Seit Mitte September 2020 demonstrieren zum ersten Mal seit seiner Wahl 2014 Bauern tagtäglich gegen Premier Modi und seine von der hindu-nationalistischen ‚Indischen Volkspartei‘ (BJP) dominierte Regierung. In ihrem Protest, bei dem Barrikaden errichtet, die Zufahrten nach Neu-Delhi gesperrt, mancherorts die Häuser regionaler Regierungschefs belagert wurden, finden sie Unterstützung u.a. nicht nur von den kommunistischen Parteien, sondern sogar von der der BJP nahestehenden Bauerngewerkschaft. Mehr noch, die Arbeitergewerkschaften schlossen sich dem Aufruf von 250 Bauernorganisationen zu einem Generalstreik am 26.11.20 an. Presseberichten zufolge nahmen landesweit 250 Millionen daran teil. Die Demonstranten fordern die Rücknahme dreier, im Sommer verabschiedeten Gesetze zur Modernisierung der Produktion und Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Während die Regierung den Bauern, einer ihrer zentralen Unterstützerbasis, eine bessere Zukunft mit größeren Erträgen und höheren Einkommen in Aussicht stellt, prognostizieren ihre Gegner ein massenhaftes Bauernsterben.

I. Inhalt und Ziel der Gesetze

Die 3 Verordnungen sind:

  1. Das Gesetz zur Förderung und Erleichterung von Handel und Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte.
  2. Das Gesetz zur Ermächtigung und zum Schutz der Bauern durch vertraglich festgelegte Preisgarantien und Dienstleistungen und
  3. Das Gesetz bzgl. lebensnotwendiger Güter.

John Neelsen: Indien im System des globalen Kapitalismus [/caption] Das Gesetzespacket beinhaltet eine Aufhebung des bisher den einzelnen Bundesländern vorbehaltenen zu Gunsten einer nationalen Vermarktung sowie eine Reduzierung von Marktmechanismen beschränkende Regularien. Die Erzeuger sollen vom Zwang, primär auf den staatlich festgelegten regionalen Getreidemärkten (Agricultural Produce Market Committee (APMC) oder Mandis ihre Produkte auf Basis von Mindestpreisen (‚MSP‘, Minimum Support Price) verkaufen zu müssen, befreit werden. (Die MSP waren ursprünglich von der britischen Kolonialregierung zur Sicherung billiger Rohstoffe für das englische Industriekapital eingeführt worden.) Produktion und Produktivität sollen gesteigert, Kapitalinvestitionen und der Einsatz moderner Technologien, inkl. Internet-Plattformen, angeregt sowie ‚contract-farming‘, d.h. vertraglich garantierte Anbau- und Ernteabnahme direkt zwischen Landwirt und Aufkäufer, erleichtert werden. Preise und Kosten sollen zudem durch die Eliminierung von Mittelsmännern bzw. Geldverleihern reduziert und durch die Ausweitung des bisher länderspezifischen, mit Verkaufssteuern belegten Agrarmarkts auf ganz Indien abgesenkt sowie angeglichen werden. Schließlich wird die Verordnung zum staatlichen Ankauf und Lagerung von ursprünglich 23 Grundnahrungsmitteln, wie Hülsenfrüchte, aufgeweicht. Sie wird auf Reis und Weizen und das Auslösekriterium ‚Notfall‘ faktisch auf den Katastrophenfall eingeschränkt. Im Prinzip wird auch hier dem privaten Marktmechanismus Vorrang vor dem Staat eingeräumt. Im Endeffekt erhofft die Regierung eine jährliche Produktionssteigerung von 4%. Man verspricht sich dadurch nicht nur eine bessere Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und der Industrie mit Rohstoffen, sondern auch potentiell höhere Exporte. Neben diesem ‚grünen‘ (Getreide, Gemüse, Obst) Teil der ‚Regenbogenrevolution’ wird auf Diversifizierung, Erweiterung und Wandel der Flächennutzung zu Gunsten vermehrter Viehhaltung (‚weiße‘) und Aquakultur (‚blaue Revolution‘) gesetzt. Schließlich werden den Erwerbstätigen in der Landwirtschaft eine Erhöhung ihrer sehr geringen Einkommen in Aussicht gestellt. „Kommodifizierung der Produktion, Marktvertiefung und -erweiterung, technologische Modernisierung, Produktivitäts- und Einkommenssteigerung“: Warum begegnen diese wachstumsorientierten Politikmaßnahmen dem stürmischen Protest von Millionen der intendierten Begünstigten?

II. Profil und Motive der Demonstranten

Unter den Millionen Protestierenden stechen vor allem folgende Gruppen hervor: 

  • Die Parzellen- und Kleinbauern mit Höfen von unter 2 Hektar. Sie stellen 86% aller landwirtschaftlichen Betriebe in Indien und bearbeiten 47% seiner Agrarfläche. Sie fürchten um ihre Verdienste bei einer Liberalisierung des Marktes.
  • Die vor den Regierungsgebäuden in Neu-Delhi demonstrieren, sind mehrheitlich moderne Landwirte aus den angrenzenden Bundesstaaten Punjab und Haryana, der Kornkammer Indiens. Dank einer industriellen Landwirtschaft auf Basis überdurchschnittlicher Betriebsgröße und moderner Betriebsmittel entfiel die Hälfte der nationalen Getreideaufkäufe in den letzten Jahren allein auf sie. Doch auch sie, die zuletzt 75-85% ihrer Ernten zu den staatlichen Mindestpreisen veräußerten, fürchten einen Preisverfall bei einer Liberalisierung.
  • Die lokalen Mittelsmänner und Geldverleiher: sie bangen um den Verlust ihrer Rolle, von Einfluss und Geld.
  • Länderregierungen: sie würden bei Abschaffung der staatlichen Ankaufsmärkte (APMC) deutlich an Macht einbüßen (der Agrarsektor war bis dato Ländersache, Steuereinnahmen Punjab 8.5%).
  • Die Leiter der APMC, d.h. vor allem Großgrundbesitzer, große Getreidehändler, Verkaufsagenten. Sie entscheiden weitgehend über Ankauf und Getreidesilos. Da aber die Silos überfüllt und nur wenig auf den Markt geworfen werden kann, um keinen Preisverfall auszulösen, haben sie großen Einfluss darauf, wessen Ernte eingekauft wird.

Es handelt sich -mit anderen Worten- um eine heterogene Gruppe. Da ist die zahlenmäßig kleine, aber reiche und politisch einflussreiche Gruppe von Nutznießern des bestehenden Systems, die von ihm über Steuern, Zinsen oder Abgaben profitieren. Ihnen gegenüber und zugleich Quelle ihres Reichtums ist vornehmlich die bäuerliche Armut aus Millionen von Parzellenbauern und Kleinlandwirten. Gerade sie gehen auf die Straße, kämpfen für den Erhalt der öffentlichen Absatzmärkte mit ihren, vor jeder Aussaat zentral für ganz Indien festgelegten Mindestpreise. Geht es bei ihnen ums Überleben, sehen viele Eigentümer moderner Agrarbetriebe einen Preisverfall und damit ihrer Einkommen als Folge einer Marktliberalisierung voraus. Sie befürchten eine Konzentration bei Großhändlern, weiterverarbeitenden Konzernen und Nahrungsmittelketten, denen sie ihrerseits als Kleinproduzenten wenig Organisations- und damit kollektives Verhandlungspotential entgegensetzen können. Eine typische Oligopsonie, wie sie die Landwirte auch in der EU kennen. Auf diesem Hintergrund wird trotz ihrer internen Widersprüche und unterschiedlichen Motive das Bündnis zwischen diesen Gruppen verständlich. Sie vertrauen den Versprechen der Regierung auf am Ende höhere Preise und Verbesserung ihres Lebensstandards nicht; sie können sich dabei auf die Erfahrungen anderer Länder stützen. So sind ihre Forderungen nach Rückkehr zum Status quo ante verständlich, gleichwohl rein defensiv und politisch restaurativ, zudem allenfalls von kurzfristiger Dauer. Denn sie bieten keine Lösung für die tiefen strukturellen, seit langem schwelenden Probleme der indischen Landwirtschaft

III. Die Reform im Licht der Probleme der Landwirtschaft

  1. Deren Hauptproblem lässt sich an zwei Kennziffern verdeutlichen. Im Vergleich zu den 27 Ländern der EU, in denen der Agrarsektor im Schnitt kaum 5% der Erwerbspersonen absorbiert und unter 3% zum BIP beiträgt, ist er in Indien für 42% oder 270 Millionen, inkl. Landarbeiter, weiterhin der wichtigste Arbeitsmarkt. Gleichwohl steuert dieser nur 15% zum BIP bei. (1, 2) Ihn kennzeichnen m.a.W. relative Überbeschäftigung im Verein mit Unterproduktion.
  2. Bei wachsender Bevölkerung und relativ gleichbleibender Agrarfläche (160 Mio. ha) bedeutet dies immer kleinere Bauernstellen, eine prozentuale Umschichtung von Bauern zu Landarbeitern, niedrige Hektarerträge, die auf das Doppelte gesteigert werden könnten, und geringe Einkommen. In der Tat schrumpft der durch-schnittliche Hof stetig und umfasst aktuell 1.08 Hektar (BRD 62 ha). Bei den Klein- und Parzellenbauern, das sind 86% der landwirtschaftlichen Erwerbstätigen, sind die Höfe durchschnittlich nur 0.6 ha groß. Zudem häufig parzelliert, sind sie in mehrfacher Hinsicht zu klein. Um als Vollzeitbauer arbeiten und eine Familie unterhalten zu können, brauchte man nämlich nach Regierungsangaben eine Betriebsgröße von 2.5 ha. Realiter geht es also um eine absolute Grundsicherung, die durch weitere Arbeitseinkommen auch zum Einkauf notwendiger Lebensmittel ergänzt werden muss.
  3. Die vermarktbare Erntemenge ist ebenso wie die Verhandlungsmacht am Markt sehr gering. Als sicherer Posten erweist sich da -zumindest im Prinzip- der APMC mit staatlichem Mindestpreis, auch wenn der Aufkauf, da vom öffentlichen Bedarf und lokaler Lagerungskapazität abhängig, nicht garantiert ist. Meist wendet man sich deshalb an den dörflichen Aufkäufer und Geldverleiher. Zwar zahlt der weit weniger als den staatlichen Mindestpreis, doch er ist ein sicherer Abnehmer und erspart den Transport zum Markt. Mehr als durch ein rein monetäres Tauschverhältnis ist man durch traditionelle, kastenvermittelte Abhängigkeit seit Generationen miteinander verbunden. So geht es auch, wenn man Geld braucht. Ohne Sicherheiten oder garantiertes Einkommen geben die Banken keinen Kredit. Da bleibt nur der Weg zum selben dörflichen Händler, der zugleich als Geldverleiher fungiert, mag der auch Wucherzinsen fordern.
  4. Die niedrigen Erträge erlauben nicht nur keine Rücklagen und keine Investitionen in ertragreicheres Saatgut oder künstliche Bewässerung. Über die Hälfte der Höfe sind vom Monsunregen abhängig, der jedoch im Zuge des Klimawandels nach Dauer und Intensität immer unvorhersehbarer wird. Die Folge ist eine Überausbeutung des Bodens mit erodierender Bodenfruchtbarkeit.
  5. Umgekehrt stellen auch die Betriebe mit künstlicher Bewässerung ein ökologisches Problem dar. Großzügige staatliche Energiesubventionen bei rudimentären Anlagen führen zu massiver, zugleich wenig effizienter Wasserentnahme mit der Folge eines stetig sinkenden Grundwasserspiegels, der die langfristige Ernährungssouveränität des Landes in Frage stellt.
  6. Zunächst aber geht es um eine grundlegende Landreform mit Konsolidierung der Böden, Eigentumsbegrenzung mit Umverteilung von Surplus- und Brachland, Aktualisierung und Verbesserung der Grundbücher, Anerkennung der Rechte von Pächtern und share-croppers.

Werden diese grundlegenden strukturellen Probleme nicht angegangen, werden keine Gewinne die Opfer aufwiegen, bleibt die Hoffnung der Regierung auf eine nachhaltige Entwicklung der Landwirtschaft illusorisch. Die Frage stellt sich, ob dies überhaupt unter privatkapitalistischen Bedingungen gelingen kann.

IV. Die Zukunft der Reform, der Landwirtschaft, des Landes

Die Strategie der Regierung beinhaltet eine sozial-ökonomische Revolution im Primärsektor als Kernbereich der peripher-kapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft. Sie zielt im Kern auf den Durchbruch und Übergang von einer perennierenden ursprünglichen zu einer kapitalistischen Akkumulation auf immer höherer Stufenleiter. Die angestrebte Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse sollte auf der Ebene der Produktionssteigerung, Marktdurchdringung und Eigentumskonsolidierung gelingen. Ganz anders sieht es dagegen für die freigesetzten Bauern aus. Sie werden die Heere der urbanen Slumbewohner und Tagelöhner im informellen Sektor auch ohne die bis 2050 prognostizierten zusätzlichen 300 Millionen dank der demographischen Entwicklung verstärken, das Ungleichgewicht und damit die Verhandlungsmacht zwischen Kapital und Arbeit, Landeigentümern und Landarbeitern weiter verschlechtern. Am Ende ist es der Mangel an außerlandwirtschaftlichen Jobs zu angemessenen Einkommen, der die Massen der bäuerlichen Bevölkerung für den Erhalt der vorkapitalistischen Produktions- und Vermarktungsverhältnissen eintreten lässt, mögen diese auch noch so ausbeuterisch sein und immer weniger das nackte Überleben sichern. Das Schicksal der Landwirtschaft, die Zukunft des Landes wird m.a.W. außerhalb des Agrarsektors entschieden. Es wird entscheidend auf die komplementäre Industrialisierungs- und -Arbeitsmarktstrategie ankommen. Gelingt diese nicht oder nur unzureichend, werden sich die sozial-ökonomischen Verhältnisse und Konflikte nicht nur im Primärsektor drastisch verschärfen. Die politischen Spannungen werden ebenso wie die Tendenz zu einer autoritären Ordnung im Verein mit internen und auswärtigen Feindbildern (hindu-nationalistisch bzw. anti-muslimisch, außenpolitisch anti-chinesisch u. anti-pakistanisch) zunehmen. Die Hauptprobleme der Landwirtschaft aber werden bleiben, sich vertiefen.