1991, der reale Sozialismus war gerade zusammengebrochen, „nicht mit einem Knall, sondern mit einem Wispern“, zog André Gorz Bilanz und wagte einen Ausblick. Der Sartre-Jünger und Erz-Trotzkist weinte dem „irrealen Sozialismus“ keine Träne nach, sagte aber voraus, dass dem Kapitalismus seine große Krise noch bevorstehe. Der profitgerichtete Wachstumsimperativ des Kapitalismus vertrage sich nicht mit dem ökologischen Sparsamkeitsimperativ[1]. Nun haben wir die Dreifachkrise: Crash, Rezession, Pandemie. Ist der Kapitalismus in seiner großen Krise angekommen? Das Ineinandergreifen der drei Krisen – eine globale Epidemie, die Millionen Menschen ohne Ansehen von Rasse, Nationalität, Einkommen erfassen wird, an der Hunderttausende sterben werden; ein Finanz-Crash in Raten, dessen lautester Knall noch folgen wird; und eine Wirtschaftsrezession, wie sie die Welt seit der Großen Depression der 1930er Jahre nicht mehr erlebt hat – offenbart blitzartig, welche Übel für diese Krisen verantwortlich sind und was besser werden muss, um sie zu überwinden und zu verhindern, dass sie wiederkehren, womöglich noch verheerender. Wir stoßen auf Kipppunkte, wo Grundlegendes entschieden werden muss. Wir müssen Lehren ziehen aus dieser Erfahrung der Fast-Katastrophe, damit sich ihr Werk nicht doch noch vollendet.

Lehre Nummer Eins: Der Kapitalismus hat versagt – hat Marx doch recht?

In den Kapiteln von report 121 dokumentieren wir, dass und wie der Kapitalismus dieser Epoche, der Finanzkapitalismus, auf ganzer Linie versagt hat. Das Prinzip des „globalen Höchstprofits“ hat zu einer gigantischen Fehlallokation der Ressourcen geführt. Wegen der rasant wachsenden sozio-ökonomischen Ungleichheiten hat sich der Mehrwert – der Überschuss über die Kosten für Arbeit und Kapital – in den Händen von immer weniger Reichen konzentriert. Da die Profitraten im materiellen Sektor sinken, findet der Mehrwert und immer mehr Vermögen den Weg zu immer größeren Teilen in den Finanzsektor. Dort blähen die Finanzströme die Vermögenspreise auf, ohne den effektiven gesellschaftlichen Reichtum zu vergrößern. Das lange erkannte Gesetz sinkender Profitraten treibt die Vermögensbesitzer und ihre Agenten also immer mehr in den Spekulationssektor, der produktive Sektor stagniert und schrumpft schließlich[2].

Dieser Prozess lief auch diesmal ab – lange, bevor das Virus aufkam. Corona besiegelte die Rezession schließlich und hob sie nochmal eine Stufe höher.

Nach den Lehren der neoklassischen Ökonomie hätte das alles nicht passieren dürfen. Je freier der Markt, umso rationaler würden die Ressourcen eingesetzt und die Ergebnisse des Wirtschaftens verteilt, lautete der regierungsamtliche Bescheid während der letzten Jahrzehnte. TINA, There Is No Alternative, überschrieb die britische Premierministerin Thatcher ihren Kurs auf strammsten Finanzkapitalismus. Mit dem optimalen Einsatz der Ressourcen stimmte das auf fundamentale Weise nicht, wie uns die Minus-Kurven der materiellen Produktion gegenüber den Höchstpreisen von Immobilien und Aktien verraten. Die Verteilung der Ergebnisse läuft ebenso wenig ökonomisch-rational ab. Die sozialen Bedürfnisse wurden „privatisiert“, also dem Profitprinzip unterworfen, was u.a. zu dem beklagenswerten Zustand des Gesundheitssystems geführt hat, dass dessen Leistungen nur im Maß der Zahlungsfähigkeit in Anspruch genommen werden können, nicht etwa im Maß der Krankheit. Normalverdiener oder gar Arme haben schlechtere, oft gar keine Krankenversicherung. Diese Minderbemittelten darben neben den für Reichere reservierten Angeboten dahin und finden, im Fall sie leben in New York, ihren letzten Platz in Massengräbern auf Inseln vor der Stadt.

Ganze Generationen von Wissenschaftlern – Volkswirte, Soziologen, Psychologen, Historiker, Philosophen – wollten die „marxistische Kernthese, wonach das Privateigentum an Produktionsmitteln den Ursprung der sozialen Ungleichheit bildet“[3] abstreiten und widerlegen. Marx hatte in Band I des „Kapital“ formuliert: „Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. aufseiten der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital produziert.“[4] Schon Jahrzehnte früher hatte Marx im „Elend der Philosophie“, der Kritik an Proudhons „Philosophie des Elends“ festgehalten, „dass die Produktionsverhältnisse, in denen sich die Bourgeoisie bewegt, nicht einen einheitlichen, einfachen Charakter haben, sondern einen zwieschlächtigen, dass in denselben Verhältnissen, in denen der Reichtum produziert wird, auch das Elend produziert wird; dass in denselben Verhältnissen, in denen die Entwicklung der Produktivkräfte vor sich geht, sich eine Repressionskraft entwickelt; dass diese Verhältnisse den bürgerlichen Reichtum, d.h. den Reichtum der Bourgeoisklasse, nur erzeugen unter fortgesetzter Vernichtung des Reichtums einzelner Glieder dieser Klasse und unter Schaffung eines stets wachsenden Proletariats.“[5]

Die Legionen des Wissenschaftlerheeres gegen Marx werden angeführt von Max Weber, der Marx wieder zurück auf den Kopf stellen wollte, wo die Geisteswissenschaften nicht erst seit Hegel gestanden hatten. Nicht ökonomische Faktoren wie Produktionsweise und Entwicklung der Produktivkräfte seien entscheidend, sondern genau umgekehrt, es sei das religiöse und politische Bewusstsein, das Entstehung und Verlauf von Wirtschaftssystemen bedinge. So sei der Geist des Kapitalismus aus der protestantischen Ethik entstanden (Der Titel von Webers Hauptwerk: “Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus”). Die protestantische Askese habe den kapitalistischen Unternehmer geprägt wie auch die Lohnarbeiter, jeder an seinem Platz gottesfürchtig und pflichtbewusst und sparsam und auf Wachstum aus. Der Puritaner habe dieses ideale Leitbild abgegeben. Allerdings bezog Weber dies auf die frühen Kapitalisten des 16. und 17. Jahrhunderts. Heute – das Werk erschien 1905 – sei nicht mehr die protestantische Askese die treibende Kraft, aber vielleicht mobilisiere die Einsicht in die Endlichkeit der materiellen Ressourcen ähnliche Verhaltensweisen – ökonomisch-rational, sparsam, zukunftsbedacht[6].

Möglichweise würde Max Weber diese Auffassung korrigieren, da das Kapital beim Zweispalt zwischen Höchstgewinnen und Umweltschonung sich offensichtlich für den maximalen Profit entscheidet. Doch haben andere Theorien bzw. Leugnungen der verderblichen Klassenherrschaft des Kapitals längst die Puritaner-These von Max Weber ersetzt. James Burnham entwickelte eine Theorie der Manager, die anders als die bloßen Eigentümer für das Gesamtwohl des Unternehmens eintreten würden. C. Wright Mills unterschied eine Machtelite aus Führungskräften in Politik, Wirtschaft und Militär, die ihre eigene Perspektive von Wirtschaft und Politik als die prägende durchsetzen würden. Seit den Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat die Konzeption der „stakeholders“ an Bedeutung gewonnen, die letztes Jahr vom Weltwirtschaftsforum in Davos quasi als neue Ideologie eines aufgeklärten Unternehmertums inthronisiert wurde. Den shareholders, den Aktionären, werden die stakeholders entgegengesetzt. Die am Fortkommen des Unternehmens Interessierten – von den Gewerkschaften über Umweltgruppen und Kommunen bis hin zu den Eigentümern – würden für das Optimum des Allgemeinwohls sorgen. Allen diesen Versuchen, bei kapitalistischem Wirtschaften das Interesse und die Macht des Kapitals selbst kleinzuschreiben, ist die Erkenntnis von Marx und Engels entgegenzuhalten: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind.“[7]

Wer das nicht aufs erste Lesen akzeptieren will, der lese noch einmal unseren Abschnitt über Medien und Demokratie nach. Die fünf Familien, die die deutsche Medienszene – Print oder TV oder online – beherrschen, sind alle Milliardäre (1 Milliarde = 1.000 Millionen). Wessen Interessen lassen die in ihren Medien vertreten? Die der 1 % oder die der 99 %? Oder die der 0,1 %?

Lehre Nummer Zwei: Der Kern des Übels – die stets wachsende wirtschaftliche Ungleichheit

Die Wurzel des Übels ist die Ungleichheit an Einkommen und Vermögen – der Reichtum der Wenigen bedeutet die Armut der Vielen, wie eben demonstriert. Die oberen 10 % in Europa kassieren 36 % der Einkommen, in den USA sind es sogar 47 %[8]. Im Vermögen ist die Ungleichheit noch krasser. Die oberen 10 % besitzen in Europa 52 % des Privatvermögens, in den USA 74 %[9]. Der Einkommensanteil der oberen Hälfte steigt unaufhörlich, der der unteren Hälfte wird immer geringer. Am krassesten sind die Zuwächse bei den obersten 1 %.

Die Reichen haben immer mehr Geld, das sie gerne profitabel anlegen würden. Die weniger Bemittelten haben im Verhältnis zu den Reichen so geringe Anteile, dass ihre Nachfrage immer weiter zurückbleibt hinter dem Produkt, das die Wirtschaft herstellen könnte. Deshalb versuchen die Unternehmen, sich die Nachfrage des Auslands anzueignen. Die Vermögenden kaufen Aktien und Immobilien, treiben die Vermögenspreise hoch, aber investieren nicht in die reale Produktion, da ja die Nachfrage fehlt. Die unsoziale Verteilung von Einkommen und Vermögen ist sowohl die Ursache des Crashs der Finanzmärkte wie der Rezession der Realwirtschaft wie auch der gewaltigen Exportüberschüsse. Sie ist die letzte Ursache für die Krisen auf allen Ebenen. Was bedeutet, dass sie letzten Endes auch verantwortlich ist für die Tatsache, dass unsere Gesellschaft der Pandemie nicht wirksam begegnen kann. Denn die Vermarktlichung des Gesundheitswesens führte zu dessen Ausdünnung, eine rechtzeitige und umfassende medizinische Vorsorge war „zu teuer“ gewesen.

Diese Wahrheiten vertragen sich so gar nicht mit dem Anspruch, die „freie Marktwirtschaft“ schaffe die beste aller Welten. Deshalb versuchte Wissenschaft von Anfang an, den Sachverhalt zu bestreiten oder zu verschleiern. Dass die Kassierer des Mehrwerts das Oben in der Gesellschaft bilden, die Produzenten des Mehrwerts hingegen das Unten, dass die Gesellschaft somit in der Tat dem Klassenkonzept der marxschen Theorie entspricht, das sollte widerlegt werden. Dieser Aufgabe hat sich ein Großteil der Soziologie gestellt. Helmut Schelsky entwarf schon in den Fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts das Bild der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“, Oben und Unten seien überhaupt verschwunden (Schelsky). Ralf Dahrendorf wollte festgestellt haben: „Der Konflikt organisierter Interessengruppen ist vom Klassenkampf zum quasi-demokratischen Streitgespräch geworden.“[10] Jürgen Habermas sieht den „Klassenkonflikt, der mit der privatwirtschaftlichen Akkumulation in die Gesellschaft eingebaut ist, eingedämmt, umso mehr drängen Probleme in den Vordergrund, die nicht unmittelbar klassenspezifisch zurechenbare Interessenlagen verletzten.“[11] Wie sich das Muster der sozialen Ungleichheit im Spätkapitalismus geändert haben soll, verrät Habermas leider nicht[12].

Auch den Vertretern der Frankfurter Schule geht es stets um den Nachweis, dass, wie im Folgenden bei Claus Offe, der Antagonismus sozialer Klassen sich im Spätkapitalismus sozusagen in die Individuen hinein verlagert hat, eher eine Sache für den Psychiater als für den Ökonomen ist: „Der Bruch, der in den früheren Phasen der kapitalistischen Entwicklung zwischen den großen Positionsgruppen verlief, verlagert sich gleichsam in die Individuen hinein; sie sind mit Teilen ihrer Lebenstätigkeit in privilegierte Funktionsbereiche eingespannt, während andere Teile den unterprivilegierten Bereichen zugehören. Die verbleibenden Grenzen der Ungleichheit sind zudem so vieldimensional und unanschaulich, dass die in ihnen angelegten sozialen Konflikte teils durch flexible Korrektive im politischen Distributionssystem unterdrückt, teils durch das subjektive Wahrnehmungssystem der relativen Deprivation gedämpft werden können.“[13]

Diese Vorstellung, dass die Disparität von Lebensbereichen den Klassenkonflikt überlagere, muss mit der Vermarktlichung fast aller Lebensbereiche aufgegeben werden. Jetzt gilt das Prinzip, dass jeder am Leben und am Reichtum der Gesellschaft teilhaben kann, soweit er das nötige Geld hat, quer durch alle Dimensionen und Funktionsbereiche. Und er oder sie kann umso mehr zahlen, als er bei der Produktion oder der Verteilung des Mehrwerts an bevorzugter Stelle teilhat – entweder weil er/sie als Kapitalist direkt auf den Mehrwert zugreifen kann oder weil er/sie zur Funktionselite des Systems gehört und deshalb hoch entlohnt wird.


[1] Gorz, Berlin 1991
[2] Der Rückgang der Investitionen ist einmal zurückzuführen auf die zurückbleibende effektive Nachfrage – bei Marx war die Konsumtionsbeschränktheit der Massen der letzte Grund aller Krisen. Dieser Bremse auf der „Nachfrageseite“ entspricht auf der „Angebotsseite“ ein weiteres die Investitionen beschränkendes Moment: das sogenannte Solow-Residium. Die Wachstumsraten der Produktionsfaktoren Arbeit (A) und Kapital (K) führen zum Wachstum des Volkseinkommens Y. Das Wachstum von Y übersteigt aber oft die addierten Wachstumsraten von A und K. Dieses nach seinem Entdecker benannte Solowsche Residuum ist das Maß des technischen Fortschritts, der sich ausdrücken kann in technischer Innovation, aber auch in der Verbesserung von Infrastruktur, zivilen Umgangsformen u.ä. In unserem Zusammenhang bedeutet dies, dass ein gegebenes Volkseinkommen mit weniger realen Investitionen hergestellt werden kann. Mit wachsendem technischem Fortschritt kann also das Volumen an notwendigen Investitionen in die Realwirtschaft abnehmen. Vgl. Solow
[3] so Christoph Butterwegge in „Die Zerrissene Republik“, S. 43; auf die dort entwickelten Gedanken stützt sich dieser Abschnitt vor allem
[4] Karl Marx 1, 675
[5] Karl Marx 2, 141; Butterwegge, 33
[6] Butterwegge, 48
[7] Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, 46; Butterwegge, 35
[8] Piketty, 532
[9] Piketty, 536
[10] Dahrendorf, 241: Butterwegge, 81
[11] Habermas, 513
[12] Butterwegge, 99
[13] Offe, 104; Butterwegge, 94f

Bei dem Artikel handelt es sich um einen Auszug aus isw-report 121.