Wer Menschen zur Flucht aus der DDR verhalf, galt im Westen als Held.
Wer heute Flüchtlinge im Mittelmeer rettet, wird kriminalisiert.

 

 

Höre ich das Wort „Grenztote“, denke ich an die Berliner Mauer. Zwischen 1961 und 1989 forderte sie 140 Todesopfer; 101 Menschen starben auf der Flucht von der DDR in die BRD. Als Kind wuchs ich neben der Mauer auf. Damals begriff ich weder ihre volle Bedeutung noch kannte ich die Tragödie ihrer Toten. Heute erinnern weiße Kreuze an sie – mit Namen und Todesdaten. Sie machen historisches Unrecht sichtbar. 

Erst kürzlich lief ich an diesen Kreuzen vorbei, beim Spree-Spaziergang vom Hauptbahnhof zur Friedrichstraße. Ich hörte einen Podcast zum Thema „Grenztote“ – nicht der DDR, sondern der Europäischen Union (EU). Laut dem Sender Al Jazeera starben allein in diesem Jahr über 2500 Menschen im Mittelmeer. Seit 2014 fanden mehr als 28.000 Menschen ihren Tod – genau dort, wo wir Urlaub machen. Ob Eisenkreuze auch an ihre Namen erinnern? Wohl kaum. 

Denn heute wie damals misst sich der Wert menschliches Leben an politischem Willen.
DDR-Bürger: innen waren „Deutsche im Sinne des Grundgesetzes“. Das heißt, sie hatten Grundrechte. Fluchthelfer:innen galten als Held:innen, die Bundesregierung unterstützte sie, und dank eines Urteils des Bundesgerichtshofes konnten sie sogar auf Bezahlung klagen.

EU-Grenzpolitik: Ein „rechtswidriges System der Gewalt“ 

Heute flüchten Menschen in ein Europa, das diese Menschen nicht will. Das heißt, ihre Grundrechte gelten kaum: Monatelang vegetieren sie in gefängnisähnlichen Lagern –
auf EU-Boden. Fluchthelfer:innen heißen heute „Schleuser:innen“, und die bekommen weder staatliche Mittel noch politische Orden, sondern Geld- und Gefängnisstrafen – auch dann, wenn sie Menschen vor dem sicheren Tod bewahren. Oft sind es Geflüchtete selbst, die verurteilt werden. 

Carola Rackete, die Kapitänin der „Sea-Watch 3“, rettete im Juni 2019 libysche Flüchtende aus Seenot. Dafür wurde sie festgenommen, stand unter Anklage und Hausarrest. Ihr Fall schaffte es in die deutschen Medien – auch, weil sie Deutsche ist. Hätte sie vor 40 Jahren DDR-Flüchtlinge aus der Ostsee gerettet, wäre sie wohl ausgezeichnet worden. Aber auch so funktioniert Geschichte – das Recht steht nicht zwingend auf der richtigen Seite. Jedenfalls nicht, wenn Menschenleben statt Politik im Mittelpunkt stehen.

Trotzdem scheint der Kontrast absurd: Die BRD unterstützte die Bezahlung von Fluchthelfer:innen; heute bezahlt die EU Drittländer, damit diese Migrant:innen abwehren. Ein Mittel hierfür sind Pushbacks. Flüchtende Menschen werden teils mit Waffengewalt zurückgedrängt, auf Gummi-Inseln ausgesetzt und dann sich selbst überlassen. Das Recht auf einen individuellen Asylantrag wird ihnen verweigert. Laut der Menschenrechtsorganisation  medico international ist das ein Skandal. Denn so entstehe ein „rechtswidriges System der Gewalt in Übereinstimmung mit dem EU-Grenzregime, auf Kosten der Menschen“, sagt Kerem Schamberger. Er arbeitet zu Fragen der Flucht und Migration. Lebten wir im Film, stünde die EU auf der dunklen Seite der Macht. 

Dennoch scheint es erstaunlich. Trotz Tausender Toter und der wachsenden Militarisierung der EU-Grenzen wissen wir fast nichts davon. Weder gibt es politische Debatten noch öffentliche Diskussionen, noch umfassende Berichterstattung. Warum?
Flüchtende Menschen haben keine Lobby, damit fehlt der politische Wille.
So bleibt menschliches Unrecht unsichtbar – trotz 75 Jahren Menschenrechte, auch in der EU.

 

Erstveröffentlichung berliner-zeitgung, 11.12.2023