Die Solidarität der Linken gehört den Juden und den Palästinensern

 In den Gräueltaten der Hamas habe sich die tödliche Fratze des Antisemitismus gezeigt. Nun müsse Israel die volle Rückendeckung für jede Art von Gegenschlag zukommen, auch wenn das fatalerweise das Leben zehntausender palästinensischer Zivilisten koste. Dass die Linken sich hinausreden wollten auf die politisch-historischen Faktoren von Völkerhass und Mordbrennerei im Nahen Osten und die fundamentale Mitverantwortung des Westens, zeige nur die moralische Verworfenheit dieser Linken. So trommelt es in den Medien in Begleitung der Hamas-Überfälle und der israelischen Großoffensive gegen Gaza.

Doch ohne eine Analyse der historischen Prozesse hin zur Staatsgründung Israels und der bis heute dauernden Verhinderung der Rechte der Palästinenser auf eine eigenständige demokratische Entwicklung sind weder die Schuldfrage zu klären noch die Möglichkeiten zu einer friedlichen, humanitären Lösung.

Sem, Ham und Jafet – Noahs Söhne die Urväter der Völker der Erde?

Dass es bei Semitismus um Völkerkonflikt geht, entspringt der jüdischen Schöpfungsgeschichte. Danach entstanden die Völker im Anschluss an die Sintflut-Katastrophe als biologische Abstammungen der Söhne Noahs: Sem in der asiatischen Region, Ham in der afrikanischen und Jafet nördlich des Desasters, in Kleinasien, Europa. Juden und Araber sind mithin gleichermaßen Semiten. Die Thora hat die Juden ins Zentrum der damaligen Welt gesetzt, anderthalb tausend Jahre vor Christi Geburt keine Überraschung, ebenso wenig wie dies die Identifizierung der biologischen Einheit mit ihrem religiös-kulturellen Gehalt sein kann. Jude ist man erstens wegen seiner biologischen Abstammung, und zweitens wegen seines Glaubens. Dies ist eine ethnische, eine rassistische Festschreibung, da der eigene Gott über aller Kreatur steht und ein religiöses Monopol besitzt: „Du darfst keine fremden Götter neben mir haben.“ Ob Philo-, Anti- oder bloß Semitisch – jedes dieser Etikette ist rassistisch. Die Ethnologie hat die primitiven Urformen der Völkerlehre der Thora längst hinter sich gelassen, doch wirken die Folgen rassistischer Dünkel und Prärogativen so schlimm wie eh. In der Shoah haben sie sich in der unmenschlichsten Weise materialisiert und deutsche Medienpropaganda versucht beharrlich, aber vergebens, die Hamas-Überfälle in den Rang dieses deutschen Jahrtausendverbrechens der industriellen Vernichtung der ethnischen Minderheit der Juden zu heben.       

Die Mutter des Antisemitismus: Das christliche Abendland – Juden vertreiben, ghetoisieren, vernichten

Dass die abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum, Islam alle auf denselben religiösen Ahnherrn Abraham zurückgehen, hat sie nicht etwa einander nähergebracht, sondern im Gegenteil in oft tödliche Konkurrenz zueinander. Das Lebensrecht der einen implizierte die Leugnung des Existenzrechts der anderen. Die Juden warten bis heute auf den „Messias“, den Erlöser von aller menschlichen, religiösen und gesellschaftlichen Pein, während die „Christen“ (`Christus` ist das griechische Wort für das hebräische `Messias`) in Jesus von Nazareth den Erlöser bereits gekommen sehen, den die jüdische Elite im Zusammenspiel mit der Kolonialmacht Rom ermordete. Für die Christen sind die Juden die Mörder des Gottessohns, für den Islam ist Jesus ein Prophet unter anderen, kein Teil Gottes.

Während für die Juden die Religion vererbt wird, machten sich die Christen von    Anfang an ans Missionieren und Konvertieren, besonders intensiv nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem 70 n.Chr., der zur Zerstreuung der Juden in alle Welt führte. Im 4. Jahrhundert n.Chr. hatten es die Christen im Römischen Reich zur religiösen Mehrheit und kulturellen Hegemonie gebracht. In Rom und bei den Päpsten galt der Grundsatz des heiligen Augustinus, wonach die Juden als historische Zeugen der Geschichte Jesu nicht vernichtet werden dürfen, aber als Ungläubige und schuldiges Volk bestraft werden müssen. In Ost-Rom, Byzanz, wurden sie offen verfolgt – entweder sie konvertierten oder wurden massakriert. Mit den im 11. Jahrhundert beginnenden Kreuzzügen stellte sich der christliche Westen nicht nur gegen den aufstrebenden Islam, es ging von Anfang an auch um die Beseitigung der „Ungläubigen“ im „Heiligen Land“ und auf dem Weg dorthin. In seinem Aufruf zum Kreuzzug hatte sich Papst Urban II. mit diesen Worten an „das Volk der Franken“ gewandt: „Ihr Volk nördlich der Alpen, ihr seid, wie eure vielen Taten erhellen, Gottes geliebtes und auserwähltes Volk, herausgehoben aus allen Völkern durch die Lage des Landes, die Katholizität des Glaubens und die Hochschätzung für die heilige Kirche…Aus dem Land Jerusalem und der Stadt Konstantinopel kam schlimme Nachricht..: Das Volk im Perserreich, ein fremdes Volk, ein ganz gottfernes Volk, eine Brut von ziellosem Gemüt und ohne Vertrauen auf Gott, hat die Länder der dortigen Christen besetzt, durch Mord, Raub und Brand entvölkert und die Gefangenen teils in sein Land abgeführt, teils elend umgebracht.“ (Papst Urban II. – Aufruf zum Kreuzzug. www.geschichte-abitur.de/quellenmaterial/islam-und-christentum)

Dem christlichen Papst ging es keineswegs nur um Glaubensfragen. Die Kreuzzüge waren vom ersten Tag an ein Instrument der Kolonisierung des Orients zugunsten der großen Länder „unserer Werteordnung“.  „Denn dieses Land“, spricht Urban II. zu den Franken, „in dem ihr wohnt, ist allenthalben von Meeren und Gebirgszügen umschlossen und von euch beängstigend dicht bevölkert…Tretet den Weg zum Heiligen Grab an, nehmet das Land dort dem gottlosen Volk, macht es euch untertan…Die Bibel sagt, dass dort Milch und Honig fließen. Jerusalem ist der Mittelpunkt der Erde, das fruchtbarste aller Länder, als wäre es ein zweites Paradies der Wonne.“  Die Christen setzten sich anstelle der Juden auf den Platz von Gott auserwähltem Volk.

Neben dieser Verbreitung des Christentums ferro ignique, mit Feuer und Schwert, nahm die Hetze und Diskriminierung in den christlichen Ländern gegen die Juden ständig zu. Auf der venezianischen Insel Ghetto wurden die Juden ins „Gheto“ gesperrt, Vorbild für hunderte ähnliche Unternehmen in fast allen christlichen Ländern. 1449 erließ Spanien das Gesetz der „Reinheit des Blutes“, das die Juden als „im Blut“ anders- und bösartig ansah, die Konversion zum Christentum verbot und die Juden aus Spanien vertrieb. Ähnliche, aber weniger umfassende Vertreibungen waren zuvor in England und Frankreich geschehen. In Deutschland rief Martin Luther zur Zerstörung alles Jüdischen auf. Für Luther sind die Juden das „Volk der Lügner“. „Ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes, durchteufeltes Ding ist´s um diese Juden, so diese 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück … sind.“ (Martin Luther, Von den Juden und ihren Lügen (1543) Weimarer Ausgabe 53, S. 412-552) Sein Stoßseufzer „wenn ich könnte, würde ich sie … in meinem Zorn mit dem Schwert durchbohren“, sprach vielen seiner christlichen Brüder und Schwestern aus dem Herzen, denn sie waren bei Juden verschuldet, deren Gewerbe auf den Handel, vor allem auf den Geldhandel beschränkt war. Juden durften weder als Bauern noch als Handwerker ihr Dasein fristen. Jeder Judenmord konnte daher auch einen Schuldenerlass für die Mörder bedeuten.

Das Fixieren der Juden auf Handels- und Finanzberufe führten in der beginnenden kapitalistischen Industrialisierung zu einer enormen Aufwertung einzelner großer jüdischer Geldhäuser. Der Nazi-Propagandist Hitler schreibt 1924 in „Mein Kampf“, dass in dieser Phase „die jüdische Einflussnahme auf wirtschaftliche Belange über die Börse nun unheimlich schnell“ anwachse (Adolf Hitler, Mein Kampf, S. 345. https://archive.org/details/Mein.Kampf2/mode/2up). Es ist nicht das Kapital verantwortlich für die Misere der Arbeiterklasse, sondern die Juden seien verantwortlich, die „immer nur Parasit im Körper anderer Völker“ gewesen seien. So wie sie früher „das Bürgertum als Sturmbock gegen die feudale Welt“ benutzt hätten, benutzten sie „nun den Arbeiter gegen die bürgerliche“. Der Marxismus „schreit dabei immer gegen das internationale Kapital und meint in Wahrheit die nationale Wirtschaft. Diese soll demoliert werden, damit auf ihrem Leichenfeld die internationale Börse triumphieren kann.“ (A.a.O., 350) Für die deutschen Nazis missbrauchten und missbrauchen die Juden mit dem von ihnen erfundenen Marxismus „das in jedem arischen Menschen irgendwie schlummernde Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit“, wobei sie „in unendlich kluger Weise zum Hass gegen die vom Glück besser Bedachten“ aufwiegeln und „dabei dem Kampfe um die Beseitigung sozialer Schäden ein ganzbestimmtes weltanschauungsgemäßes Gepräge“ geben. Dem Faschismus geht es nicht um die Überwindung des Kapitalismus, sondern um die Emanzipation des nationalen vom internationalen, angeblich jüdisch dominierten Kapital. Der Antisemitismus erweist sich als überaus nützlich als Legitimation der Höherschätzung der eigenen Volksgruppe und der Interessenvertretung der nationalen Kapitale.

Ethnos als Nation in Europa und USA – die völkische Stigmatisierung ethnischer Minderheiten bis hin zum Genozid der Nazis

Zeitgleich mit der Industrialisierung entwickelten sich in Europa und den USA die Nationalstaaten. Ihre Gründungen formierten sich nach den Prinzipien von Ethnos und Demos. Beim ethnischen Prinzip stand die anthropologische Gemeinsamkeit der Volksgruppe im Vordergrund, beim Demos der politisch-kulturelle Inhalt, auf den sich die Gruppe verständigt. In der deutschen Nationalhymne wird die anthropologische Gemeinsamkeit aller Deutschen „von der Maas bis an die Memel – von der Etsch bis an den Belt“ beschworen, dass dieses Deutschland „über alles in der Welt“ gehe, und als deutsche Werte werden „deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang“ besungen. Nach dem Verständnis der Nazis ist der Staat „der lebendige Organismus zur Erhaltung und Vermehrung einer Rasse“, zu dessen Bildung die Juden als „Parasiten“ an fremden Völkern gar nicht fähig sind. Für Hitler geht es bei der zionistischen Forderung eines palästinensischen Staates nicht um die „völkische Selbstbesinnung des Juden“, sondern nur um eine neue Täuschung der „dummen Gojim“. „Sie denken gar nicht daran, in Palästina einen jüdischen Staat aufzubauen, um ihn etwa zu bewohnen, sondern sie wünschen nur eine mit eigenen Hoheitsrechten ausgestattete, dem Zugriff anderer Staaten entzogene Organisationszentrale ihrer internationalen Weltbegaunerei; einen Zufluchtsort überführter Lumpen und eine Hochschule werdender Gauner.“ (Hitler, a.a.O., S. 356)

Für die deutschen Nazis gab es weder Assimilation noch Vertreibung, weder eine Heimstatt Israel noch eine jüdische Nationalität im Rahmen eines anderen Staates, es lief für sie einzig und allein auf Vernichtung der Juden hinaus, was sie schließlich unter dem bezeichnenden Programm „Endlösung der Judenfrage“ in die Tat umzusetzen suchten. Der Antisemitismus in anderen Nationalstaaten wies nicht diese Eigenschaft eines staatlich organisierten Massenmords auf, verfolgte aber ebenfalls klare Diffamierungsregeln gegenüber Juden. In den USA setzten sich im dominanten Nordwesten die Regeln des Calvinismus durch, dessen Geist nach Max Weber auch den Kapitalismus prägte. (Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. 1904/1905, Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd. XX und XXI. Überarbeitete Fassung 1920.) Calvin vertrat die Ansicht, Gott habe in seiner Schöpfung von Anfang an zwei Gruppen von Gläubigen festgelegt, einmal die Erwählten, die es zur ewigen Seligkeit bringen würden, zum anderen die Verworfenen, die auf ewig verdammt blieben. (Vgl. Wilhelm H. Neuser, Prädestination. In: Herman J. Seidenhuis (HRsg.), Calvin-Handbuch. Tübingen 2008, S. 307-317) Zu den Juden folgte Calvin der Auffassung Luthers, bei ihnen handele es sich um ein „durchböstes“, „durchteufeltes“ Volk. Sie waren nicht einmal Gläubige, und da Gott es fügte, dass sich Erwählt- oder Verworfensein schon auf Erden erweisen, gehörten nach der Logik Calvins die erfolgreichen Kapitalisten zu den Erwählten, während sich im Leiden der Juden deren Prädestination als mehrfach Verworfene zeigte.

Ethnische Nationenbildung und puritanisch angetriebener Kapitalismus schufen Bedingungen, unter denen aggressiver Antisemitismus in faschistischen Genozid umzuschlagen drohte. Die Frage, ob und wie die Juden weiterleben könnten, wurde neu gestellt.       

Der Zionismus: Antwort der Juden auf christlichen Kolonialismus, religiösen Hass und völkischen Nationalismus

Die Geschichte des jüdischen Volkes ist eine der gewaltsamen Vertreibung aus dem angestammten Land und der Verfolgung in der Diaspora. Die Exilierung in großem Maßstab fand jeweils nach den Zerstörungen des Tempels auf dem Tempelberg in Jerusalem statt, dem Zion. Darauf bezieht sich der Begriff Zionismus, ein Ausdruck für die Tempelstadt und die mit ihrem Wiederaufbau verbundene Erlösung des Judentums.

Im 6. Jahrhundert v. Chr. kam es zur „Babylonischen Gefangenschaft“, ein Großteil der Judäer wurden ins Exil nach Babylon verschleppt. Nachdem die Perser Babylon eroberten, konnten die meisten Juden nach Israel zurückkehren. Die zweite große Exilierung führten die Römer durch, die 70 n. Chr. den zweiten Jerusalemer Tempel zerstörten und viele Judäer nach Rom verbrachten. Im nächsten Jahrhundert verboten die Römer den Juden grundsätzlich das Bleiberecht in Jerusalem, Judäa wurde in „Syria Palästina“ umbenannt. Die in Palästina verbliebenen jüdischen Gemeinden wurden von den christlichen Kreuzfahrern dann im 11. Jahrhundert fast vollständig vernichtet.

Für die in alle Welt zerstreuten Juden gab es drei theoretische Möglichkeiten, deren Realisierung allerdings nicht allein und nicht überwiegend in ihren Händen lag: erstens die Assimilierung in die „Wirtsgesellschaft“; zweitens die Bildung einer möglichst autonomen Volksgruppe im Rahmen der größeren Nation; drittens die Rückkehr nach Israel, die Bildung eines eigenen Staates. Bis ins 20. Jahrhundert lehnten die meisten europäischen Juden den Zionismus, die Auswanderung nach Palästina und den Aufbau einer zionistischen Nation ab. Den orthodoxen Juden galt die Vorstellung einer zionistischen Nation vor der Ankunft des Messias als Gotteslästerung. Die liberalen Juden sahen sich durch den Zionismus in ihrem Kampf für Assimilation und mehr religiöse Toleranz und demokratische Rechte beeinträchtigt. Ihnen trat Moses Hess entgegen, der in der jüdischen Wiederbesiedlung Palästinas die Vorbedingung für den demokratischen Fortschritt des jüdischen Volkes sah: „Bei den Juden weit mehr noch als bei den Nationen, die auf ihrem eigenen Boden unterdrückt sind, muss die nationale Selbständigkeit jedem politisch-sozialen Fortschritt vorausgehen.“  Hess` „Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätenfrage“ erschien 1862 und fand nach und nach große Zustimmung bei Anhängern eines sozialistischen Zionismus, geistiges Fundament der späteren KIbbuz-Bewegung und der israelitischen Arbeiterpartei. (Moses Hess, Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätenfrage. https://sammlungen.ub.uni-frsnkfurt.de/freimann/urn/urn:nbn:de:hebis:30.1-10-107637) 

Gründung des Staates Israel – die Palästinenser warten noch heute auf ihren Staat

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Gräuel des deutschen industriellen Massenmordes an sechs Millionen Juden bekannt wurden, wuchs die internationale Unterstützung für den Zionismus. Im November 1947 beschlossen die Vereinten Nationen die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Teil. Jerusalem, für beide Seiten ihre „heilige Stadt“, sollte unter UN-Verwaltung kommen. Die Briten kassierten ihr Versprechen an die Araber, für die Unterstützung gegen die deutschen Truppen nach dem Krieg ein autonomes Groß-Arabien zu gestalten. Stattdessen sollte ein Israel aufgebaut werden als Vorposten gegen vereinzelt gehaltene arabische Staaten. 1947 legte ein Beschluss der Vereinten Nationen die Zwei-Staaten-Lösung im Palästina-Gebiet fest, Israel für die Juden, Rest-Palästina für die Palästinenser. Die jüdischen Organisationen akzeptierten den Plan, die arabischen lehnten ihn ab. Im Mai 1948 verlas Ben Gurion die israelische Unabhängigkeitserklärung, nachdem die letzten britischen Kolonialtruppen das Land verlassen hatten. In derselben Nacht noch erklärten Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, Libanon, Irak und Syrien dem neuen Staat den Krieg. Der „Palästinakrieg“ führte zu einer 50prozentigen Erweiterung des israelischen Gebietes. Israel konnte die folgenden zahlreichen militärischen Auseinandersetzungen mit arabischen Gegnern siegreich oder mindestens ausgeglichen gestalten. Dieses Grundgefühl der Sicherheit im eigenen Staat wurde zerfetzt am 7. Oktober 2023, als Hamas-Kämpfer ohne großen Widerstand im Süden Israels einfallen und Terror und massenhaftes Morden an Juden entfalten konnten.

Der Hauptschuldige am Versagen der israelischen Sicherheitsorgane ist die rechtsextreme Netanjahu-Regierung. Am Ende des Sechstagekrieges 1967 hatte Israel den Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel, die Golanhöhen, das Westjordanland und Ost-Jerusalem besetzt. 1994 kam es zur teilweisen Unabhängigkeit Palästinas in den von Israel freigegebenen Gebieten: Westjordanland und Gaza mit Ostjerusalem als Hauptstadt. 2007 zerfiel dieses Konstrukt – die bei den letzten gemeinsamen Wahlen etwa gleich starken Kräfte Fatah und Hamas setzten sich in den verschiedenen Regionen durch, die Fatah im Westjordanland, die Hamas im Gazastreifen. Netanjahu-Israel ließ die Mittelsmänner aus Katar ungehindert in den Gazastreifen, die der Hamas die Geldmittel in die Hand gaben, die sie offenkundig weniger zur Versorgung der Bevölkerung nutzten als vielmehr zur eigenen militärischen Aufrüstung, Die eigenen Sicherheitskräfte konzentrierte Israel gegen die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland und gegen die Hisbollah an der Grenze zum Libanon. Die blutige Quittung kam am 7.10.2023.

Die Hamas tötete 1400 Israelis und verschleppte 240 Geiseln. Die von der Hamas beabsichtigte Antwort der Israelis war barbarisch. UNICEF meldet über 3400 tote palästinensische Kinder durch die israelischen Angriffe mit Bombern, Raketen und Panzern. Der Gazastreifen war im Süden, Norden und im Westen abgeriegelt, im Westen liegt das Mittelmeer und dort die israelische und die US-Marine. Den zwei Millionen Palästinensern in Gaza wurde Wasser, Energie und Nahrung abgeschnitten, die schmale Küstenregion wurde gerade in den zivilen Zentren intensiv bombardiert; als Begründung wurde angegeben, die Hamas lokalisiere ihre Hauptquartiere unter zivilen Einrichtungen, vor allem unter Krankenhäusern. Es muss sehr viele Hauptquartiere der Hamas geben. 7000 tote Zivilisten werden unter der Gaza-Bevölkerung bis Ende Anfang November 2023 gezählt, Zehntausende verwundet, Hunderttausende auf der Flucht.

Sechs Lehren aus dem aktuellen Nahost-Konflikt

  1. Der mörderische Überfall der Hamas auf Israel ist durch nichts zu rechtfertigen. Er ist, das strategische Kräfteverhältnis betreffend, sinnlos. Er sollte die falsche Sicherheitspolitik Israels demonstrieren und unmäßige Gegenschläge provozieren, um so die Weltmeinung gegen Israel zu stimmen. Die Vorstellung, mit Terrormaßnahmen ein unabhängiges Palästina zu erreichen, ist absurd. Es braucht den Druck der Vereinten Nationen, aller fortschrittlichen politischen Kräfte, um endlich die fast 80 Jahre alte UN-Resolution zu realisieren, dass auch die Palästinenser ihren eigenen Staat erhalten. Die von der Fatah dominierte Palästinensische Autonomiebehörde akzeptiert die Koexistenz mit Israel und strebt einen säkularen Staat an, während die Hamas das Existenzrecht Israels leugnet und einen islamischen Gottesstaat gründen will. Umso irrwitziger ist das Verhalten der israelischen Regierung, im Westjordanland, das der Palästinensischen Autonomiebehörde zugesprochen ist, bisher über 700.000 israelische Siedler unterzubringen, die sich dort auf dem Eigentum von Palästinensern niederließen. Aktuelle Umfragen ergeben, dass die Mehrheit der Palästinenser heute die Hamas der Fatah vorziehen, obwohl das Durchschnittseinkommen im Fatah-regierten Westjordanland fast viermal so hoch ist wie im Hamas-regierten Gazastreifen. Die offensive Siedlungsstrategie der Israelis und die Korruption und das Stillhalten der Palästinensischen Autonomiebehörde treiben immer mehr Palästinenser ins Lager der dschihadistischen Hamas.
  2. Dass die Netanjahu-Regierung mit ihrer Strategie der lange währenden Toleranz gegenüber der Hamas und der gleichzeitigen Demolierung der Palästinensischen Autonomiebehörde jede Friedensregelung hintertrieben hat, macht ihre unmäßige militärische Reaktion gegen die Zivilbevölkerung in Gaza umso barbarischer. Israel muss zu einem Waffenstillstand gezwungen werden. Die jetzt noch knapp zwei Millionen Palästinenser in Gaza haben keine Möglichkeit, aus ihrem Landstreifen zu entkommen. Ägypten hält die Südgrenze dicht, Israel die drei anderen Seiten. Das israelische Argument, man müsse leider Zivilbevölkerung vernichten, weil sich Hamas-Kämpfer hinter diesen versteckten, ist eine zynische Mörderformel. Dieses Vorgehen ist völkerrechtlich ausdrücklich verboten. Betreibt Israel weiter diese Strategie des Völkermords, werden die arabischen Länder gedrängt, in den Krieg einzugreifen. Die USA liegen bereits mit zwei Flugzeugträgern vor der Küste. Ein großer Krieg kann bevorstehen.
  3. Dass von der Linken Israel als kolonialistischer und imperialistischer Vorposten angesehen wird, hat nichts mit den Intentionen der jüdischen Staatsgründer oder der heutigen Juden zu tun. Es ist die objektive Funktion Israels als größter landgestützter Flugzeugträger der Welt, ständig bereit zum militärischen Eingriff oder zur ständigen Drohung durch die USA und dem von ihnen geführten Westen.
  4. Die USA wollen das Problem trotz ihrer Lippenbekenntnisse für eine Zweistaatenlösung als mehr oder weniger zugunsten eines einzigen Staates Israel gelöst sehen. 2017 erkannte der damalige Präsident Trump Jerusalem als Hauptstadt Israels an und errichtete dort die US-Botschaft. 2020 legte er mit dem israelischen Premier Netanjahu einen „Friedensplan“ vor, den die Palästinensische Autonomiebehörde sofort ablehnte. Der Plan sah die Anerkennung eines ungeteilten Jerusalems als Hauptstadt Israels vor, die Legitimierung der israelischen Siedlungen im Westjordanland und die Annexion des Jordantals durch Israel. Der Plan missachtete völlig die durch mehrere UN-Beschlüsse bestätigten Ansprüche der Palästinenser. Präsident Biden hat keine der UN-Resolution entsprechende Initiative unternommen. Die Präsidentschaftswahlen 2024 werden womöglich zu einer neuen Amtszeit Trumps führen.
  5. Die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Marokko und Sudan haben im Anschluss an den „Friedensplan“ diplomatische Verträge mit Israel abgeschlossen. Die meisten arabischen Staaten sehen sich in der Pflicht den Palästinensern gegenüber. Mohammed bin Salman, Kronprinz und Herrscher von Saudi-Arabien, verurteilte die Angriffe auf Zivilisten in Gaza als „abscheulich“ und sah „gefährliche Auswirkungen“ voraus, wenn die Lage weiter eskaliere. Mit dem früheren Erzfeind Iran, nach der Vermittlung durch China wieder Gesprächspartner, tauschte er sich über Gaza aus. Der türkische Präsident Erdogan erklärte: “Die Hamas ist keine Terrororganisation, sondern eine Widerstandsgruppe, die kämpft, um ihr Land und ihr Volk zu schützen:“
  6. Wie wird es weitergehen? Wie der Ukrainekrieg kann auch der Nahostkonflikt nur im Rahmen der geopolitischen Auseinandersetzung begriffen werden. Es stehen Länder des Globalen Südens, vor allem die muslimischen Länder, die die Seite der Palästinenser vertreten, dem Westen gegenüber, der sich mit der US-Regierung und der EU-Kommission fast vorbehaltlos an die Seite Israels gestellt hat. Die USA haben im UNO-Sicherheitsrat als einziger Staat ihr Veto eingelegt gegen den von Brasilien eingebrachten Antrag, eine „humanitäre Pause“ für Hilfslieferungen nach Gaza einzulegen. Die Begründung der USA: Die Resolution berücksichtige nicht Israels Recht auf Selbstverteidigung.
    Sollte der russische Überfall auf die Ukraine manche im Globalen Süden in ihrer Haltung haben schwanken lassen, der Zynismus der Westeliten – „die Ukrainer besitzen eine Menschlichkeit, die den Palästinensern fehlt“, Spiegel-Zitat eines lateinamerikanischen Politologen – hat den Süden in der Ablehnung der Propaganda des Westens vereint.
    Schon die Sanktionen des Westens gegen Russland wegen dessen Angriffskrieges haben viele der Länder des Globalen Südens nicht gebilligt. Jetzt werden sie weitere Massaker an der Zivilbevölkerung in Gaza nicht tatenlos hinnehmen. Es ist auch längst nicht mehr nur eine Frage der Regierungen, es treibt gerade in den muslimischen Ländern die Menschen auf die Straße, es wird zu einer Kernfrage im globalen ideologischen Kampf.
    Israel, politische Heimstatt einer fast weltweit verfolgten ethnisch-religiösen Minderheit, ist dabei, seinen großen moralischen Kredit zu verspielen. Israel und der Westen müssen dazu gebracht werden, den palästinensischen Gegenüber völkerrechtsgemäß und menschlich zu behandeln.
    Als erstes braucht der Nahe Osten eine Feuerpause, als nächstes Verhandlungen, in die - wie es schon mit Camp David 1 und Camp David 2 möglich war – Israelis und Palästinenser und möglichst viele arabische Staaten einbezogen werden. Initiativen in diese Richtung werden weder von der Hamas noch von der Netanjahu-Regierung ausgehen. Der Sicherheitsrat der UNO und ihr Generalsekretär sind die berufenen Mediatoren. Gründen müssen diese Aktionen auf einer prinzipiellen Verständigung der weltpolitischen Antipoden USA und China. Die Chinesen sind mit Sicherheit dazu bereit, die USA werden umso offener für eine solche Lösung sein, je akuter der Präsidentschaftswahlkampf wird.