Die Digitalisierung im Handel hat in den letzten Jahren rasant zugenommen, der Druck auf die Beschäftigten in allen Bereichen des Handels wird stärker. Die Kontrolle der Arbeitsleistung, des Umsatzes, der Arbeitszeiten und die Fehlzeiten erfolgt heute über immer ausgefeiltere Technik. Trotz arbeitsrechtlicher Vorgaben gibt es immer wieder die Versuche der Unternehmen, unter dem Deckmantel „es ist doch nur gut für euch“, den Beschäftigten jedes digitale Instrument aufzudrücken, von denen noch mehr Leistung, noch mehr Umsatz und Profit erhofft wird. Beispiele:
- Wo das Arbeitsgesetze zum Schutze der Gesundheit gutes Licht bei Computer-Arbeit vorschreibt, soll in Möbelhäusern die Kundenberatung mit einem Tablet auf dem Sofa bei gedämpftem Licht durchgeführt werden. Die Tablets sollen ständig mitgetragen werden. Was auch die permanente Kontrolle von „Laufwegen“ der Verkäufer*innen, Verkaufsgesprächen und anderes möglich macht.
- Bei H&M wurde im Januar 2021 das Ziel zur Entwicklung einer "digitale Umkleidekabine" genannt. Onlinehändler-News berichtete im Juni 2022, dass die neuen Tools in den USA bereits getestet werden, Kund*innen sich scannen lassen und mit diesem persönlichen digitalen Ebenbild und einer App individuelle Looks digital anzuprobieren.
- Im Lebensmitteleinzelhandel wird der „digitale Einkaufswagen“ genutzt. Den Kund*innen wird dies mit schnellerem Einkauf schmackhaft gemacht, weil der Wagen selbst scannt und von einem Konto das Geld abbucht. Also – kein Anstehen an der Kasse mehr. Das Personal soll nur als Notfall gerufen werden, die vorher im Verkauf Tätigen werden nun zur Warenverräumung eingesetzt – was eine niedrigere tarifliche Eingruppierung bedeutet.
Jetzt hat ver.di-Handel mit Hennes & Mauritz – H&M den ersten Tarifvertrag zur Digitalisierung im Handel abgeschlossen. Vom Himmel gefallen ist er nicht – ein jahrelanger Kampf wurde geführt mit Diskussionen der Beschäftigten in den Stores zur Aufstellung der gemeinsamen Forderungen, mit der Bildung einer Bundestarifkommission, mit Verhandlungen, mit Aktionen und Streiks der Beschäftigten. Doch der lange und erfolgreiche Kampf wäre nichts wert ohne das Ergebnis! Der ver.di-Verhandlungsführer der Tarifkommission, Cosimo-Damiano Quinto, bewertet es: „Das ist ein großer Erfolg, denn dies ist der allererste Digitalisierungstarifvertrag im Handel. Die digitale Technik muss im Interesse der Beschäftigten gestaltbar sein. Durch den Tarifvertrag werden dafür die Beteiligungsrechte des Gesamtbetriebsrates erweitert und ein Digitalisierungsbeirat gegründet, der aus Vertreter*innen von ver.di und H&M besteht und eigene Vorschläge sowie Vorschläge der Belegschaft zur Gestaltung des Zukunftskonzepts einbringen kann.“ Neben Kündigungs- und Abgruppierungsschutz wird in dem Tarifvertrag festgelegt, dass Leiharbeiter*innen nicht die festangestellten Kolleg*innen ersetzen dürfen, sondern nur „Arbeits-Spitzen“ abdecken. Ein wichtiger Passus ist dies für Unternehmen, die saisonal zusätzliches Personal kurzfristig einstellen. Eine Qualifizierungsoffensive für die Beschäftigten in den H&M-Stores wird durchgeführt, damit alle mit den neuen technischen Anforderungen die Arbeit leisten können. Bis zu sechs tarifliche Sonderzahlungen sind vereinbart – je nach Wochenstundenarbeitszeit gibt es je zweimal von 250 Euro bis 450 Euro brutto im Jahr zusätzlich. Die Laufzeit des Digitalisierungstarifvertrags beträgt 36 Monate. Es steht auch im Vertrag: „Die Tarifvertragsparteien sind sich darüber einig, dass die Digitalisierung, die Qualifizierung der Beschäftigten sowie die Beratung durch qualifizierte Beschäftigte eine Chance dafür ist, den stationären Handel im Rahmen der Omnichannel-Strategie zu erhalten und zu stärken.“ (Die sog. Omnichannel-Strategie meint eine Verknüpfung von Filial- und Onlinegeschäft.) Maximilian Schüssler, Country Sales Market Manager Deutschland/Niederlande bei H&M sieht auch auf das Ergebnis: „Ich freue mich sehr über den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen: Wir erreichen damit einen Meilenstein in der Zusammenarbeit mit Verdi und unserem GBR und bereiten den Weg für eine digitale Zukunft im Omnichannel. Der Digitalisierungstarifvertrag ist in dieser Form außerordentlich und setzt im Einzelhandel einen neuen Maßstab.” Ein Erfolg ist dieser Tarifvertrag von ver.di mit H&M auch bei Betrachtung der Entwicklung des schwedischen Unternehmens. In der H&M-Gruppe ist der Online-Umsatz im Geschäftsjahr 2020/2021 weltweit um 30 % auf 6,1 Milliarden Euro gestiegen. Das sind 32 Prozent des Gesamtumsatzes. Selbst der Umsatzrückgang von 5,7 Prozent in Deutschland, sorgt mit verbliebenen 2,7 Milliarden Euro dafür, als wichtigster Markt zu zählen. Negativ betrachtet werden muss der Abbau von 217 Läden weltweit, von denen 16 in Deutschland im letzten Geschäftsjahr geschlossen wurden. Weitere sollen folgen. Das bedeutet Arbeitslosigkeit für rund 4.700 ehemalige Beschäftigte, die seit Ende 2017 von H&M in Deutschland entlassen wurden. Laut Verdi sind das 9,5 Prozent der früher 19.000 Menschen in der Belegschaft. Dennoch will die global verantwortliche H&M-Chefin Helena Helmersson den Umsatz bis 2030 verdoppeln. Dazu kündigte sie ein „Kosten- und Effizienzprogramm“ an, um „das Geschäft weiter zu rationalisieren.“ Sie will damit jährlich rund 182 Millionen Euro einsparen. „Die Einsparungen aus dem Programm werden voraussichtlich in der zweiten Hälfte des Jahres 2023 sichtbar werden“, so Helmersson. Ob und wie diese Vorhaben auf die Entwicklung in Deutschland Einfluss haben, ist noch ungewiss. Daher ist auch angesichts dieser Aussagen für die globale Entwicklung von H&M der nun erfolgte Tarifabschluss mit den Vereinbarungen zur Sicherheit der Beschäftigung ein Erfolg. Auch bei IKEA wird mit der Forderung „Tarifvertrag. Zukunft. IKEA“ gekämpft, damit die digitale Transformation im Sinne der Beschäftigten erfolgt. Es geht darum, mit Qualifizierung die Beschäftigten für die neu gestaltete Arbeit fit zu machen, es geht um Arbeitsplatzsicherung, Abgruppierungsschutz, um gesunde Arbeit und mehr. Mit vielen Aktionen und Streiks werden die Verhandlungen der Bundestarifkommission unterstützt, den ver.di-Kolleg*innen der Rücken gestärkt. Das ist bitter nötig, denn bei IKEA mauert die Unternehmensleitung, kam zwar zu einem Sondierungsgespräch, hat sich aber nachfolgenden Verhandlungen nicht gestellt. Die auf Bundesebene zuständige ver.di-Verhandlungsführerin Maren Ulbrich stellt fest: „Modernisierungsversuche, die von Managern am grünen Tisch zusammengebastelt werden, sind zum Scheitern verurteilt. Die Kolleginnen und Kollegen in den Filialen wissen am besten, wo der Schuh drückt, was die Kundinnen und Kunden brauchen und welche Probleme abgestellt werden müssen. Ohne sie lässt sich das Unternehmen nicht zukunftsfest aufstellen.“ Der Kampf geht weiter für: Tarifvertrag. Zukunft. IKEA. Zurückgeführt werden können die Kämpfe zur Digitalisierung der Arbeit auf die Entwicklungen der letzten Jahre und den um 2015 dazu geführten Diskussionen. Im Oktober 2015 hatte die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di in einer Stellungnahme das vom damaligen Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebene „Grünbuch – Arbeiten 4.0“ kritisiert: „Da das Grünbuch stellenweise den Anschein erweckt als sei Arbeiten 4.0 von der Industrie abgeleitet, ist der Hinweis notwendig, dass die gesamte Wirtschaft in den Blick genommen werden muss. Denn Dienstleistungen tragen heute in Deutschland zu mehr als 70 % der Wertschöpfung und der Beschäftigung bei.“ (ver.di 19.10.2015) Der auf dem ver.di Bundeskongress 2015 beschlossene Antrag „Gute Arbeit und Gute Dienstleistungen in der digitalen Welt“ nahm die Digitalisierung stärker in den Blick. Die Gewerkschaften und ihnen nahestehende Institute wie die Hans-Böckler-Stiftung befassten sich mit der Veränderung der Arbeit durch Digitalisierung. Anfang 2017 hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung ihre Analysen im Heft 33 mit dem Titel „Digitalisierung, Klassenkampf, Revolution“ herausgegeben. Der Autor, Stephan Kaufmann, schreibt: „Als Instrument für die Gewinnrendite und Hebel zur Steigerung der Macht über die gesellschaftliche Arbeit entfaltet die Digitalisierung jede Menge Bedrohungspotenzial. Das verweist gleichzeitig auf die Möglichkeiten dieser Technik außerhalb des kapitalistischen Korsetts. Das ist Stoff für große Träume.“
Auch das isw stellte 2016 sein 24. isw-forum unter das Motto „Digitale Arbeit und Industrie 4.0“. Über die Auswirkungen der Digitalisierung referierte hier Thomas Hagenhofer und machte mit einem Zitat des Vorstandsvorsitzenden der Heidelberger Druckmaschinen AG, Georg Linzbach deutlich, worum es den Unternehmen bei der Digitalisierung geht: „Deutschland ist das einzige Land, in dem Drucker ein Ausbildungsberuf ist. Eine Druckmaschine muss künftig aber auch von jemandem bedient werden können, der Metzger gelernt hat oder Taxi fahren kann.“ Und Hagenhofer schloss daraus, dass es nicht um eine schöne neue Arbeitswelt geht, sondern „um Profitmaximierung durch Kosteneinsparung mittels Innovation, aber auch durch den Einsatz von geringer Qualifizierten.“ Diese Veränderungen der Arbeitsbedingungen stellen neue Anforderungen an die Mitbestimmung der Betriebsräte, zu Arbeitsabläufen, den Gesundheitsschutz, der Qualifizierung der Beschäftigten und der Arbeitsplatzsicherheit. Für den Handel wird oft auf die Entwicklung des Online-Handels hingewiesen. Wer hier von digitalisierter Arbeit spricht, meint, das neue Kaufen und Verkaufen auf das Internet reduzieren zu können. Dabei wird wie in den großen Unternehmen wie Amazon, zalando usw. auch in den Lagern des Groß- und Einzelhandels jede Möglichkeit der technischen und digitalen Unterstützung genutzt zur weiteren und schnelleren Steigerung der Verkaufszahlen, der Umsätze und des Profits. Und auch die Läden werden davon nicht ausgenommen. Doch Handelsunternehmen gehen zur Profitmaximierung viele Wege. Dazu gehört der globale Handel und auch Produktion der Ware weltweit, der Online-Handel und weiterhin der sogenannte stationäre Handel vor Ort. In der ver.di-Studie „Digitalisierung und Arbeitsqualität“ aus dem Jahr 2017 werden für die einzelnen Dienstleistungsbereiche Stellungnahmen zu den digitalen Entwicklungen veröffentlicht. Der damalige Vorsitzende von ver.di, Frank Bsirske, stellt der Studie voran: „Wenn 47 Prozent der Beschäftigten im Dienstleistungssektor, die in hohem oder sehr hohem Maße mit digitalen Mitteln arbeiten, dezidiert sagen, die Digitalisierung habe bei ihnen insgesamt zu einer Steigerung der Arbeitsbelastung geführt, und nur 8 Prozent eine Verringerung erleben, dann läuft die Digitalisierung schief.“ Und er fragt: „Was ist geeignet, Abhilfe zu schaffen?“ Antworten finden sich, immer noch, in der Studie. Eine davon ist, dass Betriebsräte noch stärker die Mitbestimmung ausschöpfen müssen. Eine andere, dass Gewerkschaften die Möglichkeiten zum Abschluss von Tarifverträgen nutzen und einen Kampf darum führen müssen, auf die Digitalisierung im Interesse der Beschäftigten Einfluss zu nehmen. Wie sich das Arbeiten im Einzelhandel verändert hat, wurde in dieser Studie beschrieben. Stefanie Nutzenberger, Mitglied ver.di-Bundesvorstand und Bundesfachbereichsleiterin Handel, stellte damals fest: „...der Umsatz des Online-Handels [hat] sich verdreifacht, während er im stationären Bereich nur leicht gestiegen ist. (…) Doch auch für diesen Sektor gilt: Ob durch Selfscanning-Kassen im Lebensmittelmarkt, Scanner bei der Warenverräumung oder (Teil)Automatisierung im Lager oder e-mails in der Verwaltung – immer mehr bestimmt computergestützte Technologie den Alltag.“ Das war 2017. Der für den Textileinzelhandel zuständige Gewerkschaftssekretär im Bundesfachbereich, Cosimo-Damiano Quinto, erklärte in „Workforce Management - Abschied von der traditionellen Arbeitswelt im Handel“ bei H&M:
Jede/r Mitarbeiter/in wird einen Transponder erhalten, durch den der Zeitpunkt des Kommens und Gehens am Terminal registriert wird. Die Software ermöglicht zudem die Abbildung gesetzlicher, tariflicher und betrieblicher Vorgaben (wie Arbeits-, Zuschlags- und Pausenregeln), die Bewertung von Abwesenheiten sowie die Überwachung von maximal erlaubten Monats- und Überstunden.
Weiter führte er aus:
Dann kann das Employee Self Service Arbeitseinsätze, am aktuellen Umsatz angepasst, einteilen. Dies würde schlimmstenfalls dazu führen, dass Belegschaften – insbesondere ohne Betriebsrat – noch flexibler arbeiten müssen. Es ist Aufgabe der Gewerkschaften, solchen Szenarien entgegenzuwirken und solch einer Arbeit auf Abruf eine klare Absage zu erteilen.
Alles, was in den Jahren danach entwickelt wurde, die Kämpfe in den Betrieben, Unternehmen und Konzernen zur Beteiligung von Betriebsräten und Gewerkschaften bei der Umstellung auf eine digitalisierte Arbeitswelt, hat weniger öffentlich stattgefunden. Die negativen Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeit zu sehen und bei Tarifkämpfen Forderungen im Interesse der Beschäftigten zu stellen, wird inzwischen schon fast vorausgesetzt. Dennoch lassen digitale Arbeitsbedingungen in allen Bereichen immer noch viele Forderungen offen. Die Fragen der Qualifizierung, der Gesundheit, der Arbeitszeiten und auch der Einfluss auf soziale Beziehungen durch die Arbeit sind nicht umfänglich geklärt. Wie weit die Digitalisierung auch außerhalb der Industrie Einzug gehalten hat, kann in den zurückliegenden Jahren in fast allen Dienstleistungssektoren nachgezeichnet werden. Insbesondere in der Corona-Pandemie und den damit durchgesetzten Arbeiten im Home-Office stellen weitere und neue Forderungen, um die gekämpft werden muss. Das hier Beschriebene mag nun der Eine oder die Andere „Schnee von gestern“ nennen. Fünf Jahre nach den Studien und zwei Jahre Arbeiten unter Corona-Pandemie-Bedingungen ist auch die Digitalisierung weiter. Doch was wären die Studien, Konferenzen, Beschlüsse der letzten Jahre, wenn sie nicht ergebnisorientiert weiterverfolgt würden? Der jetzt erfolgreich abgeschlossene erste Digitalisierungstarifvertrag im Handel zeigt, dass die Debatte um die Digitalisierung der Arbeitswelt und die daraus entstehenden Arbeitsbedingungen, sowie die Kämpfe um Einflussnahme auf die Entwicklung weitergehen wird. Weitere Unternehmen, auch im Handel wie IKEA und andere, werden sich auf Dauer dem Druck der Beschäftigten nicht entziehen können. Der italienische Philosoph Niccolò Machiavelli hat in seinem großen Werk "Il Principe" ("Der Fürst") geschrieben: „… eine Veränderung gibt immer Anlass zu weiteren.“