Am 15. Januar gab das Statistische Bundesamt in seiner alljährlichen Pressekonferenz die (vorläufigen) Zahlen zum Bruttoinlandsprodukt für 2019 bekannt. Während des vergangenen Jahres tauchten häufig Befürchtungen auf, die deutsche Wirtschaft könnte in eine Rezession abrutschen. Dazu kam es nicht. Wenn man die Daten des Bundesamtes allerdings genauer betrachtet, zeigt sich die hiesige Ökonomie derzeit in einem widersprüchlichen und instabilen Zustand.

Das Bruttoinlandsprodukt wuchs 2019 real um lediglich 0,6 %, was man auch als eine annähernde Stagnation bewerten kann. Die Wachstumsraten gingen damit im zweiten Jahr in Folge zurück.

Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts, preisbereinigt

2017 2018 2019
2,5% 1,5% 0,6%

Bemerkenswert an dieser Entwicklung ist vor allem, dass sich ausgerechnet der Kern der bundesdeutschen Wirtschaft, nämlich die Industrie, in einem kräftigen Abschwung befindet. Die Industrieproduktion schrumpfte um ganze – 3,6 %. Die Industrie, die rund ein Viertel des Inlandsprodukts erwirtschaftet und der eigentlich dynamische und exportintensive Teil der Ökonomie ist, steckt damit in einer faustdicken Krise.

Das betrifft alle wichtigen Industriezweige. Vor allem die Kfz-Erzeugung verlor nach Angaben auf der Pressekonferenz des Bundesamtes mehr als 11 % (!!), der Maschinenbau nach Verbandsinformationen 1,8 %. Im Maschinenbau stürzten zudem die Aufträge in der zweiten Jahreshälfte regelrecht ab. Auch die Bestellungen bei der deutschen Industrie insgesamt gehen stark zurück. Warum befindet sich dann aber nicht die gesamte Wirtschaft im Abschwung? Stabilisierend wirkten einige Dienstleistungssektoren, hier vor allem Information und Kommunikation, sowie die Banken und Versicherungen. Beide Bereiche wuchsen um 2,9 %. Und nicht zuletzt konnte der Bausektor deutlich, um ganze 4,0 % zulegen.

Wenn wir uns ansehen, woher die Nachfrage kam, ergibt sich ein ähnlich instabiles Bild: Die privaten Konsumausgaben wuchsen mit 1,6 % stärker als im Vorjahr (1,0 %). Sie waren damit die wesentliche Stütze der Nachfrage. Auch die Konsumausgaben des Staates stiegen um 2,5 %, haben allerdings einen wesentlich geringeren Umfang als die privaten Ausgaben.

Die Nachfrage aus dem Ausland dagegen war verhalten und wuchs nur mit 0,9 %. Für die Exportwirtschaft ein schwaches Signal. Im deutlich negativen Bereich lagen, trotz der gestiegenen Bautätigkeit, die gesamten Bruttoinvestitionen. In dieser Rubrik werden sowohl Bauinvestitionen, als auch Ausrüstungsinvestitionen, Investitionen in geistiges Eigentum (z.B. Patente) und Lagerveränderungen erfasst. Die Bruttoinvestitionen schrumpften um – 1,7 %. (Dabei spielen allerdings massive Rückgänge in den Lagerbeständen eine Rolle. Das Bundesamt bewertet sie als Zeichen einer schwachen Industrieproduktion: Statt die Maschinen laufen zu lassen, werden in Erwartung ausbleibender Neubestellungen lieber die Lager geräumt.) Die industriell wichtigen und für die Wirtschaftsentwicklung maßgeblichen Ausrüstungsinvestitionen, das sind Investitionen in neue Maschinen und Geräte, stagnierten annähernd bei + 0,4 %.

Verwendungsseite des BIP: Wachstumsraten 2019

Private Konsumausgaben Bruttoinvestitionen Exporte
+1,6% -1,7% +0,9%

Wackelt das „Modell Deutschland“?

Auffällig ist, dass Deutschland damit im Rahmen der Eurozone auf den vorletzten Platz beim Wachstum abgerutscht ist. Die Eurozone wird nach ersten Schätzungen ein Plus von 1,1 % oder 1,2 % erzielen und damit rund doppelt so viel wie Deutschland. Alle anderen Euroländer, außer Italien, das auf dem letzten Platz liegt, wuchsen 2019 vergleichsweise nicht nur ein wenig, sondern deutlich schneller.

Wie sind diese Zahlen nun zu beurteilen? In der Presse konnte man häufig lesen, dass die Wirtschaft damit bereits endgültig einer Rezession entkommen sei und es in 2020 wieder besser werde. Sicher ist das nicht. Wenn sich die Talfahrt der Industrie in den nächsten Monaten fortsetzen sollte, wovon auszugehen ist, wird das ab einem bestimmten Punkt nicht mehr vom Bausektor und einigen Dienstleistungen kompensiert werden können. Dazu kommt die schwache Entwicklung der Exporte.

Ein wesentlicher Fakt ist außerdem die Stagnation beziehungsweise der Rückgang der Investitionen. Schrumpfende Investitionen deuten immer auf bestehende Überkapazitäten und Nachfragelücken hin, die nicht plötzlich verschwinden werden. Stagnierende oder rückgängige Investitionen führen außerdem ihrerseits sehr schnell zu Überkapazitäten in der Produktionsgüterindustrie (Akzeleratoreffekt). Wie gesagt: Die konjunkturelle Lage ist instabil, dass die Rezessionsgefahren gebannt sind, ist keineswegs ausgemacht.

Deutschland hat seine Rolle als dominierende Wirtschaftsmacht Europas damit noch nicht verloren – aber sein Wachstumsmodell, das sehr stark auf dem Export von Automobilen und Maschinen basiert, wird zusehends wackelig. Und zwar nicht wegen Trump und Xi, sondern wegen einer fahrlässigen Exportlastigkeit in den inzwischen falschen Produktlinien. So schreibt das Manager-Magazin: „Auch die Autohersteller verweisen gerne auf den US-Präsidenten als Hauptschuldigen für sinkende Absatzzahlen. Allerdings kann man das durchaus hinterfragen. Der chinesische Automarkt ist fast zwei Jahrzehnte lang stark gewachsen. Dass hier einmal ein Einbruch kommen musste, lag auf der Hand. Und auch in den USA war nach jahrelang steigenden Verkaufszahlen längst ein Rückgang absehbar“. (Manager Magazin, 16.12.2019)

Wachstum, Wachstum…

Nun stellt sich die Frage, ob man einen Rückgang der Automobilproduktion bedauern sollte. Es ist das Dilemma markt- und kapitalismuskritischer Ökonomen: Wachstum bedeutet Ressourcenverbrauch und Umweltzerstörung. Bleibt das Wachstum aus, entstehen Arbeitslosigkeit und soziale Probleme.

Letztlich weist das Stagnieren der deutschen Wirtschaft wieder einmal auf die Notwendigkeit hin, das gesamte Wirtschaftsmodell zu ändern. Eine Ökonomie, die nur dann floriert, wenn sie Millionen von Autos in alle Welt pumpt, ist mehr und mehr vorsintflutlich. Das Schwächeln der deutschen (und europäischen) Industrie sollte uns alle mit der Nase auf die Notwendigkeit eines ernsthaften sozialökologischen Umbaus stoßen.