Ostdeutsche wissen: Gesellschaft ist nicht in Stein gemeißelt, es gibt Alternativen. Wie sieht die Gesellschaft aus, die wir wollen?

 

 

„Die soziale Marktwirtschaft hat sich als ganz gewöhnlicher Kapitalismus entpuppt.“
Das schrieb Hans Modrow in einem Grußwort zum Jahr 1993. Modrow war der letzte Vorsitzende des DDR-Ministerrats. Seine Akten liegen heute im Archiv der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Erst kürzlich las ich sie wieder und war beeindruckt von Modrows Scharfsinn. Schon Anfang 1990 sah er: Dem Untergang des real existierenden Sozialismus folgte der real existierende Kapitalismus. Die Bundesregierung gab den Ton an und vertraute auf die D-Mark. Sie wollte „freie Märkte“ für „freie Bürger“, auch für die DDR. Alternativen gab es nicht. 

So kam im Juli 1990 die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und schaffte einen vereinten Markt für ein geteiltes Deutschland. Schon im Februar 1990 warnten Kritiker:innen in der DDR und BRD vor den Folgen dieses Anschlusses. Er sei ein „unkontrolliertes Großexperiment […] nicht mit ungewissem, sondern sehr gewissem Ausgang“, schrieben sie in einem offenen Brief. Der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft, De-Industrialisierung und Massenarbeitslosigkeit – all das „zöge Kosten in einer Größenordnung nach sich, die kaum zu bewältigen“ seien. Am Ende profitierten die Rechten von enttäuschten Versprechen blühender Landschaften. Und genauso kam es. Die DDR brach zusammen, die Kosten explodierten und die Rechten bekamen Aufwind – bis heute. 

Ostdeutsche, die diese Zeit durchlebten, haben „Umbruchserfahrung“. Das heißt, sie kennen Orientierungslosigkeit, Anpassungsprobleme und Neuanfänge. Diese Erinnerungen sind oft schwer, aber kostbar. Denn wer sie hat, weiß: Gesellschaft ist nicht in Stein gemeißelt. Sie ist zerbrechlich, und es gibt Alternativen. Die Frage ist also weniger, welche Gesellschaft wir haben, sondern, welche Gesellschaft wir wollen. 

Leider stellen wir uns solche Fragen heute kaum. Getrieben von Kriegen, Krisen und dem Klima scheint das, was wir haben, sicherer als das, was wir haben könnten. Ob in Politik oder Medien – propagiert wird das Individuum, der Markt, Wachstum und Konsum, also der „ganz gewöhnliche Kapitalismus“. Alternativen gibt es kaum. Auch die Alternative für Deutschland (AfD) ist hier keine Ausnahme. Laut Grundsatzprogramm will sie ein „deutsches Volk“ voll „freier Bürger“ mit „freiem Wettbewerb“. Das bedeutet, jede:r ist sich selbst der Nächste und alle sind gegen Migrant:innen. Neu ist das nicht, und auch keine Alternative. 

Wie begrenzt unsere Wirtschaftsberichterstattung ist, zeigt auch eine neue Studie der Otto-Brenner-Stiftung: Sie untersuchte Wirtschafts-Podcasts. Allein beim Streamingdienst Spotify gibt es 656 davon. 60 Prozent von ihnen produzieren Unternehmen, oft in Ratgeberformaten und mit individuellem Fokus. Kritische Perspektiven auf Gesellschaft oder unsere Rollen als Arbeitnehmer:innen sind selten, Kapitalismuskritik à la Modrow fehlt fast ganz. 

Das ist eine Lücke. Denn ohne solche Anstöße können wir Gesellschaft kaum anders denken. Deshalb bleibe ich bei Modrow und der Wendezeit. Sie zeigte uns: Der „ganz gewöhnliche Kapitalismus“ ist nicht nur ein Wirtschaftssystem, er ist eine soziale Ordnung – er beeinflusst unser Denken, Handeln und unseren Umgang mit anderen. Das macht Kapitalismus zum Teil fast aller Krisen, Kriege und des Klimas. Die Zeit ist also reif für Systemfragen, auch in den Medien.

 

Erstveröffentlichung berliner-zeitung, 5.2..2024