Die Schändung des Allerheiligsten

Unter schnöder Missachtung des hellenischen Sklavenhalter-Vorbilds nannten die US-Amerikaner ihren Sklavenhalterstaat seit 1776 gerne die erste Demokratie. Und das innerste Heiligtum dieser Demokratie, ihr Leuchtturm, war das Capitol, das gewaltige Gebäude in Washington, das den Kongress, Repräsentantenhaus und Senat, beherbergt. Nur die Truppen der Kolonialmacht England haben dieses Heiligtum niedergebrannt. Selbst die Konföderierten, die Südstaaten, wagten sich im Bürgerkrieg nicht an das wiederaufgebaute Areal heran. Nun aber, am 6. Januar 2021, brachen Tausende Vollbärtige, Nacktbrüstige, zum Teil in Trapperkleidung, zum Teil im Kampfanzug in die heiligen Hallen ein und platzierten Rohrbomben und Molotowcocktails, schwangen Baseballschläger und Bowie-Messer, vertrieben nach Belieben die wenigen Polizisten und machten Jagd auf Senatoren und Abgeordnete. Sie taten das auf ausdrückliches Geheiß des Präsidenten, der am 19.12.2020 getwittert hatte: „Großer Protest in D.C. am 6. Januar… go there, will be wild.“ Geht dahin, es wird wild. Mit „da“ war eben dieses Heiligtum und dieser Tag gemeint, da im Kapitol die Wahl Bidens zum Präsidenten zertifiziert werden sollte. Der 6. Januar würde, twitterte Trump, zum Tag der Entscheidung, „um Amerika zu retten“ und „den Diebstahl zu stoppen“. Es ging um den „Diebstahl“ von 11.000 Wählerstimmen in Georgia und Millionen Stimmen in vielen Bundesländern, denn Biden lag mit drei Millionen Stimmen vorne. Alle Gerichte hatten Trumps haltlose Vorwürfe und Anklagen zurückgewiesen. Nun wollte Trump seinen Sieg mit der Gewalt der Straße durchsetzen. Sein Anwalt Giuliani hatte es so formuliert: trial by combat, Gerichtsprozess durch Kampf. Trump und die Seinen pfiffen auf Rechtsstaatlichkeit und kündigten an, sie würden zur blanken Gewalt übergehen. Als die Massen am 6. Januar in Washington ankamen, marschierten sie als erstes zum Weißen Haus, wo sie der Noch- Hausherr freudig empfing. 70 Minuten sprach er zu seinen Truppen. Trump feuerte sie an – „Unser Land hat genug. Wir werden das nicht mehr hinnehmen“ – und forderte sie dann auf, die Pennsylvania Avenue hinunter zu laufen, um den dort den offenbar schwächelnden Abgeordneten und Senatoren, „den Stolz und die Kühnheit zu verleihen, die sie brauchen, um unser Land zurückzunehmen“. Als der Mob feststeckte und Trump ihn schließlich bat, das Kapitol zu verlassen, fügte er tröstend hinzu: „Wir lieben Euch. Ihr seid etwas Besonderes. (Spiegel, 9.1.2020, SZ, 7.1.2020, US-Agenturen) Ein Stück weit ist dem Mob sogar gelungen, Trumps Auftrag zu erfüllen. Zwei Drittel der republikanischen Abgeordneten stimmten gegen die Zertifizierung von Bidens Wahlsieg.

Frage Nr. 1. Wo war die Polizei?

Der versuchte Staatsstreich der Trump-Anhänger war von langer Hand geplant und er war allen bekannt. Im isw-Newsletter Ende Oktober 2020 hatten wir daraufhin gewiesen, dass sich die fünf Millionen NRA (National Rifle Association)-Mitglieder in den USA frisch bewaffnet hatten. Im Juni des Jahres waren 1,7 Millionen Kurzwaffen und fast eine Million Langwaffen neu erworben worden. Unser Fazit damals: Das ganze Land hat sich auf einen Waffengang vorbereitet. Das wussten auch die sogenannten Ordnungskräfte und Trump hatte ihnen auch den genauen Tag und Ort vorgesagt: der 6. Januar 2021, im Kapitol in Washington. An diesem 6. Januar standen Tausenden randalierenden Mobstern aber nur ein paar Handvoll der 2.300 Mann und Frau starken US Capitol Police gegenüber, die mit den Eindringlern eher Selfies knipsten und freundliche Grüße austauschten, als dass sie sich ihnen militant entgegenstellte. Weder von Polizeihunden noch von Beamten auf Pferden war den ganzen Tag und die ganze Nacht etwas zu sehen. Erst nach Stunden wurde Hilfe angefragt von Stadt- und Bundespolizei, die nur langsam und in kleinen Dosen eintraf. Die drei bisherigen Köpfe der Capitol Police mussten ihren Hut nehmen, aber die Frage ist immer noch offen, wie konnte es zu diesem Totalversagen kommen? Noch im Juni 2020 war die Stadt im Meer von Polizei und Nationalgarde schier ertrunken, beim Staatsstreich diesmal wies die Polizei den Aufständischen eher den Weg. Wer das kühle Lächeln des geschassten Chefs der Kapitol-Polizei sah – er bleibt dabei, man habe sich angemessen vorbereitet – der ahnt, dass die Polizei sich zum Handlanger des Coups gemacht haben könnte. Dafür gibt es zwei Gründe:

  1. Die Polizei sympathisierte mit den Putschisten. Nicht unbedingt bis zum letzten möglichen Waffengang, aber im noch zu kontrollierenden Maße sollte der Mob sein Zeichen setzen, sollte die Welt erfahren, das „andere Amerika“ steht jenseits von New York Times und CNN, hat vielmehr Sympathien für den einsamen Kämpfer im Weißen Haus.
  2. Ganz entgegengesetzt könnten die Chefs des „deep state“, die oberen Ränge der Ministerien, das FBI, die „Ordnungskräfte“ insgesamt, dem Trumpschen Irrsinn seinen Lauf gelassen haben, um ihn endgültig zu diskreditieren. Sie wussten, sie würden den dilettantischen Sturmlauf des Mobs nach Bedarf einfangen, aber Trumps Ansehen bei der Mehrzahl der US-Bürger wäre ein für alle Mal dahin.

Plausibel erscheint auch die These, dass die beiden Motive und Kräfte sich ergänzten: die Strategen in den Chefsesseln wollen, dass Trump sich ein für alle Mal disqualifiziert, in den Mannschaften hingegen sympathisieren manche mit der elitenfeindlichen Haltung Trumps.

Frage Nr. 2: Wieviel Amerika steckt in dem Mob?

Während US-Kommentatoren unentwegt auf das „bessere Amerika“ weisen, das nichts zu habe mit den unzivilisierten Trump-Horden, kommentiert die Süddeutsche Zeitung harsch: „Die Behauptung, der Mob im Kapitol zeige nicht das wahre Amerika, ist falsch. Millionen Menschen im Land denken ähnlich. Die Seele der Vereinigten Staaten ist vergiftet. Das Land ist kaputt.“ Selbst die Kommunistische Partei der USA geht mit ihrem Land gnädiger um. Dort heißt es, an die Propagandisten des „Das- ist-nicht-Amerika“ gewandt: „Aber wenn wir die Demokratie nicht verteidigen, ist es das, was wir werden könnten: eine faschistische Nation.“ Einen Weg aus der miserablen Verfassung des Landes hätten die Wähler in Georgia gezeigt, die in den Nachwahlen vom 5.1.2021 in Rekordzahl zu den Wahlen gingen und zwei Demokraten in den Senat wählten, womit auch der Senat – wie schon das Repräsentantenhaus – eine Biden-Harris-Mehrheit aufweist. Die Kommunisten der USA sehen die Lage wohl klarer als die Süddeutsche Zeitung. In den USA stehen sich tatsächlich zwei in politischen Grundwerten und in aktuellen Tagesfragen völlig verschiedene Lager gegenüber. Diese Lager haben sich im Lauf der letzten Jahre in den beiden Parteien manifestiert. Ihre Gegnerschaft empfinden sie als prinzipiell. 80 % der Demokraten und 77 % der Republikaner sind der Überzeugung, dass sie mit der Gegenseite in den amerikanischen Grundwerten völlig verschiedener Meinung sind. Das setzt sich fort in den aktuellen politischen Fragen. Während für 68 % der Demokraten der Klimawandel „sehr wichtig“ ist, rangiert er bei den Republikanern als letztes der zwölf nachgefragten Themen (11 %). Diese Konfrontation findet sich bei vielen weiteren „issues“: So hielten 82 % der Biden-Wähler den Umgang mit der Corona-Pandemie für sehr wichtig, und nur 24 % der Trump-Wählen sehen das so. In der Frage rassischer Ungleichheit und der Einschätzung der Polizei wiederholt sich der krasse Unterschied: eine Mehrheit der Republikaner findet Rassismus und Polizeibrutalität eher als wenig vorhanden, eine Mehrheit der Demokraten sieht darin große Probleme. Diese Unterschiede korrelieren mit Unterschieden in Ausbildung und Einkommen. Die Demokraten sind überwiegend College-Abgänger, die Republikaner überwiegend ohne Hochschulausbildung; Demokraten haben höhere Einkommen, bei den Republikanern sammeln sich hinter dem Milliardärs-Populisten Trump die Verlierer von Globalisierung und Digitalisierung (1, 2). Doch ist die Wahl von Biden-Harris wirklich ein Schritt auf dem Weg heraus aus dem Elend der US-Gesellschaft?

Frage Nr. 3: Wohin führen Biden-Harris?

Tatsächlich ist es sehr die Frage, ob Biden-Harris imstande sind, die Demokratiedefizite und die empörende soziale Ungleichheit in den USA und damit die systemischen Ursachen des aufkommenden Faschismus abzubauen. Im letzten TV-Duell vor der Wahl gelang es Trump, Biden als Teil des Obama-Systems vorzuführen, das die soziale Ungerechtigkeit im Land sogar vertiefte. Womit er die Fakten auf seiner Seite hatte. Als Biden sagte, es gäbe systemischen Rassismus, konnte ihm Trump mit der Frage in die Parade fahren, warum er denn, acht Jahre im Vizepräsidentenamt, nichts getan hätte, um diesen strukturellen Rassismus zurückzudrängen. Stattdessen hätte er die Schwarzen „super predators“ genannt, Super-Raubtiere. Biden musste ihm die Antwort schuldig bleiben. Und so könnte es dem gesamte Biden-Harris-Team gehen, das im Wesentlichen ein neu aufgelegtes Obama-Team ist. Antony Blinken, früher enger Obama-Berater, wird Außenminister werden. Die Zeit von einem Regierungsamt zum anderen hat er als Mitarbeiter von WestExec Advisors überbrückt, die unter anderen Facebook, Microsoft, FedEx, AT&T und Boeing beraten. 1,2 Millionen Dollar hat Blinken dafür bekommen. Janet Yellen, zu Obama-Zeiten Fed-Chefin, hat 7 Millionen $ für Vorträge bei WallStreet-Firmen erhalten. Nun wird sie Finanzministerin. Die WallStreet ist noch durch weitere wichtige Personen vertreten. Der bisherige „global chief investment strategist“ von BlackRock, Michael Pyne, früher in der Obama-Regierung, wird Chef-Wirtschaftsberater von Vizepräsidentin Kamala Harris. Im neuen Regierungsteam trifft er auf zwei weitere bisherige BlackRock-Topleute: Brian Deese, bei BlackRock „global head of sustainable investing“, ist der „national economic director“ von Präsident Biden; und Wally Adeyemo, bisher Stabschef von BackRock-Boss Larry Fink, wird jetzt der Stellvertreter von Finanzministerin Yellen. Bei Trump ist den Kapitalgewaltigen der Schrecken in die Glieder gefahren. Er war zuletzt mehr gefährlich als nützlich. Diesem Politiker-Typ hat Bertolt Brecht im „Arturo Ui“ ein zeitloses Denkmal gesetzt:

„So was hätt‘ einmal fast die Welt regiert! Die Völker wurden seiner Herr, jedoch Dass keiner uns zu früh da triumphiert – Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“

Diesmal waren es nicht die Völker, die seiner Herr wurden. Es war der Größenwahn eines Mannes, der im Weißen Haus die Haftung mit der Realität verlor und von einem jederzeit übermächtigen Apparat politisch aus dem Verkehr gezogen wurde. Wer dies für die Stabilität der demokratischen Institutionen hält, mag sich für den Moment besser fühlen. Im Recht ist er oder sie nicht. Der Faschismus wurde diesmal gestoppt von den Einrichtungen, die ihn zuvor erst bedeutsam werden ließen – von Polizei und Geheimdiensten und einem Kongress, der erst im letzten Moment Biden als Präsident bestätigte – und, hier liegt der einzige wirklich demokratische Plus-Faktor, von den Wählern in Georgia, die zwei Tage zuvor in Rekordzahlen Trump-Gefolgsleute abwählten und Demokraten in den Senat schickten. Ob die Arbeit der Biden-Harris-Mannschaft das – die Kräfte der Demokratie und der sozialen Gleichheit zu stärken - auch zuwege bringt, ist zu bezweifeln. Das Biden-Harris-Team ist eine hochqualifizierte Truppe von Spezialisten der Obama-Regierung, von WallStreet und Silicon Valley. Es ist niemand vom linken Flügel der Demokratischen Partei vertreten, der die Demokratisierung der Wirtschaft und eine nivellierte Verteilung der Einkommen fordert. Schlechte Aussichten für Gleichheit und Demokratie.