern freier Berufe wie des Top-Managements unterstützt von der besonders erfolgreichen Migrantenlobby in den USA werden eine Abkehr von der neoliberalen Ideologie und Politik kaum zulassen mit allen Mitteln trotz zunehmender Spaltung der Gesellschaft bekämpfen.
- Wenn auch in ihren konkreten Ausdrucksformen ungewiss, dürften Wachstumsprognosen illusorisch, die gesellschaftliche Stabilität angesichts frustrierter Zukunftsaspirationen einer wachsenden Zahl gut ausgebildeter Jugendlicher in Frage gestellt Angesichts der sozial und kulturell sehr heterogenen, zudem strukturell fragmentierten Gesellschaft ist eher eine Periode der Anomie, militanter Unruhen gegen die Regierung als eine breite revolutionäre Front zu erwarten. Die in Hindutva offenbar gewordenen Hindunationalistischen (anti-islamischen) Gegenstrategien seitens der politischen Eliten dürften diese Grundtendenz nur verstärken.
- Während die linken, kommunistischen Parteien zunehmend marginalisiert, die Arbeiterklasse fragmentiert und wenig organisationsfähig ist, stellt sich die Frage nach dem Aufbegehrungspotential der ländlich-bäuerlichen Gesellschaft. Äußerst zahlreich, in ähnlicher Lebenslage, von Ausbeutung und Umweltschäden besonders betroffen, könnte sie nicht in Kooperation mit den städtischen Wanderarbeitern jenes gesuchte historische Subjekt stellen?