Die Forderung deutscher Politiker nach dauerhaften Grenzkontrollen zur Abwehr von Flüchtlingen stößt in mehreren Nachbarstaaten auf scharfen Protest und verschärft die Konflikte innerhalb der EU.

 

 

Polens Regierung protestiert, die Grenzkontrollen, die Deutschland schon seit dem Herbst 2023 durchführe, riefen beträchtliche „Schwierigkeiten beim Grenzverkehr“ hervor. Tschechiens Innenministerium wiederum warnt, es drohe ein „Dominoeffekt“; mit diesem stünde möglicherweise die Einführung von Kontrollen im gesamten Schengen-Raum bevor.
 
Mit großer Skepsis werden Grenzkontrollen vor allem in der Industrie beobachtet, die bei einer Verlangsamung grenzüberschreitender Lieferketten Milliardenverluste befürchtet.
Bei den Kontrollen, die einige wenige reiche EU-Staaten bereits heute durchführen, lassen sich Verluste noch begrenzen, da Warentransporte in der Regel ausgenommen sind.
Unklar ist jedoch, ob dringend benötigte Pendler aus Osteuropa weiterhin zur Arbeit in die Bundesrepublik fahren werden, sollten Dauerkontrollen ihre Anreise übermäßig erschweren.

Dauerhafte Grenzkontrollen brechen darüber hinaus EU-Recht und erschweren es Berlin, andere Staaten unter Berufung auf EU-Normen zu disziplinieren.

Aktuelle Grenzkontrollen

Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen werden zur Zeit von einer Minderheit reicher EU-Mitgliedstaaten durchgeführt – vor allem von Deutschland. Die Bundesregierung hat sie erstmals im Jahr 2015 in Gang gesetzt, um die Einreise von Flüchtlingen zu bremsen; an der Grenze zu Österreich hält sie seitdem an der Maßnahme fest.
Grenzkontrollen, die im Jahr 2020 während der Covid-19-Pandemie eingeführt wurden, wurden inzwischen wieder beendet. Auch die bundesweiten Grenzkontrollen während der Fußball-EM in Deutschland sind nicht mehr in Kraft, und diejenigen an der Grenze zu Frankreich, die zu Beginn der dortigen Olympischen Spiele eingeführt wurden, sollen nach dem Ende der Paralympischen Spiele aufgehoben werden.
Jedoch gilt eine Verlängerung der Kontrollen an den Grenzen zu Polen, zu Tschechien und zur Schweiz, die im Herbst vergangenen Jahres zur Flüchtlingsabwehr eingeführt wurden und die zumindest bis Dezember 2024 andauern sollen, als ohne weiteres vorstellbar. Grenzschließungen haben neben Deutschland auch Frankreich und Österreich verhängt; Österreich hat, in Reaktion auf die deutschen Grenzkontrollen, schon 2015 eigene Kontrollen an seiner Grenze zu Slowenien eingeführt. Kontrollen nehmen auch Dänemark, Schweden und das Nicht-EU-, aber Schengen-Mitglied Norwegen vor.

„Schurkenregierungen“

Dass Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen dauerhaft durchgeführt werden, ist eindeutig illegal. Grundsätzlich sind sie laut der im Frühjahr verabschiedeten Überarbeitung des Schengen-Kodex lediglich bei einer „ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit“ zulässig; dazu zählen neben Terrorgefahr sowie internationalen Veranstaltungen „großen Umfangs oder mit hoher Öffentlichkeitswirkung“ nicht zuletzt sogenannte Migrationskrisen.[1]
Allerdings dürfen Kontrollen nur als „letztes Mittel“ zum Einsatz kommen; sie sind jeweils auf sechs Monate beschränkt und können auf bis zu zwei, in Sonderfällen auf bis zu drei Jahre [2] verlängert werden. Mehr ist auf legalem Weg nicht möglich.
Mit Blick auf Österreichs Kontrollen an der Grenze zu Slowenien urteilte im April 2022 der Europäische Gerichtshof (EuGH), die Kontrollen seien rechtswidrig; es sei daher legal, sich ihnen beim Grenzübertritt konsequent zu verweigern.[3]
Kritiker äußern sich mittlerweile recht scharf.
Eine kleine Gruppe von „Schurkenregierungen“ weigere sich, EU-Recht zu wahren, erklärte bereits im September 2023 Sergio Carrera vom Brüsseler Centre for European Policy Studies (CEPS); man müsse sie „vor Gericht ziehen“, und die EU-Kommission müsse ihrem Treiben umgehend ein Ende setzen.[4]

Milliardenverluste drohen

Klare Ablehnung gegenüber Grenzkontrollen an den Schengen-Binnengrenzen wird seit je aus Wirtschaftskreisen laut. Ursache ist, dass Kontrollen nicht nur den Export fertiger Waren bremsen, sondern vor allem auch grenzüberschreitende Lieferketten stören; dies kostet die Industrie, die sich die jeweiligen Standortvorteile der unterschiedlichen EU-Staaten zunutze macht, um ihre Profite zu optimieren, viel Geld.
Als mehrere EU-Staaten 2015 zum ersten Mal umfangreiche Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen einführten, wurden eine Reihe von Berechnungen über die dadurch entstehenden Schäden angestellt.
Eine Analyse etwa, die im Mai 2016 im Auftrag des Europaparlaments veröffentlicht wurde, kam zu dem Schluss, Grenzkontrollen in der kompletten Schengen-Zone würden binnen zwei Jahren Kosten in Höhe von bis zu 51 Milliarden Euro verursachen.[5] Zu den Ländern, die davon besonders stark getroffen würden, zähle Deutschland, hieß es. Aktuell bleibt der Protest aus der Wirtschaft über die neuen Vorstöße zur Ausweitung der Grenzkontrollen noch recht verhalten. Ursache ist, dass Warentransporte von den Kontrollen bisher ausgenommen sind; „wesentliche Störungen“ seien derzeitt „nicht feststellbar“, bestätigte erst vor kurzem der Bundesverband Spedition und Logistik (DSLV).[6]
Der Warentransport müsse aber kontrollfrei bleiben.

„Ressource für den deutschen Arbeitsmarkt“

Getroffen werden von Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen allerdings Grenzpendler. Deren Zahl ist seit der Einführung der sogenannten Arbeitnehmer-freizügigkeit für die neuen EU-Mitgliedstaaten in Ost- und Südosteuropa zum 1. Mai 2011 deutlich gestiegen. Lag sie im Jahr 2010 noch bei 66.487 Personen in West- und bei 2.087 Personen in Ostdeutschland, so waren es im Jahr 2023 bereits 144.057 im Westen und 73.193 im Osten der Bundesrepublik – 0,51 Prozent der Beschäftigten in West-, 1,15 Prozent der Beschäftigten in Ostdeutschland. Die meisten kamen aus Polen (94.173) und aus Tschechien (38.244). Sie seien „häufig in Engpassberufen“ tätig, stellten also „eine wichtige Ressource für den deutschen Arbeitsmarkt“, hieß es im April in einer Untersuchung aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB); man solle deshalb für Rahmenbedingungen „Sorge“ tragen, die ihre „Erwerbstätigkeit in Deutschland“ auch für die Zukunft sicherten.[7] Mit der Einführung umfassender Grenzkontrollen wäre das womöglich nicht mehr gewährleistet. Auch droht eine Art Kettenreaktion: Führt Deutschland dauerhafte Grenzkontrollen ein, werden Staaten wie etwa Tschechien oder die Slowakei, um nicht zum Auffangbecken für Flüchtlinge zu werden, mutmaßlich nachziehen. Das Schengen-System droht zu kollabieren.

Proteste

Haben nun deutsche Politiker wie etwa Oppositionschef Friedrich Merz (CDU) und der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Jens Spahn in Reaktion auf das Attentat von Solingen die Einführung dauerhafter Grenzkontrollen gefordert [8], so werden in gleich mehreren Nachbarstaaten Proteste dagegen laut. Solche Kontrollen an den deutschen Außengrenzen seien „eine fundamentale Abkehr von ... dem Schengen-Prinzip“, erklärte eine Sprecherin des tschechischen Innenministeriums; sie würden „zweifellos zu einem Dominoeffekt von Kontrollen“ in der gesamten Schengen-Zone führen.[9] In Polen teilte das Innenministerium mit, schon jetzt riefen die Grenzkontrollen „Schwierigkeiten beim Grenzverkehr“ hervor; Berlin solle sie keinesfalls verlängern, sondern sie „frühzeitig abschaffen“. Unmut äußerte nicht zuletzt die belgische Regierung, die einen Sprecher erklären ließ, für ein Land wie Belgien, „das im Herzen Europas liegt und eine sehr offene Wirtschaft hat“, sei „das reibungslose Funktionieren der Schengen-Zone wesentlich“.[10]

Neue Spannungen

Geht die Bundesregierung tatsächlich zu dauerhaften Grenzkontrollen über, kommt zu den zahlreichen Streitpunkten in der EU, wie schon jetzt die Proteste aus Polen, Tschechien und Belgien zeigen, ein weiterer hinzu.
Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, wieso Staaten wie Ungarn es sich weiterhin gefallen lassen sollten, wegen Verstößen gegen EU-Normen gemaßregelt zu werden, wenn die deutsche EU-Zentralmacht ihrerseits nach Belieben das Kernregelwerk des Schengen-Systems bricht. Damit verschärft bereits die Forderung, dauerhafte Kontrollen an den deutschen Außengrenzen einzuführen, die Spannungen in der EU.

 

[1] Thomas Gutschker, Mona Jaeger: Wie könnten die EM-Grenzkontrollen verlängert werden? faz.net 15.07.2024.

[2] EU erlaubt längere Grenzkontrollen im Schengen-Raum. rsw.beck.de 08.02.2024.

[3] Sigrid Melchior, Pascal Hansens, Nico Schmidt, Amund Trellevik, Ingeborg Eliassen: EU-Staaten brechen den Schengen-Vertrag. investigate-europe.eu 09.09.2022.

[4] Davide Basso, Nikolaus J. Kurmayer: Schengen: How Europe is ruining its ‘crown jewel’. euractiv.com 28.09.2023.

[5] Cost of non-Schengen: the impact of border controls within Schengen on the Single Market. European Parliamentary Research Service, May 2016.

[6] Dietmar Neuerer: Ampelpolitiker wollen Grenzkontrollen nach der EM beibehalten. handelsblatt.com 04.07.2024.

[7] Holger Seibert: Immer mehr Menschen pendeln aus Osteuropa nach Deutschland. iab-forum.de 15.04.2024.

[8] War der Täter von Solingen wirklich untergetaucht? faz.net 26.08.2024.

[9], [10] Oliver Noyan: German neighbours ring alarm bells over potential border controls. euractiv.com 26.08.2024.