Moritz Schularick neuer Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW) 

Es war eine lange Geburt, bis das IfW [1] einen neuen Chef präsentieren konnte. Die Wahl fiel auf Moritz Schularick, bisher Professor für Makroökonomie an der Universität Bonn; er wird ab Juni neuer Präsident des IfW. "Damit wird nach viel Gewürge ein internationaler Star verpflichtet. Er soll dem Haus wieder Glanz verleihen.“ (Süddeutsche Zeitung 2.3.2023). Nach den Worten der Präsidentin der Kieler Universität qualifiziert sich Moritz Schularick aufgrund „wegweisender Arbeiten zu den Ursachen und Konsequenzen von internationalen Finanzkrisen.“ Darüber hinaus habe er sich aber auch „mit ökonomischer Ungleichheit und Populismus sowie Fragen der monetären Makroökonomie und den amerikanisch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen beschäftigt.“[2]

Die Intention: „Die Marke IfW“ aufwerten und ein zweites Standbein in Berlin etablieren

Schon Schularicks Vor-Vorgänger Dennis Snower wollte die „Marke IfW“ aufgewertet wissen. War es bei Snower das jährliche „Global Economic Symposium“ (eine Art „Mini-Davos“), so plant Schularick eine Dependance in Berlin als ein „Think Tank“, das mit eigenen Forscher:innen im Regierungszentrum vor allem „Beratungstätigkeit“ leisten soll. „Denn Politikberatung ist einfach besser möglich, wenn man dicht dran ist (…) mit kurzen Wegen in die Ministerien und ins Kanzleramt. Gleichzeitig wird uns Berlin auch helfen, das IfW international noch sichtbarer und noch attraktiver für internationale Gäste zu machen.“ (Kieler Nachrichten 9.3.2023) „In Deutschland muss man niemanden erklären, was das IfW ist. Aber wer im Ausland zum Telefonhörer greift und einen Ansprechpartner zu Fragen zur Zukunft der Globalisierung und der Weltwirtschaftsordnung sucht, der weiß nicht direkt, wen er da anrufen muss.“ (FAZ 3.3.2023). Das soll sich zukünftig ändern. Klingt ein bisschen so, als erwarte Moritz Schularick, dass sich irgendwann die EU-Kommissionspräsidentin oder der US-Präsident bei ihm melden und eine Expertise einfordern.

Überhaupt setzt Moritz Schularick viel auf die Karte „Beratungstätigkeit“. Dieser Begriff spielt auch in seinem 2021 erschienen Buch "Der entzauberte Staat",[3] eine große Rolle. Darin hält er „dem Staat“ während der Corona-Pandemie große Versäumnisse vor. Dabei macht er die Mangelhaftigkeit staatlichen Handelns an mehreren Phänomenen fest: der zunächst ungenügenden Beschaffung von Impfstoff, der verzettelten Strategielosigkeit bei der Schließung und Öffnung von Institutionen, der fehlenden Erhebung von pandemie-relevanten Daten oder der Unfähigkeit, Schulen technisch auszustatten. Schularick zufolge fehlt es an einer konsequenten Organisation des Übergangs zwischen wissenschaftlicher Beratung und politischer Entscheidung.

Die „zentrale“ Frage des IfW: Das Verhältnis zu China

Neben wirtschaftspolitischer Beratungstätigkeit möchte Moritz Schularick ersten Äußerungen zufolge „zentrale“ Beiträge für die Diskussion um die Zukunft der Weltwirtschaft liefern. Dabei hebt er vor allem als „zentrale Frage“ das Verhältnis zu China hervor: „Im Falle von China wird es darum gehen, die Handelsbeziehungen so zu steuern, dass wir außen- und sicherheitspolitisch handlungsfähig bleiben. Da müssen wir Ökonomen mit Sicherheitspolitikern und Militärexperten zusammenarbeiten.“ Auf die Frage: Müssen wir wie andere Staaten darüber nachdenken, unsere Exportmacht auch als Waffe einzusetzen, um anderswo Schaden anzurichten? lautet seine Antwort; „Ja. Deutschland muss auch über seinen eigenen außenwirtschaftlichen Giftschrank nachdenken.“ (FAZ 3.3.2023).

Gemeinsam mit dem britischen Historiker Niall Ferguson prägte er den Begriff Chimerika, was die langjährige Symbiose der Supermächte China und Amerika beschrieb, aus der aber inzwischen eine ausgeprägte Rivalität geworden ist. Es darf also angenommen werden, dass das IfW zukünftig viel über Fragen strategischer wirtschaftlicher Beziehungen mit China forschen und publizieren wird – und es wird interessant sein, wie die Akzente gesetzt werden: Im Sinne der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, die in China in erster Linie einen strategischen Rivalen sieht, der die globale Ordnung bedroht und mit dem man nur noch selektiv zusammenarbeiten kann, oder aber in Richtung Ausbau und Vertiefung der multilateralen Handelsbeziehungen einschließlich Chinas.

Und in Kiel wird gerade eine ideologisch aufgeheizte „China-Diskussion“ geführt. Schleswig-Holsteins Landeshauptstadt plant, die China-Metropole Qingdao (9 Mio. Einwohner) zur Partnerstadt zu machen. Ein Prüfauftrag wurde in der Ratsversammlung bereits erteilt. BILD titelte daraufhin (18.4.2023): „Städtepartnerschaft mit der Stadt der U-Boot-Jäger. Angst vor China-Spionen in der Kieler Förde“ Und weiter: Bei „ThyssenKrupp Marine Systems“ (TKMS), der führenden U-Boot-Werft in Europa, ist man bestürzt. Tenor: große Bedenken. Denn: Auch Schiffe für Export-Kunden, oft ausländische Staaten, werden damit auf dem Präsentierteller gestellt. Und das „Institut für Sicherheitspolitik“ an der Uni Kiel sekundiert: „Hinter dem Interesse der chinesischen Gouverneure verbirgt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit die Absicht, Zugang zu wesentlichen Informationen und Technologien zu erhalten, die für die Stärkung des chinesischen Militärs auf See entscheidend sind.“

IfW: Bestandteil der Nazi-Kriegsführung einerseits – aber auch Geburtshelfer des Frankfurter Instituts für Sozialforschung

Moritz Schularick übernimmt mit dem „Kiel Institut für Weltwirtschaft“ einen großen Wissenschaftsbetrieb. Rund 170 Beschäftigte, darunter 100 Wissenschaftler:innen arbeiten am IfW.

Und es focht in seiner über 100jährigen Geschichte oftmals in exponierter politischer Stellung – im guten wie im schlechten Sinne.

So stellte deren Präsident Andreas Predöhl das IfW ab 1933 vollständig in den Dienst des Nazi-Regimes. Unter seiner Leitung folgte das IfW einem völkischen Wissenschaftsbegriff, „der Volkswirtschaft als Dienst am ‚Volkskörper‘“ begriff. Das IfW übernahm ab 1942/43 die führende Rolle in allen Auslandsfragen der Wirtschaftswissenschaften und erhielt das Monopol auf alle kriegswichtigen Forschungsarbeiten für das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt. Die Erstellung der Gutachten folgte sowohl kurzfristig aufgrund von aktuellen faschistischen Expansionsplänen als auch längerfristigen Plänen für eine „Großraumwirtschaft“, in der vor allem die Ukraine eine zentrale Rolle spielte. Auf Grundlage seiner Länderanalysen zu Rohstoffvorkommen oder Versorgungswegen hätten die Nazis ihre Angriffskriege geplant. Zu diesem Ergebnis kommt eine wissenschaftliche Untersuchung, die das IfW Anfang 2020 präsentierte.[4]

Die „guten“ Seiten des IfW

Von dem Sozialdemokraten Bernhard Harms 1914 als Königliches Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft gegründet, befasste es sich in einem sehr weit verstandenen Sinne faktenbasiert mit wirtschaftlichen und sozialen Fragen der Weltwirtschaft (heute würde man sagen, mit der Globalisierung).[5]

In den Umbruchzeiten (1918  bis Mitte der 20er Jahre) hatte sich am Institut ein „Think Tank“ von jungen Wissenschaftlern zusammengefunden, die nach neuen wirtschaftspolitischen und gesellschaftlichen Konzepten forschten und politisch mit den Bestrebungen der Arbeiterklasse sympathisierten und zum großen Teil auch aktiv politisch wirkten. Damit war das Kieler Institut für einige Jahre Impulsgeber für linke wirtschafts- und gesellschaftspolitische Konzepte.
Zu den dort Forschenden gehörten seinerzeit u.a. Kurt Albert Gerlach und Richard Sorge. Beide sollten Teil des Gründungsprozesses der Frankfurter Instituts für Sozialforschung sein, dessen 100jähriges Bestehen in diesem Jahr gefeiert wird. Insofern kann man durchaus sagen, dass das IfW ein Geburtshelfer dieses Instituts ist.

Die Grundidee für die Institutsgründung geht auf Gerlach zurück. Bereits am IfW hatten er und der Soziologe Ferdinand Tönnies im Rahmen ihrer Veranstaltungen sozialwissenschaftliche Fragen in den Mittelpunkt gerückt. Die in diesem Umfeld entstandenen Forschungsarbeiten untersuchten Aspekte der Arbeiterbewegung, der Wirtschaftspolitik und Fragen der Politischen Theorie. Diesen Ansatz wollte Kurt Albert Gerlach am neu zu gründenden Institut In Frankfurt fortführen. Der ursprüngliche Name sollte eigentlich „Institut für Marxismus“ lauten – wurde aber als zu provokant verworfen, stattdessen wurde die Bezeichnung „Institut für Sozialforschung“ gewählt. Gerlach, der ursprünglich als Gründungsdirektor vorgesehen war, verstarb kurz bevor er sein Amt antreten konnte. Während der Novemberrevolution war Kurt Albert Gerlach Mitglied der SPD geworden, kurze Zeit später wechselte er zur USPD, um sich schließlich dem Anarchosyndikalismus anzuschließen.

Neben Kurt Albert Gerlach sollte Richard Sorge eine zentrale Rolle am Frankfurter Institut einnehmen. Dessen Großonkel Friedrich Adolf Sorge war einer der Weggefährten von Karl Marx und Friedrich Engels und Mitbegründer der Ersten Internationale. Richard Sorge studierte Nationalökonomie und Philosophie in Berlin und dann in Kiel, wo er Gerlach kennenlernte und dessen Assistent wurde. Ende 1919 wechselten Gerlach und Sorge, der nach der Novemberrevolution Mitglied der KPD geworden war, an die TH Aachen und von dort aus nach Frankfurt. Dort organisierte Richard Sorge die „Marxistische Arbeitswoche“, das erste Theorieseminar des Instituts für Sozialforschung. Viele spätere Mitarbeiter und Wegbegleiter des Instituts nahmen daran teil, darunter u.a. Karl Korsch und Georg Lukacz. Richard Sorge wurde dann 1924 einer der beiden Haupassistenten des Instituts.

Exkurs: Das Institut für Sozialforschung

Erster Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung wurde der Austromarxist Carl Grünberg, 1931 übernahm Max Horkheimer die Direktion. Unter ihm wurde am Institut eine Theorievariante dominant, die angeblich eine Fortsetzung der MArxschen Intentionen unter historisch  gewandelten Bedingungen darstellen sollte, womit im Grunde damit die „Kritische Theorie“ den Marxismus ausgeflaggte.
Der marxistische Philosoph Georg Lukacs wählte dafür das Bild des "Grand Hotel Abgrund" - als eine luxuriös eingerichtete Position in den bürgerlichen Verhältnissen, die gemmöß seiner Auffassung in die Katastrohe führt.
Nach der Machtübertragung an den Faschismus wurde das Institut geschlossen und die Mitarbeiter ins Exil getrieben. Nach 1945 kamen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno aus dem US-amerikanischen Exil zurück und setzten gemeinsam, und vor allem mit Jürgen Habermas, ihre „Kritische Theorie“ am Institut fort.                                                                                          

Seit 2021 ist der Soziologe Stephan Lessenich Direktor des Instituts für Sozialforschung, der an seinen vorherigen Stationen in München und Jena bereits für frischen Wind gesorgt hatte und nun auch am „ehrwürdigen“ Frankfurter Institut das gleiche vorhat. "Wenn es heute wirklich um das Ganze geht“, so Stephan Lessenich in einem Interview, „also um die Zukunft der Menschheit, so muss erklärt werden, wie es mit dem Kapitalismus weitergeht. Das war jedenfalls einmal das Gütekriterium jener materialistischen Theorietradition, der sich die Frankfurter Schule verpflichtet fühlte. Der erste Impuls jener Kritischen Theorie, die sich aus gescheiterter Revolution und der Sackgasse der Theorie des Marxismus erhob, war die Selbstkritik des Denkens“[6]

... zurück zum IfW

Eine derartige Besinnung auf ursprüngliche kritische wirtschaftspolitische Forschungstätigkeit darf man von Moritz Schularick, dem neuen Präsidenten des Kieler IfW, nicht erwarten. Obwohl vor 60 Jahren der damalige IfW-Präsident Fritz Baade einen bemerkenswerten Versuch unternommen hatte, aus altbekannten Wegen auszubrechen. Im März 1961, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges und des Wettrüstens zwischen NATO und UdSSR, bringt Fritz Baade die renommiertesten Wirtschaftsforscher der Welt in Kiel an einen Tisch, um über Abrüstungsmöglichkeiten zu diskutieren.
Unter den Teilnehmern waren u.a. Wassily Leontief (Harvard), Ariel Rubinstein (Moskau), Gregory Jackson (Oxford), Gunnar Myrdal (Schweden) und Jürgen Kuczynski (DDR). 
Die Forscher gelangten während ihres Meinungsaustausches in Kiel zu dem Ergebnis, dass Abrüstung erheblichen Nutzen für alle Länder der Welt hätte, nicht zu Massenarbeitslosigkeit führe und Mittel frei für Kultur, Sozialausgaben und für das Gesundheitswesen mache.

 

[1] IfW:  Institut für Weltwirtschaft, Kiel

[2]  IfW-Presseerklärung 2.3.23

[3]  Moritz Schularick: "Der entzauberte Staat". Was Deutschland aus der Pandemie lernen muss. München 2021

[4] Gunnar Take, Forschen für den Wirtschaftskrieg. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft im Nationalsozialismus, Berlin 2019.

[5] In seinen Vorarbeiten zu „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ hat Lenin ausführlich aus Harms’ Forschungen konspektiert. Siehe Lenin Werke Bd. 39 (Hefte zum Imperialismus).

[6]  Interview 27.1.23