Der „Weltungleichheitsbericht 2018“ von Piketty, Alvaredo und anderen: Die „soziale Frage“ ist global und sie wird immer dringlicher

Dem neuen World Inequality Report ist ein Motto Thomas Pikettys vorangestellt: „Ungleichheit ist immer dann ein Problem, wenn sie exzessiv wird.“ Und exzessiv schwellen die Ungleichheiten von Einkommen und Vermögen global wie in den einzelnen Regionen und Nationen an. Das oberste 1% der Einkommensbezieher hat seit 1980 weltweit doppelt so stark vom Wachstum profitiert wie die unteren 50% der Weltbevölkerung. Dennoch sind die Einkommen dieser ärmeren Hälfte vor allem dank des hohen Wachstums besonders in China und Indien deutlich gestiegen. Personen mit einem Einkommen zwischen den weltweit unteren 50% und dem oberen 1% erlebten ein schleppendes Einkommenswachstum und sogar ein Nullwachstum – zu dieser Gruppe zählen alle unteren und mittleren Einkommensgruppen in Nordamerika und Europa. Der Anteil des weltweit obersten 1% am Gesamteinkommen stieg zwischen 1980 und 2016 von 16 auf 22%. Die weltweit unteren 50% erzielen seit 1980 rund 9%[1].

Die Einkommensungleichheit entwickelt sich innerhalb der einzelnen Regionen in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Im „Westen“ weisen die USA heute mit Abstand die größte soziale Ungleichheit auf. Noch 1980 erzielte das oberste 1% der Einkommensbezieher sowohl in Nordamerika wie in Westeuropa knapp 10% des Gesamteinkommens. In Westeuropa stieg er seitdem leicht auf 12%, in den USA schoss er auf 20% empor. In derselben Zeit sank der Anteil der unteren 50% der USA von gut 20 auf 13%[2].

Klassifiziert man die einzelnen Regionen nach dem Anteil der oberen 10% am Gesamteinkommen, kommt man auf folgende Liste:

Europa 37%
China 41%
Russland 40%
USA/Kanada 47%
Subsahara-Afrika 54%
Brasilien 55%
Indien 55%
Naher Osten 61%
Quelle[3]

In Europa stieg der Anteil der Top-10 von 1980 bis 2016 von 33 auf 37%; in China von 28 auf 41%; in Russland von 21 auf 40%; in USA/Kanada von 34 auf 47%; in Indien von 31 auf 55%. Es bestätigt sich die relativ langsamere Zunahme der Ungleichheit in Europa; die große Zuspitzung in Nordamerika; die scharfe Vertiefung der sozialen Ungleichheit in Russland, die etwas geringere, aber doch erhebliche Zunahme der Spaltung in China und Indien.

Gegen den Befund des Piketty-Teams einer wachsenden sozialen Ungleichheit läuft die neoliberale Publizistik Sturm. Im Handelsblatt weisen ifo-Chef Clemens Fuest und Andreas Peichl die Schlussfolgerungen jedenfalls für Deutschland zurück. Deutschland sei „ein Land mit moderater Einkommensungleichheit und einem stark ausgebauten Sozialstaat, das viel Geld umverteilt“. Diesem neoliberalen Propagandasatz stehen die Fakten entgegen: seit 1983 hat sich der Einkommensanteil des obersten 1% in Deutschland um 33% erhöht, der der unteren 90% um 12% verringert[4].

Die Kernaussagen des Ungleichheitsberichts gelten mithin für den Exportüberschuss-Weltmeister Deutschland genauso wie für die globale Wirtschaft. Dass sich das oberste 0,1% der Einkommensverteilung seit 1980 einen genauso großen Anteil am globalen Einkommenszuwachs gesichert hat wie die untere Hälfte der erwachsenen Weltbevölkerung, wirft nicht nur Fragen der Nachfrageentwicklung auf, sondern vor allem solche der Moral, der politischen Stabilitäten und Mobilisierungen. Würden die produktiven Möglichkeiten global sinnvoll genutzt und die Ergebnisse gerecht verteilt, könnten alle Menschen ihren Anlagen und Bedürfnissen entsprechend leben, sich entfalten, einander zuwenden. Ziehen aber die Reichen und Super-Reichen immer mehr des Einkommens an sich, dann wird das absolute und das relative Elend der zahlreichen Armen immer größer. Das steckt letzten Endes hinter der Formel von der „wachsenden Einkommensungleichheit“.

Alvaredo, Piketty und Co. gehen anhand ihrer Langzeit-Reihen davon aus, dass die weltweite Einkommensungleichheit weiter zunimmt: den Konvergenzkräften (rasches Wirtschaftswachstum in den Schwellenländern) stehen stärkere Divergenzkräfte (zunehmende Ungleichheit in den Ländern) gegenüber[5].

Die Autoren schlagen Maßnahmen zur Verringerung der Ungleichheit vor. Erstens wiederholen sie, dass eine progressive Besteuerung der Einkommen ein Mittel im Kampf gegen eine wachsende Einkommens- und Vermögensungleichheit ist. Umso schwerwiegender, dass die Steuerprogressivität seit den 1970er Jahren in den reichen Ländern deutlich verringert worden ist.

Zweitens soll es um die Bekämpfung der Steuervermeidung gehen. Gegenwärtig liegen in Steuerparadiesen Vermögen mit einem Wert von mehr als 10% des globalen BIP. Diese Offshore-Vermögen wachsen seit den 1970er Jahren deutlich. Auch wird es immer schwieriger, die Eigentümer finanzieller Vermögenswerte zu ermitteln. Ein globales Finanzregister müsse her, in dem Eigentümer von Aktien, Anleihen und anderen finanziellen Vermögenswerten festgehalten werden.

Drittens müsse der Zugang der unteren Hälfte der Bevölkerung zu Bildung und gut bezahlten Arbeitsplätzen erleichtert werden. In den USA erhalten von 100 Kindern, deren Eltern zu den unteren 10% der Einkommensverteilung gehören, nur 20 bis 30% eine Hochschulausbildung, während der entsprechende Anteil bei Kindern, deren Eltern den oberen 10% der Verteilung angehören, bei 90% liegt. Soziale Ungleichheit vererbt sich.

Viertens verweisen Piketty und Kollegen darauf, dass Investitionen in die Zukunft immer schwerer zu finanzieren sind, weil die öffentliche Hand in den reichen Ländern verarmt ist. Die Schwarze Null ist die Gewähr für die Zuspitzung der „sozialen Frage“.

Alle Vorschläge der internationalen Experten, wie die Ungleichheit zu bekämpfen wäre, laufen auf die Frage hinaus: Wem gehört der Staat? Nach wessen Interessen wird entschieden? Er ist heute in der Hand der großen Kapitale, dem Rendite-Fundament der Super-Reichen. Maßnahmen gegen die Ungleichheit sind nur zu erwarten, wenn deren Einfluss zurückgedrängt wird. Das ist einerseits banal – andererseits aber fundamental. Die Gegenüberstellung heißt: Hie die Monopolkapitale, dort die vielen, abhängig von ihrer Arbeit.


[1] F. Alvaredo, L. Chancel, T. Piketty, E. Saaez, G. Zucman (2018): Die weltweite Ungleichheit. C.H.Beck, München, S. 19
[2] F. Alvaredo, L. Chancel, T. Piketty, E. Saaez, G. Zucman (2018): Die weltweite Ungleichheit. C.H.Beck, München, S. 15
[3] F. Alvaredo, L. Chancel, T. Piketty, E. Saaez, G. Zucman (2018): Die weltweite Ungleichheit. C.H.Beck, München, S. 14
[4] F. Alvaredo, L. Chancel, T. Piketty, E. Saaez, G. Zucman (2018): Die weltweite Ungleichheit. C.H.Beck, München, S. 161
[5] F. Alvaredo, L. Chancel, T. Piketty, E. Saaez, G. Zucman (2018): Die weltweite Ungleichheit. C.H.Beck, München, S. 435