Bob Woodward, der zusammen mit Carl Bernstein die Watergate-Affäre losbrach, die den damaligen Präsidenten Nixon zum Aufgeben zwang, hat einen neuen Coup gelandet. In der Washington Post teilte Woodward mit, dass Trump sich von Anfang an über die Gefahr des Coronavirus im Klaren war, öffentlich aber wider besseres Wissen von einer normalen Grippe sprach, die sich bald verflüchtigen würde. Trump, der Woodwards Bericht bestätigte, sagte: „Ich wollte es immer herunterspielen.“

Dieser Haltung entsprach Trumps lasches Vorgehen bei den Maßnahmen gegen die Epidemie. Der New Yorker Columbia-University zufolge hätte der Präsident durch eine schnellere Durchsetzung von Hygiene- und Abstandsregeln über 58.000 Todesfälle verhindern können. Mit fast 200.000 Toten führen die USA die globale Rangliste der Corona-Opfer an. Würden in Deutschland amerikanische Verhältnisse herrschen, müsste die hiesige Statistik zum 10.9.2020 nicht 9412 Todesfälle aufweisen, sondern 48.942, also das Fünffache.

Mit Woodwards Knaller gerät die Corona-Lage endgültig ins Zentrum des Wahlkampfs. Lange wollte Trump die gute Wirtschaftslage in den Mittelpunkt seiner Wahlkampfstrategie stellen. Bis Anfang des Jahres schien das noch möglich. Die Pandemie räumte dieses Konzept beiseite. Im Februar wies die Statistik 5,79 Millionen Arbeitslose auf; im April stieg diese Zahl auf 23,08 Millionen, mit 14,7 % die höchste Arbeitslosenquote seit dem Zweiten Weltkrieg. Am 1. August waren immer noch 16,3 Millionen Menschen ohne Arbeit. Ende Juli lief die Sonderhilfe für Arbeitslose aus, 600 $ pro Woche erhielt jeder Arbeitslose. Nun regiert Trump mit Dekreten, gemeinsame Beschlüsse des Kongresses gibt es nicht. Jetzt erhalten Arbeitslose 400 $ in der Woche, Zwangsräumungen sind eingeschränkt, die Sozialversicherungsabgaben wurden gesenkt. Mit dem Arbeitsplatz verlieren die Arbeitslosen in der Regel ihre Krankenversicherung. Es drohen millionenfache Zwangsräumungen. Mit der Pandemie-Katastrophe einher geht der Zusammenbruch von Konjunktur und sozialen Bindungen. Die USA stecken in einer umfassenden ökonomischen und sozialen Krise. Alle Umfragen offenbaren, dass die Entfremdung zwischen politischem Apparat in Washington und Bevölkerung in Trumps Amtszeit nie größer war.

Doch genau das ist es, worauf es Trump jetzt ankommt. Da er mit wirtschaftlichen Erfolgsmeldungen nicht punkten kann, verlegt er sich auf die Zuspitzung der sozialen Konflikte, auf das Auseinanderreißen der Gesellschaft in zwei Abteilungen. Wir sprechen hier nicht von den 1% gegen die 99%, die Superreichen gegen den Rest der Gesellschaft. Hier geht es um das Zertrümmern des bisherigen Mittelstandes, in eine Abteilung, die entlohnt wird für ihr produktives Mitmachen, und eine zweite, die als unfähig verstoßen( zurückgelassen wird. Anne Case und Angus Deaton belegen, dass die mittleren Löhne amerikanischer Männer über das letzte halbe Jahrhundert stagnierten und dass weiße Männer ohne Hochschulstudium zwischen 1979 und 2017 13% ihrer Kaufkraft verloren haben. In derselben Zeit stieg das Bruttoinlandsprodukt um 85%. Zwischen Januar 2010 und Januar 2019 wurden 16 Millionen neue Jobs geschaffen, aber weniger als drei Millionen für solche ohne Hochschulabschluss[1].

Es handelt sich also um eine Dreiteilung der US-Gesellschaft. Oben rangiert eine kleine Spitze unermesslich Reicher, die in schnellem Tempo immer reicher wird. Dann folgt eine breite Gruppe von Menschen mit stagnierendem, aber subjektiv als hinreichend betrachteten Einkommen. Eine etwa gleich große Gruppe, die frühere Arbeiterklasse, in den USA in der Regel als Mittelklasse bezeichnet, die ohne Uni-Abschluss den Anforderungen des modernen Kapitalismus immer weniger genügt, wird konsequent abgehängt.

Diese Gruppe stellt den harten Kern der Trump-Wähler. 2016 waren 77 % der Trump-Wähler wirtschaftlich schlechter dran als vier Jahre zuvor. 20% derer, die 2012 für die Demokraten gestimmt hatten, gaben 2016 ihre Stimme für Trump ab, den Rächer der Abgehängten, in dessen Hass auf die Washington-Elite sie sich wiedererkannten[2].

Die Abgehängten sind noch mehr geworden, noch mehr erleben Einkommensverluste, sind inmitten einer massenmordenden Epidemie ohne ausreichenden Gesundheitsschutz, haben eine noch schlechtere Perspektive als vor vier Jahren, werden von der kosmopolitischen Elite Washingtons und New Yorks mit Verachtung bedacht – und mittendrin ihre Identifikationsfigur Trump, von den Eliten verhöhnt und belächelt, der aber weiterhin eins mit jedem Angriff der Medien- und Politikerkaste mehr unter Beweis zu stellen scheint, nämlich dass er ihr Mann ist im Kampf gegen ein System, das sie abgehängt hat.

Daher rührt die feste Bindung der Basis an Trump, was immer auch an Skandalen und Versagen öffentlich dokumentiert wird. Trump sagte, er könne sich auf die Fifth Avenue stellen und Leute erschießen, und man würde ihn nicht belangen. Er könne jeder Frau an die „Pussy“ fassen und sie würde sich nicht beklagen. Und auch nach dem Impeachmentverfahren und jetzt nach dem kriminellen Versagen bei der Corona-Bekämpfung – stets stehen 41 bis 45% der Wähler zu Trump. „Kein Präsident in der jüngeren Geschichte der öffentlichen Meinung erfreute sich einer solch anhaltend soliden Unterstützung. Trump wird von den meisten Amerikanern nicht gemocht, aber seine Basis hat in einem Maß zu ihm gehalten, die jedem menschlichen Verstehen zu widerstehen scheint.“[3]

Dean und Eltemeyer versuchen es mit der Erklärung, dass sich in den USA vor allem in der unteren Mittelschicht ein neuer Typus der „autoritären Persönlichkeit“ herausgebildet hat, der nach einem autoritären Führer ruft. Sie nennen die Untertypen der autoritären Persönlichkeiten einmal die Social Dominators, dann die autoritären Gefolgsleute und drittens eine Mischung von beiden. Im Kern steht die Ablehnung des Gleichheitsgrundsatzes und damit des Herzstückes der amerikanischen Verfassung. Die Unabhängigkeitserklärung hatte Thomas Jefferson mit den Worten eröffnet: „Wir halten diese Wahrheiten für selbst-einsichtig, dass alle Menschen gleich geschaffen sind ..“ Die neuen Autoritären lehnen die Gleichheit von Individuen und von Gruppen ab. Sie verlangen Überlegenheit für sich und die Ihren. In einem Eigenschaftskatalog notieren die Autoren unter anderen diese Prägungen: amoralisch / betrügen, um zu gewinnen / nationalistisch / gnadenlos / einschüchternd / rachsüchtig /unehrlich / militant /politisch und ökonomisch konservativ.

Ein Katalog des faschistischen Untertanen- wie des Führer-Ungeheuers, das sich mit Trump breit machen kann. Das Anwachsen des faschistischen Potenzials in den kapitalistischen Ländern zeigt sich beispielhaft in den USA. Hinter Trump versammelt sich eine starke Gruppe aus dem absteigenden Mittelstand (der schon das Wähler-Fundament der Nazis in der Weimarer Republik stellte).

Wer aber liegt vorne – Biden oder Trump?

Vorne liegt Biden: 50,1 % gegen 42,0%. Doch sagen diese Prozentzahlen nicht viel. Bei der Wahl 2016 lag Hillary Clinton sogar am Ende mit 48,2 % vor Trump, der 46,1 % einfuhr. Entscheidend sind die Stimmen der Wahlmänner und -frauen, die nach den Stimmen in den einzelnen Staaten ausgezählt werden nach Kriterien, die kleine Staaten bevorzugen, was Trump außerordentlich entgegenkommt. Die meisten Staaten sind von den Prognosen her fest in roter (Republikaner) oder blauer (Demokraten) Hand. Vier Staaten sind besonders umstritten: Florida, Georgia, Michigan und Ohio. Wer in diesen vier Staaten gewinnt, wird wahrscheinlich der nächste Präsident. Dort werden 79 Wahlmänner- bzw. -frauen gewählt, was zur Mehrheit im Wahlleute-Kolleg reichen würde. (270 Stimmen werden zur asoluten Mehrheit im Electoral College gebracht.) Bislang liegt Biden in den Swing States knapp vorn. Auch in Georgia, Iowa und North Carolina ist Bidens Vorsprung äußerst knapp. In Texas, mit 38 Wahlmännern/frauen ein Schwergewicht, reklamieren die Demokraten, Biden habe mit Trump gleichgezogen.

Angesichts der anhaltenden Vorsprünge Bidens treibt Trump die Wahlschlacht in ein bürgerkriegsähnliches Klima. Die Demonstranten der Black Lives Matter-Bewegung nennt er „inländische Terroristen“. Der donnernde Beifall des harten Kerns seiner Unterstützer ist ihm gewiss. Unter dem Applaus des Präsidenten rüsten bereits weiße Bürgerwehren, die solchen „Terroristen“ mit der Waffe in der Hand entgegentreten und sie abknallen. Seine Anhänger ruft Trump öffentlich auf, zwei Mal abzustimmen – sowohl per Brief wie im Wahllokal. Das ist ein präsidialer Aufruf zum Wahlbetrug und für eine Anfechtung wegen Wahlbetrugs, sollte die Auszählung zu Ungunsten Trumps ausfallen. Trump ist entschlossen, sein Amt nicht nach demokratischen Regeln abzugeben. Er rüstet zu einer Art Endkampf gegen die Demokratie in den USA. Richard D. Wolff sieht die USA in den Faschismus abgleiten. Das Kapital brauche den Staat als Kreditgeber der letzten Instanz für eine verschuldete Wirtschaft und die zunehmend unzufriedenen Teile der Unterklasse müssen mit Konzepten stillgelegt werden, die überall Sündenböcke konstruieren – Immigranten, Schwarze, Intellektuelle, Chinesen usw – und das Kapital aus der Schusslinie bringen. Deshalb setzt das große Kapital in wachsendem Maß auf den Faschismus à la Trump und die Kooperation mit staatlichen Agenten.

Es fragt sich, ob die 20 Millionen Wähler, die 2016 weder für Trump noch für Hillary Clinton gestimmt haben, den Ernst der Stunde begreifen. Ob sie sich für Joe Biden, von Trump als Sleepy Joe schmäht, entscheiden, scheint fraglich. Hillary hatte viele mit ihrer kosmopolitischen Brillanz und ihrem Vergnügen am eigenen Reichtum und Einserschülerinnen-Habitus abgestoßen. Ob Biden, jahrzehntelanger Arbeiter und Profiteur im Weinberg Washington, für die WählerInnen attraktiver ist, wäre für den Autor eine willkommene Überraschung.


[1] Anne Case, Angus Deaton (2020): Deaths of Despair and the Future of Capitalism. Princeton, S. 7
[2] John Dean, Bob Altemeyer (2020): Authoritarian Nightmare. New York, S. 112
[3] ebd., S. 105