Das ist in Deutschland derzeit kaum vorstellbar: ein seit über vier Wochen anhaltender landesweiter Streik in Frankreich bei der Eisenbahn, der zu einer erheblichen Einschränkung des Verkehrs im ganzen Land, speziell des Weihnachts- und Jahresend-Verkehrs geführt hat. Und parallel dazu bleibt der öffentliche Nahverkehr im Großraum Paris und in weiteren städtischen Ballungsgebieten einschließlich des regionalen Vorortverkehrs nahezu zeitgleich durch Streiks der Beschäftigten “erheblich gestört“. In dieser Zeitspanne waren schon dreimal Hunderttausende auf den Straßen bei Demonstrationen der Gewerkschaften in mehr als 200 Orten. Die örtlich organisierten gewerkschaftliche Aktionstagen sind in vielen Betrieben und Büros ebenfalls mit Streiks verbunden, ebenso im Schul- und Bildungswesen, bei Kindertagesstätten, Krankenhäusern Elektrizitätswerken, Raffinerien und Treibstoffdepots, in Seehäfen, in vielen staatlichen und kommunalen Dienststellen, bei Anwälten und Gerichten.
Da kann die soziale Protestbewegung in Frankreich gegen die von Präsident Macron gewollte „Rentenreform“ schon als außergewöhnlich bezeichnet werden, die seit dem 5. Dezember andauert und auch über die Weihnachtsfeiertage und den Jahreswechsel hinaus in kaum verminderter Stärke bis ins neue Jahr 2020 anhält. Sie ist bereits jetzt eine der längsten von den Gewerkschaften getragene soziale Auseinandersetzung der letzten Jahrzehnte in Europa.
Keine weihnachtliche Streikpause
Es ist Staatschef Emmanuel Macron und seiner vom rechtskonservativen Premierminister Edouard Philippe geleiteten Regierung nicht gelungen, die Streikenden zu einer „Weihnachtspause“ zu veranlassen. Seine an die Streikenden gerichteten Apelle, „Verantwortungsbewusstsein“ zu zeigen und auch sein ausgeübter moralischer Druck, „Respekt für die Familien“ zu zeigen gerade während der Feiertage, bewirkten keinerlei Unterbrechung des Streiks. Die Antwort der Streikenden war klar und deutlich: der Konflikt kann sofort beendet werden, wenn Macron und seine Regierung das Reformvorhaben zurücknehmen und zu echten Verhandlungen über eine Rentenreform bereit sind, die keine Verschlechterungen für die Beschäftigten und Rentnerinnen und Rentner bringt. Hierzu erklärte Laurent Bruns, Generalsekretär der Eisenbahnergewerkschaft der CGT, am 23.12.: „Wir wollen nur eins: so schnell wie möglich aufhören. Aber dafür muss die Regierung ihr Projekt zurückziehen“. Selbst die „reformistischen“ Gewerkschaften UNSA und CFDT ließen verlauten, dass der Ball ihrer Meinung nach nun bei der Regierung liege. Ihre Führungen hatten sich zwar für eine „Streikpause“ während der Feiertage ausgesprochen, während aber ihre Basis-organisationen, so beispielsweise die Basisorganisationen von UNSA in 17 Regionen für die Fortsetzung des Ausstands votierten.
Nur 40 Prozent der Züge
Sowohl am ersten Wochenende der Weihnachtsferien (21. – 23. Dezember) wie auch während der Weihnachtsfeiertage (24. – 27.12.) fuhren in etwa nur 40 Prozent der TGV-Schnellzüge, 25 Prozent der Intercitys, 20 Prozent der Vorortzüge im Großraum Paris und 40 Prozent der Regionalzüge in anderen Regionen. Bei der Pariser Metro blieben die Bahnhöfe von sechs Linien völlig geschlossen, bei acht weiteren Linien fuhren zeitweise höchstens ein Drittel der Züge. Beim Bus- und Straßenbahnverkehr sollen laut Direktion etwa zwei Drittel der Fahrzeuge in Betrieb gewesen sein. Allerdings war auch dieser Verkehr teilweise erheblich gestört infolge des erhöhten Individualverkehrs und der dadurch erzeugten riesigen Verkehrsstaus auf den Straßen, die zeitweise bis zu 600 km rund um Paris)reichten.
Ähnlich die Situation am darauffolgenden Wochenende zwischen den Feiertagen (28. ‑ 30.12.), dem Wechsel-Wochenende für viele Urlauber in den Weihnachtsferien. Laut Direktion der Eisenbahngesellschaft SNCF konnten etwa die Hälfte der 800 000 Reisenden mit fest gebuchten Sitzplätzen ihre Züge fahrplanmäßig benutzen. Der Rest musste auf andere Fahrzeiten und Linien umbuchen oder bekam sein Ticket zurückerstattet.
Die Gewerkschaften hatten für den 27./28.12. zu weiteren gemeinsamen lokalen Aktionen in allen Teilen Frankreichs mit unterschiedlichen Aktionsformen aufgerufen. In Paris gab es eine gemeinsame Demo aller Gewerkschaften mit mehr als zehntausend Beteiligten durch die Innenstadt. Eine ganze Gruppe von „Gelbwesten“ hatte sich demonstrativ dieser Aktion angeschlossen.
Die führende bürgerliche Tageszeitung „Le Monde“ fasste den Stand der Bewegung am 28. Dezember so zusammen: „Mit der Annäherung an Sylvester und das neue Jahr geht der soziale Protest gegen das von Emmanuel Macron gewollte „universelle Rentensystem nach Punkten“ einem neuen Rekord entgegen“. Mit 24 Streiktagen habe die Streikbewegung bereits länger angehalten als die Bewegung von 1995 (22 Streiktage), zu deren Beendigung der damalige rechtskonservative Regierungschef Alain Juppé sein „Rentenreformprojekt“ schließlich aufgeben musste. Damit könne der gegenwärtige Konflikt auch noch die 28 Tage überholen, die 1986-87 beim Streik bei der SNCF erreicht wurden. Damals ging es um die Erhöhung der Gehälter und bessere Arbeitsbedingungen. Die Entschlossenheit der Beteiligten sei spürbar, nicht klein beizugeben, sondern den Kampf bis zu einem Erfolg fortzusetzen.
„Lieber jetzt ein paar Wochen Entbehrungen als ein Leben im Elend“
Bemerkenswert ist, dass es Macron und seine Regierung trotz aller Bemühungen bisher nicht geschafft haben, größere Teile der Öffentlichkeit gegen die Streikenden aufzubringen, trotz der spürbaren Erschwernisse für viele unbeteiligte Menschen. Nach Umfrageergebnissen führender Meinungsforschungsinstitute lagen Zustimmung und Sympathie für die Streikenden auch in den Tagen nach Weihnachten nie unter 65 Prozent.
Dabei muss immer wieder in Erinnerung gebracht werden, dass die Streiks nicht von den Gewerkschaftszentralen angesetzt wurden, sondern von den Beschäftigten in betrieblichen Vollversammlungen an der Basis immer wieder neu beschlossen werden. Und die Streikenden nehmen dabei persönlich spürbare materielle Nachteile in Kauf, weil ihnen die Streiktage vom Gehalt abgezogen werden. Dieser Einkommensausfall kann je nach Höhe des Gehalts 60 bis 150 € pro Tag betragen. Da der Streik nun bereits in die fünfte Woche geht, bedeutet das für manche Beteiligte den Verlust eines ganzen Monatsgehalts.
Die von Laurent Bruns, Chef der CGT-Eisenbahnergewerkschaft zu Beginn des Kampfes ausgegeben Parole „Lieber jetzt ein paar Wochen Entbehrungen als ein Leben im Elend“ hat ganz offensichtlich die Zustimmung vieler Kolleginnen und Kollegen gefunden.
Regierung spielt auf Zeit und Spaltung
Die Regierung setzt angesichts des anhaltenden Massenwiderstands offensichtlich auf ein früher oder später einsetzendes Aufweichen der Streikfront und der abebbenden Zu-stimmung und Sympathie für die Streikenden, nicht zuletzt wegen der hohen finanziellen Einbußen. Zugleich versucht sie, mit Reden über diverse mögliche „Konzessionen“ die Betroffenen und die Gewerkschafsfront zu spalten und zu schwächen.
Schon am 11. Dezember hatte Macrons rechtskonservativem Regierungschef Edouard Philippe „Einzelheiten“ zu den Rentenreformplänen der Regierung bekanntgegeben, die als „Konzessionen“ ausgegeben wurden. Der Auftritt des Regierungschefs hatte jedoch nicht die gewünschte Wirkung. Nach Philippes „Erläuterungen“ sahen sich selbst die auf „Sozialpartnerschaft“ festgelegten Gewerkschaften mit ihrer prinzipiell positiven Haltung zur Rentenreform veranlaßt, ihre Mitglieder zur Beteiligung an den Gewerkschaftsaktionen aufzurufen. Der Knackpunkt dafür war die Missachtung der Regierung der von den „reformistischen“ Gewerkschaften verkündete „rote Linie“, nämlich dass die Rentenreform nicht mit Sparmaßnahmen im Rentensystem verknüpft werden dürfe.
„Ausgleichsalter“ von 64 Jahren: Verlängerung der Lebensarbeitszeit
Premier Philippe hatte bei seinen Erläuterungen in gewohnter Arroganz gegenüber Gewerkschaftsforderungen angekündigt, dass an der Einführung eines „Ausgleichsalters“ (age pivot oder age d’équilibre) von 64 Jahren für den Bezug einer normalen Vollrente festgehalten wird. Nur so könne ein Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben im neuen Rentensystem ohne Defizit erreicht werden. Das bisher geltende Renteneintrittsalter von 62 Jahren soll formal zwar beibehalten werden, wer aber vor dem „age pivot“ von 64 Jahren in Rente gehen will, muss Abschläge bei der Rentenhöhe von 5 Prozent pro Jahr hinnehmen. De facto läuft das auf ein Anheben des Renteneintrittsalters auf 64 Jahre für die große Mehrheit der Versicherten auf eine entsprechende Verlängerung ihrer Lebensarbeitszeit hinaus.
Die angeblichen „Zugeständnisse“ von Premier Philippe erwiesen sich bei genauerer Betrachtung als ein Nachgeben in Einzelheiten, um Leichtgläubige zu täuschen und den neoliberalen reaktionären Kern des Vorhabens umso besser durchsetzen zu können. Vor allem machte Philippe am 11.12. klar, dass es bei der Abschaffung der bisher geltenden 42 unterschiedlichen Rentensysteme bleiben soll, die aus verschiedenen Gründen historisch entstanden und zum Teil mit positiven Sonderregelungen für bestimmte Berufsgruppen verbunden sind. Dazu gehört u. a. ein früherer Rentenbeginn schon ab 58 oder 59 Jahren, wenn die Beschäftigten schon mit 15 oder 16 Jahren als Lohnabhängige zu arbeiten begonnen haben.
Die noch existierenden Sonderregelungen für bestimmte Berufsgruppen mit besonders beschwerlichen oder gesundheitsgefährdenden Tätigkeiten, wie viel Nacht-, Sonntags- und wechselnder Schichtarbeit, z. B. Lokführer, Krankenhauspersonal, Fahrpersonal im öffentlichen Nahverkehr usw. seien generell ungerechtfertigt und aus alten Zeiten stammende überholte „Privilegien“. Diese sollen angeblich aus Gründen der „Gleichbehandlung“ aller Berufstätigen durch ein einheitliches „universelles Rentensystem nach Punkten“ ersetzt werden. Jeder und jede Beschäftigte soll demnach pro eingezahltem Euro Beitrag in die Altersversorgung gleich viel Rentenpunkte gutgeschrieben bekommen, die bei Renteneintritt dann in eine entsprechende Geldsumme umgerechnet werden.
Zeitweise und oft unterbrochene oder langanhaltende Tätigkeit in Niedriglohnjobs, Zeiten der Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit oder Krankheit und insbesondere auch die bestehende Ungleichheit zwischen Männer- und Frauenlöhnen würden bei diesem „universellen“ Rentensystem nicht genügend berücksichtigt. Somit zeigt sich, dass die angebliche Anwendung des Gleichheitsprinzips die reale Ungleichheit der individuellen Berufslaufbahnen mit unterschiedlichen Zeiten der Beschäftigung und wechselnden Einkommenshöhen nicht beseitigen würde.
Rentensenkung infolge eines anderen Berechnungssystems
Darüber hinaus sieht die Macron-Rentenreform auch eine Änderung der Berechnungs-grundlage für die Rentenhöhe vor. Bisher war die Rentenhöhe abhängig von der Dauer der Berufstätigkeit und von den nach der Höhe des Verdiensts eingezahlten Beiträgen in die Altersversicherung. Für die Festlegung der Rentenhöhe wurden in der Privatwirtschaft die 25 Berufsjahre mit den höchsten Verdiensten, beim öffentlichen Dienst die letzten sechs Monate vor Renteneintritt zugrunde gelegt.
Nach dem neuen System sollen über die Punkte aber die Verdienste in allen Jahren der gesamten Berufstätigkeit, guten wie schlechten, zugrunde gelegt werden, einschließlich der Zeiten in niedrig entlohnten Teilzeitjobs mit vielen Unterbrechungen und Zeiten der Arbeitslosigkeit. Daraus lässt sich schon rein mathematisch ablesen, dass für die meisten Betroffenen nach dem neuen System eine niedrigere Rente herauskommen wird.
Zudem ist der Wert der angesammelten individuellen Rentenpunkte am Ende des Arbeitslebens keine feststehende Größe. Er soll vielmehr von der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung, etwa von der Gesamtentwicklung der Preise und Löhne abhängig gemacht werden. Gerade die Ungleichheit von Männer- und Frauenrenten bleibt damit aber beim neuen System bestehen, nachdem Frauen aufgrund der niedrigeren Frauenlöhne bei gleicher Beschäftigung weniger Punkte auf ihrem Konto haben werden. Als soziale Errungenschaft wird von Premier Philippe die Einführung einer Mindestrente im Rahmen des neuen Rentensystem angekündigt, die in etwa auf der Höhe der derzeit geltenden statistischen Armutsgrenze befände. Für die Gewerkschaften der reine Hohn! So fordert etwa die CGT die Einführung einer Mindestrente von 1800 €.
Spaltungsmanöver mit der Beschränkung auf Jüngere
Zu den größten Coups, mit denen Philippe die Opposition gegen seine Rentenreform abwiegeln und spalten wollte, gehört die Ankündigung, das neue System nur für Jüngere, nach dem Jahr 1975 Geborenen, gelten soll. Damit werde die Einführung des neuen Systems praktisch auf das Jahr 2037 festgelegt. Für alle älteren Jahrgänge würde das bisherige Rentensystem weithin gelten und an deren Renten überhaupt nichts ändern.
Nachdem aber das mit dieser „Reform“ vorgesehene „Ausgleichsalter“ von 64 Jahren für den Bezug einer Vollrente bereits im Jahr 2022 für alle Rentensysteme und Altersgruppen eingeführt werden soll, erweist sich die Parole „Für die Älteren ändert sich nichts“ als ein Täuschungsversuch.
Geschenk für die Versicherungskonzerne
Recht hatte die Gewerkschaft offensichtlich aber auch mit ihrer Feststellung: „Diese Reform ist ein Geschenk für die privaten Versicherungsunternehmen, deren Erfinder Jean-Paul Délevoye, Hochkommissar für die Renten, ihr Vertrauter ist“. Dieser mit der Rentenreform beauftragte Hochkommissar Délevoye, den Macron im September zum Regierungsmitglied im Ministerrang ernannt hat, vergaß ganz zufällig bei den gesetzlich vorgeschriebenen Angaben über Nebentätigkeiten seine Tätigkeiten für verschiedene Einrichtungen der Versicherungswirtschaft anzugeben. Statt der dreizehn inzwischen eingestandenen Nebenbeschäftigungen hatte er ursprünglich nur drei angegeben. Inzwischen war er allerdings wegen dieser „Vergesslichkeit“ zum Rücktritt gezwungen.
Private Versicherungskonzerne wie Axa oder Allianz stellen sich ungeachtet dessen auf eine Umsetzung der Rentenreform der Regierung ein. Sie haben anscheinend bereits damit begonnen, ihr Personal darauf einzustellen, Beschäftigte für den Abschluss von privaten Zusatzversicherungen zu gewinnen. Anfang Dezember wurde bekannt, dass auch der berüchtigte US-amerikanische Finanzgigant und Pensionsfond BlackRock mit seinen Lobbyisten bereits mehrfach bei verschiedenen französischen Regierungsinstanzen sein Interesse für Einzelheiten der geplanten Rentenreform bekundet hat.
Ausnahmeregelungen bestätigen die Regel: Rentenkürzungen
Die angekündigten „Konzessionen“ für Berufsgruppen wie Militärangehörige, Gendarmen und Polizisten, Flugzeugkapitäne und Seeleute, möglicherweise auch für die Feuerwehr und ähnliche Berufe zählen offensichtlich zu den Versuchen, die Oppositionsfront gegen die geplante „universellen Rentensystem nach Punkten“ zu spalten und zu schwächen. Auch über Sonderregelungen für Eisenbahner etwa über längere Übergangszeiten in das neue Rentensystem und bessere Regelungen für das Ende der Berufskarriere soll nochmals „nachgedacht“ werden.
Die angekündigten Sonderregelungen erscheinen bisher allerdings nur als Füllmaterial bei Pressekonferenzen von Ministern oder Staatssekretären zu dienen. Ob sich die Regierung am Ende darauf einlassen wird, ist völlig offen. Die nächsten Gespräche über solche Einzelheiten und „Konzessionen“ sind auf Einladung der Regierung für den 7. Januar vorgesehen. Dabei sollen zunächst aber nur eventuelle Zugeständnisse (Höhe der Mindestrente, längere Übergangszeiten bei der Einführung des „Ausgleichsalters“ von 64 Jahren) für „besonders beschwerliche Tätigkeiten“ (penibilité) erörtert werden.
Das Hauptziel der Regierung bleibt aber offensichtlich unverändert. Sie will die Menschen durch die Verlängerung des Renteneintrittsalters dazu zwingen, länger als bisher zu arbeiten. Gleichzeitig soll durch die neue Art der Berechnung die Rentenhöhe für alle generell gesenkt werden, um dadurch den finanziellen „Ausgleich“ in der Rentenkasse zu erreichen, ohne profitable Großunternehmen und reiche Vermögensbesitzer stärker zur Finanzierung von Sozialausgaben heranziehen zu müssen.
Für eine alternative Rentenreform, die des 21. Jahrhunderts würdig ist
Die seit dem 5. Dezember begonnene soziale Bewegung gegen die Rentenreform der Regierung macht klar, dass die Französinnen und Franzosen sich für die Zeit ihrer Rente von Staatspräsident Macron nicht die Butter vom Brot nehmen lassen wollen. Sie wollen sich soziale Errungenschaften, die zum Teil bis auf die ersten Jahre nach der Befreiung des Landes vom deutschen Faschismus zurückgehen, nicht wegnehmen lassen. Sie wollen nicht für ein längeres Leben der Menschen dank medizinischer, sozialer und technischer Fortschritte auch länger arbeiten müssen und dafür auch noch weniger Rente als bisher bekommen.
Die Regierungs-Parole „Wer länger lebt, muss auch länger arbeiten“ ist nach Ansicht der kampfentschlossenen französischen Gewerkschaften eine rein kapitalistische Logik. Sie entspricht dem Interesse der Unternehmer, die Menschen zum längeren Arbeiten zu zwingen, um damit länger Mehrwert, Gewinne und Reichtum anhäufen zu können.
Im Gegensatz dazu ist angesichts der durch die neuen digitalen Techniken gewaltig gesteigerte Produktivität eine weitere Verkürzung sowohl der Wochen- als auch der Lebensarbeitszeit notwendig und auch finanzierbar. Die längere Lebenszeit der Menschen darf nicht zwangsläufig der Steigerung des Reichtums des Finanzkapitals dienen. Sie kann zu einem erfreulichen gesellschaftlichen Fortschritt werden, wenn die mit den Produktivitäts-fortschritten realisierbare Verkürzung der Arbeitszeit mit einer entsprechenden Umverteilung des gemeinsam erzeugten gesellschaftlichen Reichtums verbunden wird.
Die CGT stellte dazu in einer Erklärung fest: „Da steht Projekt gegen Projekt. Die Regierung bereitet eine Gesellschaft vor, wo Prekarität (Unsicherheit der Existenz) und Armut die Norm wären. Die CGT ihrerseits schlägt ein anderes Sozialmodell vor, das auf der Solidarität und der Verbesserung der Rechte beruht, indem das derzeitige System weiter verbessert wird: Rente ab 60, Lohnersatzquote von 75 % (des bisherigen Verdiensts), vorgezogener Rentenbeginn für beschwerliche Tätigkeiten, Mindestrente bei 1800 Euro. Dies alles kann finanziert werden durch Maßnahmen wie Erhöhung der Löhne, das Schaffen stabiler Beschäftigungsverhältnisse, ein Erweitern des Spektrums der Beitragszahler und das Beenden der Milliarden Euro ausmachenden Beitragsbefreiungen.
Die französischen Gewerkschaften verteidigen nicht auf Biegen und Brechen das bisherige Rentensystem. Sie wollen aber Verschlechterungen verhindern und sie wollen, dass das Rentensystem für alle weiter ausgebaut und verbessert wird. Entsprechende Vorschläge für eine Alternative zu den Regierungsplänen haben sie vorgelegt. Doch die angemahnte „Dialog-Bereitschaft“ der Regierung mit den „Sozialpartnern“ wird konterkariert durch die Tatsache, dass über die Alternativvorschläge der Gewerkschaften bisher keine Diskussion erfolgte. Unübersehbar würde ein diesen Vorschlägen entsprechendes Rentensystem eine andere Verteilung des gesellschaftlich erarbeiteten Reichtums erbringen. Offensichtlich ist das der entscheidende Punkt, warum Staatschef Macron, der „Präsident der Reichen“, wie er von vielen in Frankreich genannt wird, darauf nicht einzugehen bereit ist.