Für eine bedarfsgerechten Mobilität wird eine breite Palette an Verkehrsmitteln benötigt, die sozial gerecht den vielfältigen Motiven für Mobilität in Beruf Freizeit und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben entsprechen. Dabei kommt den öffentlichen Verkehrsmitten Bus und Bahn aus Gründen der Umweltverträglichkeit und der Zugangsmöglichkeit sowohl in städtischen als auch in ländlich strukturierten Regionen in Deutschland eine Schlüsselrolle zu. Die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs grundsätzlich umzudrehen, ist Gegenstand eines Prozesses des langen Atems und des Mobilisierens für eine gebotene alternative Verkehrspolitik. AktivistInnen der Mobilitätswendebewegung planen im September d.J. mit einem „Kongress für transformative Mobilität – KonTraIAA“ eine Gegenveranstaltung zur Internationalen Automobilausstellung (IAA), um die inhaltliche Debatte über Ziele, Inhalte und Durchsetzungsmöglichkeiten der notwendigen Mobilitätswende voranzubringen. Für eine echte klimagerechte Mobilitätswende muss der Autoverkehr drastisch reduziert und öffentlicher Verkehr konsequent ausgebaut werden, weshalb die zu 100 Prozent konzernfreie Ausrichtung des Mobilitäts-Kongresses eine Frontstellung gegen die Macht der Automobilkonzerne bedeutet. Das Initiieren von systematischer Strukturpolitik der kurzen Wege zur Rückgewinnung von Urbanität und Lebensqualität steht dabei mit an erster Stelle.

Die Verkehrsinfrastruktur der Zukunft ist auf den Transport von Personen und Gütern auf der Schiene sowie auf gemeinschaftlich, intermodal genutzte Verkehrsmittel auszurichten. Dazu gehört ebenso eine Reaktivierung lebendiger Orte und Städte mit guter fußläufiger bzw. mit öffentlichen Verkehrsmitteln realisierbare Erreichbarkeit innerhalb eines vertretbaren Zeitraumes. Ein Zurückdrängen des Autoverkehrs zählt zu den uneingeschränkten Zielsetzungen einer nachhaltigen Verkehrspolitik. Es gibt heute schon eine Vielzahl von diskussionswürdigen anderen Möglichkeiten eines serviceorientierten Verkehrsangebotes, die als Ergänzung zum ausbaufähigen öffentlichen Verkehrsangebot (z.B. Ruf-Taxis, elektrogetriebene Sammel-Busse und Sammel-Taxis), einen Beitrag zur Verkehrsreduzierung leisten. Vor allem können dadurch die für Autos annektierten Parkflächen im städtischen Raum freigesetzt werden. Neuere Daten des statistischen Bundesamtes belegen, dass der Flächenbedarf, oder treffender ausgedrückt der Flächenfraß für eine einseitig auf den Straßenverkehr ausgerichtete Verkehrspolitik in den Städten zwölfmal so viel Platz pro beförderte Person verschlingt als der öffentliche Verkehr. Die Schiene kommt in Städten mit etwa sieben Quadratmetern pro beförderte Person aus. Für den motorisierten Individualverkehr werden dafür 100 Quadratmeter benötigt. „Der Individualverkehr mit Auto und Lkw belastet die Umwelt auch durch seinen zu großen Flächenverbrauch. Wir müssen die Zubetonierung der Landschaften stoppen. Dazu kann eine Verkehrsverlagerung von der Straße auf die Schiene einen wesentlichen Beitrag leisten. Bahn und Bus schonen nicht nur das Klima, sondern beanspruchen auch deutlich weniger Raum als andere Verkehrsträger.

Flächenverbrauch der Verkehrsmittel

Weit über ein Drittel der gesamten Siedlungs- und Verkehrsfläche wird in Deutschland durch den Verkehr beansprucht. Das stetig anwachsende Verkehrsaufkommen bewirkt ein unentwegtes Anwachsen benötigter Verkehrsfläche[1], demzufolge grundsätzlich natürliche Lebensräume weiter verlorengehen, Landschaftszerschneidungen zunehmen und vor allem die Bodenversiegelung durch die Siedlungsausdehnung ansteigt. Die Folge ist ein kontra-produktives Ansteigen des Energieverbrauchs. Eine seit Jahrzehnten fehlgeleitete Infrastrukturpolitik provoziert zudem einen weiteren Kostenanstieg für den falschen Infrastrukturausbau. Trotz einer Steigerung der Nutzungsanteile von öffentlichen Verkehrsmitteln und des Fahrrads ist das Auto nach wie vor das dominante Verkehrsmittel der Alltagsmobilität in Deutschland[2]. Der Verkehrssektor in Deutschland ist gegenwärtig größter Energieverbraucher und nach der Energiewirtschaft zweitgrößter Emittent von Treibhausgasen. Wenn es um einen nachhaltigen Beitrag zum Klimaschutz und der Erschließung von regenerativen Energiequellen geht, trifft das sprichwörtlich dicke Brett, das es für eine unmittelbar wirksame sozial-ökologische Transformation zu bohren gilt, auf den Verkehrssektor in ganz besonderem Maße zu.

Endenergieverbrauch nach Sektoren

Terrawattstunden 1990 2018
Verkehr 661 TWh 751 TWh
Industrie 827 TWh 736 TWh
Haushalte 662 TWh 636 TWh
Gewerbe, Handel, Dienstleistungen 482 TWh 375 TWh
Quelle: Umweltbundesamt: Auswertungstabelle zur Energiebilanz, 1990 -2018, Stand 10/2019

 

Der ungebrochen hohe Energieverbrauch und die nur relative Entkopplung der CO2-Emissionen vom Verkehrswachstum erfordern eine sozial-ökologische Transformation des Verkehrssektors. Der vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) entwickelte Budgetansatz rechnet vor, dass für den Zeitraum 2010 bis 2050 weltweit ein CO2-Budget aus fossilen Quellen von 750 Mrd. Tonnen CO2 verfügbar sei[3]. Bei einer gleichmäßigen Verteilung des zulässigen Budgets auf die Weltbevölkerung stünde Deutschland laut WBGU für den gesamten Zeitraum bis 2050 ein Emissionsbudget von neun Mrd. Tonnen CO2 zu, das entspricht 220 Mio. Tonnen pro Jahr. Mit gegenwärtig jährlichen CO2-Emissionen von rund 160 Mio. Tonnen werden dem privilegierten Verkehrssektor, wohlgemerkt als eine gefällige Empfehlung des Wissenschaftsbeirats, fast drei Viertel davon zugebilligt. Diese politisch-ideologisch begründete Privilegierung der Autoindustrie und der Käufer ihrer Endprodukte offenbart das erlebbare ökologische Desaster.

Insofern ist das aktuelle Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum viel zu geringen Beitrag von Deutschland zur weltweiten Emissionsreduzierung als spektakulär zu bezeichnen. Die praktizierte Budgetierung von „noch vertretbaren Mengen an CO2-Emissionen“ ist ein Konterkarieren der Begrenzung der Erderwärmung. Klimaschutzpolitik, Energieerneuerungsgesetz, Kohleausstieg und Klimaziele der Bundesregierung wirken unabgestimmt. Eine so in seinen Wesenszügen von den herrschenden Parteien ausgerichtete Ökologie-Politik gerät zur Behandlung von Symptomen mit nicht belegbaren und nachgehaltenen Regulierungsmaßnahmen. Mit Spannung sind die politischen Reaktionen und Korrektur-Maßnahmen auf das o.g. Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu erwarten. Die gegenwärtig gesellschaftsprägende Auto-Mobilität ist das ökonomisch gewollte und politisch-ideologisch sanktionierte Resultat der wachstumsgetriebenen (Über)-produktion von käuflich zu erwerbender Pkw-Mobilität.

Die Parteinahme für die Automobilkonzerne wird von den herrschenden Regierungsparteien sozusagen als Ultima Ratio mit der Gefahr des Verlustes von Arbeitsplätzen begründet. Der zwanghafte Drang zur Steigerung und Absicherung der Unternehmerprofite duldet keine Einbußen durch Kostenerhöhungen – hier thematisch bezogen auf den Ausbau von Infrastruktur und verteilungsgerechte Verkehrswegekonzepte. Das auf Privateigentum an den Produktionsmitteln basierte marktwirtschaftliche Wirtschaftssystem genügt sich selbst: „Akkumulation um der Akkumulation, Produktion um der Produktion willen.“ Der Umstand, dass auch klimaneutrale Energien zumindest mittelfristig nicht im Überfluss vorhanden sind, hat Folgen für eine Strategie zur Verkehrswende. Eine sozial-ökologisch ausgerichtete Verkehrswende geht somit elementar mit dem Ziel einher, den Energieverbrauch zu beschränken sowie den volkswirtschaftlich verbleibenden Energiebedarf mit klima-neutraler Energie zu decken. Die weltweit spürbare Corona-Pandemie liefert, trotz aller negativen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Gesundheitsversorgung, eine historisch günstige Option, gesellschaftlich schädliche Bereiche herunterzufahren und regenerative Sektoren massiv umzubauen. Es stellt sich die Frage, ob es gelingen kann, in der gegenwärtig vitalen Auseinandersetzung die Automobilproduktion zwangsläufig herunterfahren.

Ein Ende des Automobilzeitalters ist aber (noch) nicht abzusehen. Die Erreichung der Klimaziele und der sozial-ökologische Umbau von Mobilität und Verkehr gehen in der Konsequenz einher mit der Begrenzung der ausufernden Pkw-Produktion. Eine systemveränderte gesellschaftsverantwortliche Verkehrspolitik auf den Weg zu bringen, bedeutet demzufolge, sozial-ökologische Regulierungen in den Wirtschaftsmechanismus zu integrieren. Anders zu produzieren als vor der Pandemie ist „Key“ – nicht-kapitalistisches Kollektiv-Eigentum mit am Gemeinwohl ausgerichteter Planungsbeteiligung ist zu stärken. Der Anteil des Pkw an allen Personenverkehrsleistungen dürfte, ohne gravierenden, radikalen Umbau heutiger Verkehrspolitik im Jahr 2040 bei über 80 % liegen. Laut einer Prognose ist auch innerhalb der gut nächsten zehn Jahre mit steigenden Umsätzen im Automobilbereich zu rechnen. 2030 sollen durch den Absatz von Automobilen weltweit rund 3,8 Billionen US-Dollar umgesetzt werden.

Motorisierten Individualverkehr im ländlichen Raum reduzieren

Über den Erfolg einer Mobilitätswende wird aber nicht nur innerhalb der Städte entschieden. Es muss auch gelingen, die neu entstehenden Angebote verstärkt in der Fläche, also auch außerhalb der großen Zentren, verfügbar zu machen und so die Erreichbarkeit und die Mobilität von Menschen zu sichern. Auf dem Land bleibt zunächst für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung das private Auto Verkehrsmittel Nummer Eins. Es wird für die meisten Wege genutzt und erst recht für weitere Strecken. Die Arbeitsplätze befinden sich meist in der Stadt oder am Rand der Städte, was zu ausgeprägten Stadt-Land-Verflechtungen und zu einem großen Pendleraufkommen führt. Im Zusammenhang mit flexibleren Arbeits-verhältnissen und Lebenslagen hat dies immer entfernungsintensiveren Lebensstile zur Folge und führt folglich zu einem anhaltenden Verkehrswachstum. Je differenzierter die Siedlungsstruktur, desto höher der alltägliche Radius der Aktivitäten und damit die Anzahl der Personenkilometer, die zurückgelegt werden. Dieser Prozess wird durch klimaschädliche Subventionen gefördert, zum Beispiel durch die Pendlerpauschale und Steuervorteile für Dienstwagen. Die Anzahl der täglich zurückgelegten Kilometer ist in ländlichen Regionen höher als in Städten.

Öffentliche Investitionen sollten in die Umsetzung einer nachhaltigen Verkehrs- und Mobilitätsstruktur fließen[4]. So wäre eine integrierte Planung realisierbar, bei der ökonomische, ökologische und soziale Aspekte mit dem Ziel der Optimierung des Gesamtsystems ausgewogen miteinander verknüpft werden könnten. Das Verkehrswendekonzept 2030 des Verkehrsministeriums müsste eine hochwertige Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern vorsehen und von dem Gedanken geprägt sein, Zuständigkeiten und ordnungspolitische Umsetzungskompetenzen an die Orte der Auswirkungen, in Städte und Gemeinden, zu verlagern[5]. Der Marktmechanismus in den westlichen kapitalistischen Ländern ist für ökologische und soziale Fragen blind. Zur Regulierung des Verkehrssektors muss der Staat – demokratisch legitimiert – planend, steuernd und gestaltend eingreifen. Der Staat verfügt in seiner Klassenfunktion der Aufrechterhaltung der Verwertungsbedingungen des Kapitals über die finanziellen Ressourcen, um die wirtschaftliche und politischen Ordnung zu sichern. In der Ausübung der funktionalen „Verwaltung von Sachen“ nach Friedrich Engels, hier der sozial-ökologisch ausgerichteten Verkehrsregulierung, gerät der Staat in Zugzwang. Er wäre dazu in der Lage, durch staatliche Auflagen, Regulierungen für einen übermächtigen Industriezweig der Automobilproduktion und deren Zulieferindustrie klassenübergreifend die Weichen zu stellen für eine spürbar zukunftsgerechte Verkehrswende[6].


[1] isw-Report 123, Wirtschaftswachstum auf dem Prüfstand, S.35 ff [2] ebd. [3] Agora Verkehrswende: Mit der Verkehrswende die Mobilität von morgen sichern, S. 12ff [4] Winfried Wolf: Mit dem Elektroauto in die Sackgasse, Wien 2019, S. 194f; Agora Verkehrswende: Mit der Verkehrswende die Mobilität von morgen sichern, Berlin, 2017. S. 13ff [5] Peter Hennicke u.a.: Nachhaltig Mobil: eine Verkehrswende ist möglich, MEMORANDUM 2020 Kapitel, Nachhaltige Mobilität: Verkehrswende aktiv gestalten, S. 34 [6] vgl. Frank Deppe: Der Staat, Köln 2015, S. 84 und 86