Einigung im Europaparlament: Der EU-Kommission gehören künftig zwei ultrarechte Kommissare an. Damit bricht Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den cordon sanitaire gegenüber der extremen Rechten.

 

Die EU-Kommission unter ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen bricht den bisherigen cordon sanitaire gegenüber der extremen Rechten: Sie wird künftig zwei Kommissare aus dem ultrarechten Parteienspektrum umfassen. Dabei handelt es sich um Raffaele Fitto von den Fratelli d’Italia, der Partei von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, und um Olivér Várhelyi, der der Partei von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, dem Fidesz, nahesteht. Die Fratelli d’Italia gehören zur Rechtsaußenfraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), der Fidesz zur Fraktion der Patrioten für Europa (PE), zu der auch der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen und die FPÖ zählen. Die konservative Europäische Volkspartei (EVP) hat unter der Führung des CSU-Politikers Manfred Weber bereits in der vergangenen Legislaturperiode immer wieder mit der EKR kooperiert und behält sich dies explizit auch in Zukunft vor. Zuletzt hatte sie sogar mehrfach mit den PE, zuweilen gar mit der Fraktion Europa der Souveränen Nationen (ESR), der die AfD angehört, gemeinsam abgestimmt. Die tradierte Abgrenzung gegenüber der extremen Rechten („Brandmauer“) bröckelt damit weiter.

In kleinen Schritten

Die jahrzehntelang übliche Praxis, Parteien der äußersten Rechten von der Macht in der EU fernzuhalten und sie deshalb auch nicht zu Mehrheitsbeschaffern aufzuwerten, ist von der konservativen Fraktion im Europaparlament, der Europäischen Volkspartei (EVP), schon in der vergangenen Legislaturperiode systematisch ausgehöhlt worden. Bereits im Januar 2022 ermöglichte es die EVP, dass ein Abgeordneter der ultrarechten EKR-Fraktion (Europäische Konservative und Reformer) zu einem der Vizepräsidenten des Europaparlaments gewählt wurde.[1] Eine Untersuchung der Grünen-Fraktion ergab, dass sich die EU-Kommission unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei rund 340 Abstimmungen auf Abgeordnete der EKR oder sogar der noch weiter rechts angesiedelten Fraktion ID (Identität und Demokratie) gestützt hatte, um eine Mehrheit zu bekommen. Gewöhnlich sei es dabei darum gegangen, etwa den CO2-Preis für die Kfz-Industrie zu senken oder Subventionen für fossile Energien abzusegnen, heißt es in der Untersuchung – etwas, wofür von der Leyen die Grünen nicht als Mehrheitsbeschaffer gewinnen konnte.[2] Mit den Stimmen von EKR und ID gelang es der EVP im April 2024 auch, einen Antrag zu blocken, der Maßnahmen vorsah, um die Belästigung von Parlamentsmitarbeitern durch Abgeordnete zu verhindern.[3] Der Bruch des cordon sanitaire wurde demnach in kleinen Schritten sukzessive eingeübt.

Die „Venezuela-Mehrheit“

Größere Aufmerksamkeit erhielt im September eine der ersten Abstimmungen des Anfang Juni neu gewählten Europaparlaments. Die Resolution, die zur Debatte stand, sah vor, den in der venezolanischen Präsidentenwahl vom 28. Juli 2024 unterlegenen Kandidaten Edmundo González als angeblich tatsächlichen Wahlsieger anzuerkennen. Den Schritt hatten zuvor die Vereinigten Staaten vollzogen. Dass der Westen meint, darüber befinden zu dürfen, wer in Venezuela als Präsident amtiert, ist absurd und kaum anders denn als Fortbestand alter Kolonialherrenmentalität zu erklären; es ist aber nicht neu: Schon Anfang 2019 hatten einige westliche Staaten, darunter die USA und Deutschland, den venezolanischen Umstürzler Juan Guaidó freihändig – und erfolglos – zum Präsidenten des Landes erklärt (german-foreign-policy.com berichtete [4]). Die neue Resolution zugunsten von González wurde gemeinsam von der EVP und der EKR vorgelegt; in der EKR sind die Fratelli d’Italia (FdI) von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni stärkste Kraft. Verabschiedet wurde die Resolution letztlich mit den Stimmen der PE (Patrioten für Europa), zu denen der Fidez von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen und die FPÖ gehören, sowie mit Stimmen der ESR (Europa der Souveränen Nationen), zu der unter anderem die AfD zählt.[5]

Wechselnde Abstimmungsbündnisse

Die „Venezuela-Mehrheit“, wie die breite Abstimmungsmehrheit von konservativen und extrem rechten Parteien im Europaparlament seitdem genannt wird, ist inzwischen mehrmals zum Tragen gekommen. Dies war etwa im Oktober der Fall, als das Europaparlament über die Modalitäten bei der Präsentation der künftigen EU-Kommissare und bei der Abstimmung über sie entschied.[6] Ebenfalls im Oktober stimmte die EVP für einen Haushaltsantrag der AfD, der die Schaffung umfassender Abschottungsanlagen an den Außengrenzen der EU vorschlug.[7] Auch die Vergabe des diesjährigen Sacharow-Preises des Europaparlaments im Oktober an González und an die rechte venezolanische Oppositionspolitikerin María Corina Machado geschah mit den Stimmen von EVP, ECR und PE.[8] EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war im Juli noch auf der Basis eines Abstimmungsbündnisses von EVP, Liberalen, Sozialdemokraten und Grünen gewählt worden; es kam damals nicht zuletzt zustande, um der EKR keine wahlentscheidende Funktion einzuräumen. Allerdings zeigt der mehrmalige Rückgriff auf die „Venezuela-Mehrheit“ nun, dass diese der Kommission ganz ungeachtet der Ursprungsmehrheit der Kommissionspräsidentin jederzeit zur Verfügung steht.

Rechts des cordon sanitaire

Konflikte gab es nun um die Wahl der EU-Kommissare – und zwar, weil einige EU-Staaten Politiker nominiert hatten, deren Parteien rechts der EVP stehen und die, würde der tradierte cordon sanitaire noch gewahrt, nicht auf führende Positionen in Brüssel gehievt werden dürften. Das betraf vor allem Raffaele Fitto, der den Fratelli d’Italia angehört, der Partei von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Von der Leyen will Fitto, einen der engsten Mitarbeiter von Meloni, zu einem der exekutiven Vizepräsidenten der EU-Kommission ernennen, mit spezieller Zuständigkeit für Kohäsion und Reformen. Ungarn wiederum hatte als seinen Kommissar in Brüssel Olivér Várhelyi benannt, den bisherigen Erweiterungskommissar, der künftig für Gesundheit zuständig sein soll. Várhelyi steht dem Fidesz von Ministerpräsident Orbán sehr nahe. Der Fidesz gehört der dieses Jahr neugegründeten PE-Fraktion an, zu der mit dem RN, der FPÖ und anderen auch Parteien zählen, die bisher klar jenseits des cordon sanitaire eingestuft wurden. Gegen Fitto und gegen Várhelyi regte sich in den Fraktionen der Sozialdemokraten und der Grünen, die ansonsten die von der Leyen-Kommission mittragen, heftiger Protest; bis vor kurzem hieß es, beide Fraktionen würden die Ernennung der zwei Politiker nicht mittragen.

Taktik und Strategie

In den vergangenen Tagen spitzte sich der Streit um die künftigen Kommissare zu. Dabei wurde massiv taktiert; so hieß es etwa, der EVP-Fraktionsvorsitzende Manfred Weber (CSU), der als maßgeblicher Drahtzieher bei der Öffnung seiner Fraktion für Abstimmungsbündnisse mit EKR und PE gilt, könne zwar theoretisch die beiden Rechtsaußenkommissare mit der „Venezuela-Mehrheit“ bestätigen lassen, werde das praktisch aber kaum tun: Stimmten CDU- bzw. CSU-Politiker im Europaparlament jetzt bei einer zentralen Entscheidung gemeinsam mit der AfD, dann gebe das kurz vor der vorgezogenen Bundestagswahl ein unwillkommenes Signal.[9] Gleichzeitig hieß es – so äußerten sich etwa am Dienstag die früheren italienischen Ministerpräsidenten und Ex-EU-Spitzenfunktionäre Romano Prodi und Mario Monti –, in einer Zeit, in der die EU „gewaltigen Herausforderungen im Osten wie auch im Westen“ ausgesetzt sei – dem Konflikt mit Russland und den drohenden Differenzen mit der künftigen Trump-Administration –, müsse das Staatenkartell geschlossen agieren: ein Hinweis nicht zuletzt an die sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament, das Personaltableau von Kommissionspräsidentin von der Leyen nicht weiter zu blockieren.[10]

Primat der Außenpolitik

Am gestrigen Mittwoch haben die Fraktionsspitzen in Brüssel nun eine Einigung erreicht. Demnach dürfen Fitto und Várhelyi die Posten in der EU-Kommission übernehmen, die von der Leyen ihnen zugedacht hat; die sozialdemokratische Fraktion will dem zustimmen. Im Gegenzug verspricht die EVP, nur mit Parteien zu kooperieren, die proukrainisch – also antirussisch – sind, die EU befürworten und für den Rechtsstaat eintreten. Damit wird die einstige Abgrenzung gegenüber der extremen Rechten, der cordon sanitaire, durch vor allem außenpolitische Festlegungen ersetzt. Laut Interpretation der EVP steht der Kooperation mit der EKR damit nichts mehr im Weg.[11] Ob die EVP in Zukunft wirklich darauf verzichten wird, auch mit den PE und der ESN-Fraktion zusammenzuarbeiten, wird sich zeigen. Die endgültige Abstimmung im Europaparlament über die neue EU-Kommission einschließlich der beiden ultrarechten Kommissare ist für den kommenden Mittwoch angekündigt.

 

Mehr zum Thema: Die Brandmauer rutscht (II).

[1] S. dazu Europa auf dem Weg nach rechts.

[2] S. dazu Europa auf dem Weg nach rechts (III).

[3] Eleonora Vasques: Right-wing bloc votes against bid to make anti-harassment training mandatory in Parliament. euractiv.com 25.04.2024.

[4] S. dazu Die Weltenherrscher (II) und Heute schon geputscht?

[5] Noemi Morucci: Prove di maggioranza a destra all’Eurocamera: passa la condanna a Maduro con i voti compatti di Ppe, Ecr e sovranisti. eunews.it 19.09.2024.

[6] Eddy Wax, Max Griera: Here’s the final schedule for commissioner hearings in November. politico.eu 10.10.2024.

[7] Eddy Wax, Max Griera, Jacopo Barigazzi: Far-right ‘Venezuela majority’ signals new power balance in European Parliament. politico.eu 28.10.2024.

[8] Csongor Körömi: Venezuela’s opposition wins top EU human rights award. politico.eu 24.10.2024.

[9] Thomas Gutschker: Wer sich bewegt, verliert. Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.11.2024.

[10] Alessia Peretti: Former Italian PMs Prodi, Monti want veto on Fitto, Ribera to be lifted. euractiv.com 20.11.2024.

[11] Thomas Gutschker, Hans-Christian Rößler: Am weitesten mussten sich die Sozialdemokraten bewegen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.11.2024.