Mit „Vision 2020+“ wird das Unternehmen nach den Worten des Vorstandsvorsitzenden Joe Kaeser strategisch „auf das kommende Jahrzehnt gut vorbereitet“. Die Anfang August der Öffentlichkeit vorgestellten Pläne waren nicht nur von der Belegschaft, sondern auch von Presse und Börsenanalysten mit Spannung erwartet worden. Immerhin hatten sich trotz glänzender Geschäftszahlen doch gravierende Probleme aufgehäuft. Wer in dem Strategiepapier nach Antworten auf drängende Zukunftsfragen suchte, wurde allerdings enttäuscht. So gab es für den kriselnden Geschäftsbereich Öl und Gas lediglich dürre Versprechungen auf höhere Marktanteile, und die vor aller Augen stattfindende Zerstückelung der Siemens AG wurde auf der Pressekonferenz zwar wortreich, aber erfolglos bestritten, wie das Presseecho der letzten Tage zeigte.
Vorbehaltlich der Zustimmung der Kartellbehörden sind im neuen Konzept die Ausgliederung der Bahnsparte und deren Fusionierung mit dem französischen Alstom-Konzern bereits vollzogen. Damit sind seit 2014 nicht nur die Medizintechnik (Ausgliederung und Börsengang als Siemens Healthcare GmbH Erlangen), sondern auch Wind Power (Ausgliederung und Fusion mit einem spanischen Wind- und Solaranlagenhersteller zur neuen Siemens GAMESA Renewable Energy mit Sitz in Spanien) und die Bahnsparte (künftig Siemens Alstom mit Sitz in Frankreich) aus der Siemens AG herausgeschoben worden. Sie bleiben zwar über Mehrheitsbeteiligungen noch unter dem Konzerndach, für die Beschäftigten aber sind die Unsicherheiten deutlich gewachsen. Arbeitsplatzgarantien und Zusagen zur Tarifbindung reichen jeweils nur wenige Jahre weit.
Die in der Siemens AG verbleibenden Geschäfte sollen in nur noch vier Bereiche gegliedert werden. Fossile Stromerzeugung und Stromübertragung werden als Großanlagenbau zu einem Geschäftsbereich gebündelt, der künftig von den USA aus geleitet wird. Energieverteilung, urbane Infrastruktur und Gebäudeausstattung werden zusammengefasst, die zentrale Leitung dieses Geschäftsbereichs wird in der Schweiz angesiedelt sein. Die industriellen Kernbereiche mit elektrischen Antrieben und Automatisierungslösungen bilden einen weiteren operativen Geschäftsbereich. In einer vierten Säule finden sich dann noch Strategie-Abteilungen, Software-Plattformen und Start-ups sowie kleinere und mittlere Tochterfirmen.
Von den sieben neuen Geschäftsbereichen haben lediglich die beiden letztgenannten sowie Healthcare den Firmensitz bzw. die zentrale Leitung noch in Deutschland. Auch daran lässt sich erkennen, dass innerhalb nur weniger Jahre der Grad der Internationalisierung der Siemens AG enorm vorangetrieben wurde. Die Zahl der weltweiten Standorte, Tochterunternehmen und Firmenbeteiligungen hat sich seit 2013 etwa vervierfacht. Mit den jüngst vorgestellten Plänen wird diese Internationalisierung nun auch in einer dezentraleren Unternehmensstruktur abgebildet. Untrennbar verbunden mit dieser Entwicklung ist die gesellschaftsrechtliche Zersplitterung in börsennotierte Unternehmen nach deutschem oder europäischem Recht, wobei unter dem Konzerndach weitere Hunderte Firmen unterschiedlichster Rechtsnormen in den USA, Asien, Afrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten versammelt sind. Um es kurz zu fassen: Siemens AG Deutschland war gestern.
Zunahme der Internationalisierung
Ich bin davon überzeugt, dass beide Trends, eine vertiefte Internationalisierung wie auch die gesellschaftsrechtliche Zersplitterung, anhalten werden. Es bedarf keiner großen Phantasie, um sich vorzustellen, was für neue Herausforderungen hieraus für die Beschäftigten, insbesondere für eine gewerkschaftliche und betriebliche Interessenvertretung erwachsen. Die Mitbestimmungsrechte deutscher Betriebsrätinnen etwa dürften dem spanischen Management herzlich unbekannt sein, und tarifliche Regelungen zur Arbeitszeit werden in Texas sicher noch entschiedener als Störgrößen betrachtet als in den Münchner Vorstandsetagen.
Gut organisierte Belegschaften gegen Standortkonkurrenz
„Mit der Neuaufstellung befindet sich das Unternehmen weiter in einem Strukturwandel, der aber nicht zu Lasten der Belegschaft gehen darf“, kommentierte Birgit Steinborn, Gesamtbetriebsratsvorsitzende in der Siemens AG die neuerliche Umstrukturierung. In völliger Übereinstimmung mit den Interessen der Beschäftigten forderte sie die Unternehmensleitung auf, die Vereinbarung zur Beschäftigungs- und Standortsicherung – das so genannte Radolfzell-Abkommen –, die Tarifbindung und die betriebliche Mitbestimmung beizubehalten. Die „Betriebsratschefin … beschränke sich auf öffentliche Appelle“, beklagte ausgerechnet das manager magazin und forderte mehr Widerstand gegen die „Verdünnisierung“ der Marke Siemens. Nun machen sich die Beschäftigten allerdings mehr Sorgen um die Verdünnisierung ihrer Arbeitsplätze und guter Arbeitsbedingungen. Um beides wirksam zu verteidigen, sind angesichts der jüngsten Veränderungen gut organisierte Belegschaften notwendig, aber auch eine auf europäischer und internationaler Ebene solidarisch abgestimmte Kooperation. Dafür gibt es gute Ansätze, die jetzt mit aller Entschlossenheit weiterentwickelt werden müssen.
So hat die IG Metall mit Unterstützung des internationalen Industriegewerkschaftsverbands IndustriAll ein Rahmenabkommen mit der Siemens AG und dem Gesamtbetriebsrat abgeschlossen, das den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit mit den chinesischen Interessenvertretern ermöglicht. Im April 2013 fand in diesem Rahmen erstmals ein Treffen der Betriebsgewerkschaftsvorsitzenden der größten Siemens-Betriebe in China statt. Die Zusammenarbeit hat sich heute so gut entwickelt, dass Gespräche mit der Personalleiterin von Siemens China geführt werden über eine Rahmenvereinbarung zu Tarifverhandlungen. „Gegenseitige Unterstützung und Information wirken einem Unterbietungswettbewerb der Standorte entgegen“, erläutern die Gewerkschaftskolleg*innen ihre Anstrengungen. Dieser Ansatz muss ausgebaut werden hin zu globalen Interessenvertretungsstrukturen. Die Beschäftigten eines Global Player wie Siemens verdienen einen starken Weltbetriebsrat.
Der Standortkonkurrenz gemeinsam entgegenzutreten und dabei mit vielfältigen Aktionen die eigenen Interessen zu vertreten, hat sich auch an heimischen Standorten bewährt. Das haben die Proteste gegen die massiven Stellenstreichungen im Kraftwerksbau und in der Antriebssparte für die Öl- und Gasindustrie in diesem Jahr gezeigt. Dass beim massiven Abbauprogramm nicht auch noch ganze Standorte in Deutschland geschlossen werden, ist in erster Linie dem Widerstand der Kolleginnen und Kollegen und der IG Metall zu verdanken (siehe auch „Siemens-Beschäftigte gegen den Kahlschlag: Joe Kaeser unter Druck“). Zwar konnte der gravierende Stellenabbau nicht verhindert werden – derzeit laufen die Verhandlungen zwischen Unternehmensleitung und Gesamtbetriebsrat über den genauen Umfang noch – aber der Erhalt der Standorte ist ein demonstrativer Erfolg solidarischen Zusammenhalts.
Isa Paape ist Vertrauensfrau und Betriebsrätin am Siemens-Standort Erlangen Süd