In der deutschen Presse liest man derzeit nicht mehr viel von den Corona-Hilfen der EU. In anderen Ländern schon. Vor allem liest man da, dass Deutschland und Holland bremsen und blockieren und Video-Sitzungen der Finanzminister im Streit abgebrochen wurden. Nach europäischer Solidarität klingt das nicht.
Aber halt! Angeblich wurden in Brüssel doch inzwischen üppige Milliardenbeträge für die ökonomische Coronakrisen-Bekämpfung freigeschaltet? Sehen wir uns das genauer an: Aktuell beschloss die EU ein erstes Paket von Corona-Hilfen, die möglichst schnell fließen sollen. Zusammenaddiert umfassen sie nominell 540 Milliarden Euro. Zusätzlich zu diesen Corona-Hilfen wird über ein späteres „Wiederaufbauprogramm“ diskutiert, das die EU-Kommission mit bis zu 1.500 Milliarden ausstatten möchte.
Hilfspaket: dürftig?
Kommen wir also erst einmal zum Hilfspaket: Gemessen am Bruttoprodukt der EU von insgesamt 16.393 Milliarden Euro schrumpft dessen Volumen auf die überschaubare Größe von 3,3 % des europäischen BIP. Alle Prognosen gehen davon aus, dass der Wirtschaftseinbruch in der EU nach optimistischen Schätzungen mindestens 7 – 8 %, schlimmstenfalls aber sogar 15 % betragen wird. Der Stabilisierungseffekt der Hilfen wird demgegenüber eher begrenzt sein.
Im Vergleich dazu hat alleine Deutschland bisher rund 1.200 Milliarden an Krediten und Zuschüssen eingeplant. Die 540 Milliarden für die EU mit einer Bevölkerung von 460 Millionen Einwohnern wirken dagegen ein wenig dürftig. Die Frage ist außerdem, ob dieses Budget real denn überhaupt zur Verfügung steht und unter welchen Konditionen die Gelder erhältlich sein werden.
Das Paket besteht aus drei Hauptteilen:
- Die Europäischen Investitionsbank EIB soll mit Bürgschaften und Garantien bis zu 200 Milliarden Euro zinsgünstige Kredite an Unternehmen, vorrangig an Mittelständler, absichern. (Kreditgeber sind die Geschäftsbanken.) Die tatsächlich von den Mitgliedsstaaten dafür aufzuwendende Summe beträgt lediglich 25 Milliarden, da Garantien und Bürgschaften immer nur zu einem Teil gedeckt sein müssen.
- Zweitens wird ein europäisches Programm für Kurzarbeit (Sure) aufgelegt, in dessen Rahmen die EU-Kommission den EU-Ländern direkt Kredite gewähren kann. Das Volumen des gesamten Programms liegt bei maximal 100 Milliarden. Auch hier geht es zunächst nur um Garantien der EU-Regierungen für die EU-Kommission. Die nötigen Mittel werden dann von der EU durch Kreditaufnahme beschafft, also keineswegs, wie manchmal unterstellt, von reicheren Mitgliedsländern aus deren Steuereinnahmen und laufenden Haushalten finanziert.
- Drittens bietet der Eurorettungsschirm ESM Kredite von insgesamt 240 Milliarden an. Die einzelnen Länder können allerdings nur bis zu 2 % ihres Inlandsprodukts erhalten.
Schon alleine diese Zahlen zeigen, dass es mit der Solidarität tatsächlich nicht weit her ist. Von den EU-Regierungen werden für die gegenseitige Hilfe ein paar Milliarden an Bürgschaften bereitgestellt, zusätzlich Gelder aus dem ESM, die dort seit Jahren als Reserven lagern.
Speziell zur Freigabe des ESM-Budgets war außerdem noch eine lange und kontroverse Diskussion über die damit verbundenen Auflagen nötig. Kredite aus dem ESM waren bisher strikten Sparvorgaben unterworfen. Wer kurzfristig ESM-Finanzierungen brauchte, wurde dazu gezwungen sich mittelfristig tot zu sparen. Dass in der gegenwärtigen Situation überhaupt darüber diskutiert werden musste, diese ohnehin ökonomisch widersinnigen Regeln auszusetzen und vor allem Holland, aber zunächst wohl auch Deutschland die Auflagen aufrechterhalten wollten, ist schlichtweg beschämend.
Im Übrigen gibt es Anzeichen aus Italien, Spanien und Portugal, dass die dortigen Regierungen ESM-Mittel trotzdem nicht in Anspruch nehmen wollen. Sie befürchten, durch deren Nutzung könnten die Zinsen für ihre weiterhin notwendigen Kapitalmarktfinanzierungen wieder steigen. Ein Rückgriff auf den ESM würde von „den Märkten“ möglicherweise als Eingeständnis finanzieller Probleme gewertet und damit zu Risikoaufschlägen führen. Trotz aller EZB-Interventionen werden die Zinsen eben immer noch von den Finanzmärkten mitbestimmt. Vor allem die spanische Regierung drängt außerdem darauf, EU-Hilfen überhaupt nicht als Kredite, sondern als Beihilfen zu gestalten.
Wiederaufbau: Viel Wind
Ein ähnliches Verwirrspiel der EU unter deutscher Mitwirkung deutet sich beim „Wiederaufbauprogramm“ von angeblich 1.500 Milliarden an. Gedacht ist dieses Programm unter anderem als Beruhigungspille für alle Regierungen, die Eurobonds fordern. Woher sollen diese Wiederaufbau-Milliarden kommen? Wie schon bei der EU-Investitionsförderung der vergangenen Jahre ausprobiert, sollen sie „geleveraged“ werden. Darunter versteht man eine wundersame Geldvermehrung, die in der Bibel allerdings deshalb nicht vorkommt, weil selbst die Evangelisten bezweifelt hätten, dass sie funktioniert.
Dieses Leveragen (Hebeln) setzt auf die Kooperation zwischen EU und Privatwirtschaft und geht davon aus, dass bei gemeinsamen Projekten die EU einen Teil der Investitionskosten übernimmt oder durch Bürgschaften absichert und private Investoren dann den Rest einbringen. Im Juncker-Plan der vergangenen Haushaltsperiode hat die EU ein Verhältnis von 1 : 15 angenommen (SZ 10.05.20). Investiert die EU eine Milliarde, legen private Akteure demnach theoretisch nochmal 15 Milliarden drauf. So hochgerechnet landet man schnell bei einem Volumen von 1.500 Milliarden, ohne dafür nennenswerte Mittel aufbringen zu müssen. Dass sich diese Annahmen real bestätigen, ist allerdings eher unwahrscheinlich.
Insgesamt kann man die EU Politik so zusammenfassen: Viel Wind mit großen Zahlen, aber wenig Substanz dahinter.
Der Elefant im Porzellanladen
Bei den Verhandlungen zu diesen Paketen wurde viel Porzellan zerbrochen. Vor allem die Ablehnung von Eurobonds durch Deutschland und Holland wurde als Verweigerung der Zusammenarbeit verstanden. In den schwächeren europäischen Ländern breiten sich Ernüchterung und Empörung über die Rolle Deutschlands, Hollands, Österreichs und Finnlands aus. In Italien nimmt die Stimmung gegen den Euro und gegen die Bevormundung durch Deutschland gewaltig zu. Laut Umfragen schätzen 70 % der Italiener die EU derzeit negativ ein. Freunde aus Portugal berichten mir, das sich in der portugiesischen Presse die Sichtweise entwickelt hat: „Euro ja – aber ohne Deutschland!“
Und selbst der französische Präsident Macron lässt in einem Interview mit der Financial Times alle Diplomatie beiseite und stellt fest, dass es einige Länder gibt, die Europa immer dann gut finden, wenn es um das Exportieren ihrer Güter geht, die aber Europa schnell vergessen, wenn es um Solidarität geht. Wen er wohl meint?
Letztlich bleibt die Rettung der EU wieder mal an der EZB hängen. (Wenn Deutschland sie nicht endgültig mit Unterstützung des Bundesverfassungsgerichts demontiert.) Denn die einzelnen Regierungen müssen die Corona-Kosten weiterhin hauptsächlich selbst aufbringen und dazu Ihre Schulden erhöhen. Die EZB kann dann mit Aufkäufen von Regierungsschuldverschreibungen die Zinsen so einigermaßen im Zaum halten und die Finanzierung sicherstellen.
Und trotzdem wird „Corona“ die Spaltung der EU und vor allem der Eurozone, vertiefen. Gerade die Verliererländer der Wirtschafts- und Währungsunion wie Italien oder Spanien sind von der Pandemie auch wirtschaftlich am härtesten betroffen. Wenn dann hinterher, nach der Viruskrise, wieder ein paar neoliberale (deutsche) Dogmatiker ankommen und den schnellen Abbau der coronabedingten Schulden verlangen, dann stünde die EU wohl endgültig vor dem Scheitern.
Corona weist wieder einmal auf die dringende Notwendigkeit einer anderen Europa- und Wirtschaftspolitik hin: Nur wenn eine gemeinsame, aktiv steuernde Wirtschaftspolitik das Auseinanderdriften der EU-Staaten und vor allem der Euroländer in Gewinner und Verlierer beendet, kann die EU eine Zukunft haben.