Astroturfing. In den USA ist dieser Begriff unter Bürgerprotestlern gut bekannt. Konzerne oder staatliche Akteure imitieren Graswurzelinitiativen, um ihre Interessen durchzusetzen.

Das heißt, Graswurzelbewegung ohne Wurzel – oder besser Informationspolitik, die wirtschafts- und konzernverwurzelt ist. Im deutschsprachigen Raum sagt Astroturfing kaum jemandem etwas. Weder in der wissenschaftlichen Gemeinschaft noch in der breiteren Öffentlichkeit ist das Thema angekommen. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Astroturfing in der Bundesrepublik – im Gegensatz zu den USA – immer noch relativ selten ist, was aber nicht bedeutet, dass es das Phänomen hier nicht gibt. Im Jahr 2016 nahm sich die Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) dem Thema an. Auf einer Tagung wurde gefragt, was passiert, „Wenn Konzerne den Protest managen“? 20 ReferentInnen und 170 TeilnehmerInnen, ein Beweis dafür, dass das Thema auch in Deutschland zieht.

Hierzulande gilt das Interesse allerdings mehr der Inszenierung falscher Tatsachen durch „Fake-News“ oder „Social-Bots“. Durch deren Analyse sollen vermeintlich irrationale Proteste verärgerter Bürger oder die Zersplitterung bürgerlicher Öffentlichkeit erklärt werden. Allerdings kratzen diese Ansätze bei genauer Betrachtung nur an der Oberfläche. „Der Aufwand, der zur Erzeugung von Trugbildern mit Fake-News und Social-Bots betrieben wird”, schrieb Alexander Hummel 2018 in seiner Masterarbeit zum Thema, „potenziert sich im Falle des Astroturfing”. Als „Sozialtechnik zur Manipulation von Öffentlichkeit“ sei Astroturfing zentral, um zu verstehen, warum (auch in Deutschland) politischen Auseinandersetzungen vermehrt wirtschaftsgetriebene Argumente zugrunde liegen.

Vor allem in den USA kann die aktuelle politische Situation nicht ohne die Inbezugnahme auf Astroturfing verstanden werden. Denn die Frage, warum rechtskonservative Gruppen so argumentieren und handeln, wie sie es denn tun, muss auch als Folge einer Informationslandschaft verstanden werden, die durch privatwirtschaftliche Interessen bestimmt wird. Das betrifft die Medienlandschaft allgemein (also Presse, Rundfunk, Fernsehen und Online-Angebote, die alle in privater Hand liegen), wie auch rechtskonservativ militaristische, vermeintlich unabhängige Protestbewegungen. Diese suggerieren Druck „von unten“, dienen aber zur Durchsetzung wirtschaftlicher Ziele „von oben“. Hier wirkt Corona als Katalysator für Gesellschaftskämpfe, bei denen Menschen auf Grundlage ökonomischer, ethnischer und politischer Zugehörigkeiten, Ungleichheiten und Abhängigkeiten gegeneinander ausgespielt werden.

Astroturfing: Was ist das?

Bereits in den 1950er Jahren wurde Astroturfing von US-amerikanischen Firmen als Methode der politischen Einflussnahme genutzt. Der Begriff wurde erstmals 1985 durch den US-amerikanischen Senator Lloyd Bentsen verwendet. Damit beschrieb er die Briefflut, die ihn von vermeintlich einzelnen BürgerInnen erreichten, die aber alle auf ein gemeinsames Interesse hindeuteten. Bis dahin war Astroturf nur als Markenname für Kunstrasen bekannt. Mit der Nutzung des Begriffs wollte Lloyd verdeutlichen, dass gleich dem Kunstrasen, der flächendeckend auf blanker Erde ausgerollt wird, auch der Briefschwall, entgegen dem oberflächlichen Schein, keine Wurzeln hatte. Das verwendete Bild der fehlenden Verankerung im Erdgrund steht, laut Hummel, „auf den politisch-gesellschaftlichen Kontext übertragen also für eine fehlende Verankerung eines Anliegens unter den BürgerInnen“.

Heute wird Astroturfing als eine in der zivilgesellschaftlichen Sphäre verortete „Lobbyingstrategie“, als „Grassroots-Lobbying“ oder auch als „künstliche Bürgerinitiativen“ beschrieben. Laut Hummel meint Astroturfing „in Bezug auf ihre UrheberInnen intransparente Initiativen – etwa Proteste oder Organisationen – in Urheberschaft von staatlichen oder profitorientierten Akteuren, welche öffentlich einen Graswurzelcharakter imitieren, um so den Interessen der UrheberInnen zu nützen“. Das bedeutet, die Einflussnahme erfolgt vor allem durch Öffentlichkeitsarbeit, was, laut RLS, einen indirekten Lobbyismus darstellt. Im Gegensatz zum klassischen Lobbyismus, in dem Entscheidungsträger direkt angesprochen und beeinflusst werden, wird beim Astroturfing also Druck „von unten“ erzeugt, indem die Basis imitiert oder durch wirtschaftliche oder politische Interessen gestärkt und gelenkt wird. Dabei sind die Erscheinungsformen zahlreich, teilweise kommen Begriffe aus der PR-Branche.

So werden einerseits nur solche Gruppen als Astroturf bezeichnet, die rein künstlich geschaffen wurden und keine reale Mitgliederbasis haben. In Deutschland wäre ein Beispiel hierfür die Kampagne „Meine Bahn, deine Bahn“, die sich als „Initiative“ für die Privatisierung der Deutschen Bahn aussprach, aber ausschließlich von der PR-Firma Berlinpolis im Auftrag der Deutschen Bahn AG betrieben wurde. Da der Einsatz solcher Kampagnen viel Zeit, Personal und Geld in Anspruch nimmt, findet er nur selten statt.

In den USA dient die Organisation „Americans for Prosperity“ als Beispiel. Im Namen und Auftreten kommt sie basis-demokratisch herüber, tritt aber klar für neoliberale Ziele (also gegen Steuern, staatliche Regulierungsmaßnahmen, Gewerkschaften usw.) ein. Finanziert wird sie von Charles und David Koch, bekannt als Koch Brothers, Multimilliardäre und Inhaber von Koch Industries, die ihr Geld unter anderem im Ölgeschäft machen. Teil dieser Initiative ist die Erstellung von Webseiten und Presseerklärungen, die Verbreitung von Informationen (beispielsweise die Leugnung globaler Erwärmung oder zum angeblich wachsenden Einfluss Afroamerikaner oder Homosexueller auf die US-Politik) und die Bezahlung populärer rechtkonservativer Sprecher. Nicht selten werden auch Mittel der Fälschung angewandt (z.B. von Facebook-Profilen oder Leserbriefen) oder Bezahlung (z.B. von Teilnehmenden an Demonstrationen), also Maßnahmen, die die fehlende menschliche Basis künstlich schaffen.

Schwieriger wird die Abgrenzung des Astroturfing von echten Graswurzelkampagnen, das heißt, wenn reale Menschen in die Kampagnen eingebunden sind. Dann wird abhängig von der Ausprägung und Beeinflussung wirtschaftlicher Interessen entweder von „Grassroots-Lobbying“ oder von „Astroturf-Grassroots“ gesprochen. Letzteres heißt Profis übernehmen die Regie, deren UnterstützerInnen werden gezielt rekrutiert und geschult. Ein Beispiel hier sind die Pro-Kernenergie-Initiativen: Sie wurden mit der klaren Vorgabe geschaffen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, bestanden aber aus realen, von den Zielen überzeugten Mitgliedern, die meist MitarbeiterInnen der kern-technischen Industrie waren.

„Grassroots-Lobbying“ (ein Begriff aus der PR-Industrie) bedeutet hingegen, dass ein bereits bestehendes Graswurzelkollektiv strategisch in die Argumentationsführung zur Durchsetzung eines Organisations- bzw. Unternehmensinteresses einbezogen wird. Laut RLS wird „das freiwillige Engagement der Protestierenden … genutzt, um die eigene Bürgernähe, sozialpolitische Verantwortung und die Relevanz des Protestziels zu unterstreichen“. Hier ist die Einflussnahme von Pharmafirmen auf Patienteninitiativen ein gutes Beispiel: Selbsthilfegruppen, die sich für die Unterstützung bei der Einführung neuer Medikamente einspannen lassen. In den USA veranschaulicht die 2009 entstandene Tea-Party-Bewegung das Prinzip. Anfangs libertär, zunehmend rechtspopulistisch, bediente die Bewegung anfangs Ziele rechtskonservativer Bürgergruppen, erhielt aber zeitgleich finanzielle Förderung etwa von Americans for Prosperity oder FreedomWork, ebenfalls ursprünglich gegründet von den Koch Brüdern.

Egal wie der Name lautet, alle Astroturf-Grassroots-Phänomene sind top-down strukturiert und bestrebt, den Absender der politischen und ökonomischen Forderungen zu verschleiern. Makrostrukturell geht es, laut RLS, „im Kern um die Reproduktion der ökonomischen (Macht-) Verhältnisse insgesamt“. Und auch wenn Astroturfing kein Phänomen des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist, haben sich die Möglichkeiten der Einflussnahme und Informationsverarbeitung durch digitale Technologien verändert.

Astroturfing zu Corona-Zeiten

In den USA spielt Astroturfing gerade in Corona-Zeiten eine nicht zu unterschätzende Rolle in der (Des)Information US-amerikanischer BürgerInnen. Denn um ihre Ziele zu erreichen, arbeiten verschiedene konservative Think-Tanks, politische Lobby-Gruppen und gemeinnützige Organisationen wie der American Legislative Exchange Council (ALEC), die Federalist Society, die Heritage Foundation, das von Charles Koch gegründete Cato-Institut und Americans for Prosperity zusammen. Sie tun dies hinter den Kulissen im Bemühen zur Durchsetzung der Wirtschaftsinteressen ihrer Mitglieder, zur Deregulierung von Unternehmensmacht und zur Aufrechterhaltung sozialökonomischer und rassistischer Gesellschaftsstrukturen.

Im Jahr 2019 beschrieb das Center for Constitutional Rights (CCR) beispielsweise ALEC als eine „pay-to-play“-Operation, die konservative Gesetzgeber und Unternehmenslobbyisten (unter anderem die National Riffle Association und Mitglieder der fossilen Brennstoffindustrie) zusammenbringt, um Gesetzgebungsprozesse zu beeinflussen und so „die Macht der Unternehmen und weiße Vorherrschaft aufrecht zu erhalten“. Gegründet als Reaktion auf die Aufhebung der Rassentrennung in Schulen in den 1960er Jahre, verfeinert ALEC seit mehr als 46 Jahren die Praxis der „coporate capture“ – also der unternehmerischen „Übernahme“ oder „Kaperung“ politischer Forderungen. Mittlerweile als profitables und höchst effektives Geschäftsmodell schafft ALEC nicht nur eine starke politische Plattform für die finanzmächtige Konzerne, sondern auch für Gruppen, die die breitere ideologisch konservative Basis bilden. Und während die gesetzgeberische Arbeit der Organisation die Profitinteressen ihrer Alliierten fördert, werden gleichzeitig die Rechte der armen und werktätigen Bevölkerung untergraben. Unverhältnismäßig stark betroffen sind hier ethnische Minderheiten und People of Color, denn die US-amerikanische Wirtschaft wurzelt bis heute in rassistischen Strukturen, die durch diese Interessendurchsetzung aufrechterhalten werden.

Derzeit arbeitet ALEC, im Rahmen der informellen „Save our country“ Koalition, mit anderen konservativen Gruppen, wie FreedomWorks und der Heritage Foundation, zusammen gegen staatliche Maßnahmen in der Coronakrise. Die Koalition zielt im Rahmen der Lock-Downs verschiedener Bundesstaaten vor allem auf die Wiedereröffnung der Wirtschaft. Dafür nutzt sie Mittel der Koch-Stiftung, von ExxonMobile und einer Schar wohlhabender Spender. Die Koalition suggeriert dezentralen Protest, koordiniert wird allerdings zentral. Das Ziel war und ist nicht zuletzt die Streuung „alternativer Fakten“. Das Resultat ist die Verunsicherung US-amerikanischer BürgerInnen – nicht ohne Erfolg.

„Während der ersten Monate der Covid-19-Pandemie in den Vereinigten Staaten“, schreibt New York Times-Journalistin Annalee Newitz, „wurden AmerikanerInnen mit widersprüchlichen Informationen geradezu bombardiert. Tragen Sie keine Masken! Nein, streichen Sie das – tragen Sie sie die ganze Zeit! Bleiben Sie im Haus! Gehen Sie hinaus! Lassen Sie sich testen! Lassen Sie sich nicht testen!“ Das Resultat war nicht nur Verwirrung und Angst, sondern auch das „public shaming“ (öffentliche Beschämungen) der Menschen untereinander. Das passiert nicht selten entlang rassistischer Stigmatisierungen, auch unter linksprogressiven BürgerInnen. „Wir werden ermutigt, uns gegenseitig als ‘das Problem’ zu sehen, anstatt eine unfähige Regierung, die völlig inadäquat auf eine Pandemie reagiert“, schrieb mir eine amerikanische Freundin vor kurzem. Sie ist Professorin an einer kleinen staatlichen Universität in Kalifornien, die von Studierenden der „ersten Generation“ besucht wird, also vor allem von MigranntInnen aus bildungsfernen Elternhäusern. Die Eltern, teilweise ohne offizielle Papiere, arbeiten in der Landwirtschaft, auf Feldern, in Fabriken. Sie sind weder krankenversichert, noch bekommen sie Geld für nicht erbrachte Arbeit. Sie fallen durch das Raster medialer und politischer Aufmerksamkeit und stehen ganz hinten im Covid-19-Pandemie-Schutz. Wenn sie arbeiten gehen, weil sie arbeiten müssen, krank werden und so den Virus verbreiten, wird ihnen Egoismus und Unvermögen vorgeworfen. Dabei sind sie nur die Leittragenden eines systemisch politischen Unvermögens.

„Die spinnen, die Amis?“

Trotz Corona-Proteste in Deutschland wird hierzulande das, was uns medial an Corona-Protesten aus den USA präsentiert wird, gern mit Verständnislosigkeit, Kopfschütteln und einem „Die spinnen, die Amis!“ abgetan. Mit diesen Reaktionen werden US-amerikanische Gesellschaftsverhältnisse ignoriert. Diese sind nicht nur, aber eben auch, durch eine (Fehl)Informationslandschaft und „corporate capture“ geprägt, also ausgesprochen stark von Wirtschaftsinteressen durchzogen. In Bezug auf Corona bedeutet das, dass die Frage wer welche Informationen für wessen Interessen produziert und vertreibt, alles andere als leicht zu beantworten ist. Mit der Pauschalisierung der „Staatspropaganda“, die „Hygiene-Protestler“ in Deutschland gern den öffentlich- rechtlichen Medien vorwerfen, kommt man hier nicht weiter.

Das gilt auch für scheinbar irrationale Aktionen rechtskonservativer Trump-Unterstützer, wie die militaristischen „Wiedereröffnungsproteste“ am Michigan Statehouse Ende April 2020. In den sozialen Medien zirkulierten Protestfotos einzelner Demonstranten. Sie suggerierten Unabhängigkeit und kamen als Bürgerproteste rüber, waren aber sorgfältig koordinierte Aktionen, finanziert unter anderem von den Koch Brüdern und von der Familie von Trumps Bildungsministerin Betsy DeVos. Wie bei der Tea-Party-Bewegung wurden die Anti-Lockdown-Proteste zudem durch rechtskonservative Medien begleitet, darunter Fox News. Die Idee, das Michigan Statehouse zu besetzen kam von der Virginia Citizens Defense League, einer rechtskonservativen Gruppe für Waffenrechte. So vermischten sich hier also Monopokapitalismus, politischer Elitarismus und Militarismus. Jede der involvierten Organisationen oder Gruppen war institutionell, wirtschaftlich oder politisch eng mit der Trump-Administration verknüpft. Trump twitterte dann auch seinen damals 77,4 Millionen Anhängern, es sei notwendig, die Staaten, in denen es Corona-Auflage gebe, zu „befreien“. Dabei waren zu diesem Zeitpunkt, laut der britischen Zeitung The Guardian, mehr als 65 Prozent der AmerikanerInnern für Corona-Auflagen. Ziel und strategischer Sieg dieser „Wiedereröffnungsproteste“ war das Streuen von Informationen zur Schaffung von Unsicherheit.

Dabei liefen die ursprünglichen Proteste vor dem Michigan Statehouse am 15. April 2020 ganz anders. Die Demonstrierenden, die mit ihren Autos vor das Statehouse gefahren waren, waren wegen des Verlustes ihrer Arbeit, wegen Existensbedrohung und fehlender staatlicher Unterstützung angetreten. Wenn sie nicht krank seien, meinten einige, sollten sie die Freiheit haben zu arbeiten. Diese Forderung ist mehr als verständlich. Denn wenn es trotz staatlicher Auflagen keine staatliche Unterstützung gibt, ist das Individuum auf sich gestellt, Pandemie hin oder her. Das öffentliche Gut der Gesundheit tritt dann aufgrund systemischen Versagens in den Hintergrund und bleibt ein Privileg der Besserverdiener. So verlieren letztlich auch hier Menschen gegen konzerngeleitete Interessendurchsetzung. Durch die Besetzung ihrer Proteste verschwinden sie und ihre strukturell bedingten Probleme.

Wenn wir also das nächste Mal „irre Amis“ im Fernsehen sehen, sollten wir uns fragen, wo wir unsere Information herbekommen und ob wir uns das Kopfschütteln nicht vielleicht doch ein wenig zu leicht machen.

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