Nach sechs Jahren vergleichsweise guten Wirtschaftswachstums, was einen Haushalt ohne Schuldenaufnahme (2014-2019) ermöglichte, betrug die Nettokreditaufnahme des Bundeshaushaltes als Folge von Corona im vergangenen Jahr 130,5 Mrd. € (Quote 73%). Dieses Jahr werden es wohl noch gut 100 Mrd. € mehr sein; der geplante Gesamthaushalt für 2021 liegt bei fast 548 Mrd. €. Und auch in den kommenden Jahren wird der Haushalt aller Voraussicht ohne Neuverschuldung nicht zu finanzieren sein.

Am 26. Januar 2021 hat Kanzleramtsminister Helge Braun in einem Gastbeitrag im Handelsblatt die Schuldenbremse in Frage gestellt. Sie sei „in den kommenden Jahren auch bei ansonsten strenger Ausgabendisziplin nicht einzuhalten“. Daher solle das Grundgesetz geändert werden, damit zur Abarbeitung der Corona-Krise ein „degressiver Korridor für die Neuverschuldung“ festgelegt werden könne. Brauns Intervention hat in der CDU, vor allem auf dem rechten Flügel bzw. bei der „Mittelstandsunion“, für ziemlichen Aufruhr gesorgt, denn die „schwarze Null“ gilt in der Union als sakrosankt und als eine Erfolgsstory, die die aktuelle wirtschaftspolitische Identität der Konservativen bestimmt. Hinzu kommt, dass auch die Finanzminister der SPD (Steinbrück und Scholz) im Zuge der Rechtswende dieser Partei das konservative (bzw. ordoliberale) Credo übernommen haben. Dies zeigt nur, wie sehr die beiden „Volksparteien“ ihre ursprünglichen programmatischen Inhalte geschreddert haben. Zu Ende der Ära Merkel geraten die beiden miteinander verbundenen Topoi ihrer Wirtschaftspolitik, „die schwarze Null“ und die „schwäbische Hausfrau“, wegen den multiplen Folgen der Corona-Pandemie in eine zunehmende Krise. Die Auseinandersetzung darüber wird den Bundestagswahlkampf bestimmen. Der Vertreter des Ordoliberalismus im Rat der Wirtschaftsweisen, Prof. Lars Feld vom Eucken-Institut, wurde bereits gefeuert.

In seinem hervorragenden Buch über „die Erschöpfung des deutschen Konservatismus“ schrieb der Politologe Thomas Biebricher: „In inhaltlicher Hinsicht hat sich der deutsche Konservatismus bei allen gelegentlichen symbolpolitischen Maßnahmen daher weitgehend erschöpft – mit einer großen Ausnahme. Die letzte intakte konservative Kernposition ist das Bekenntnis zur öffentlichen Haushaltsdisziplin, die innenpolitisch durch die „schwarze Null‘ versinnbildlicht wird und sich auf europäischer Ebene in einem Regime niederschlägt, das der Haushaltsdisziplin die meisten anderen wirtschaftspolitischen Ziele kategorisch unterordnet.“[1]

In einem Gastbeitrag für die Süddeutsche schrieben Stephan-Götz Richter von The Globalist und Daniel Dettling vom Institut für Zukunftspolitik: „Mit Blick auf das Erfordernis eines entschlossenen Aufbruchs zu einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Wirtschaftsstruktur erweist sich die CDU-Terminologie à la „Schwarze Null“ – oder aktuell die „Grüne Null“ – als defensiv, mutlos und inhaltsleer. Was fehlt, ist eine politische Erzählung, die mit einem überzeugenden Narrativ verbunden und mit konkreten Zielvorgaben untermauert ist.

In einem Interview mit der GEW-Zeitung „Erziehung & Wissenschaft“ (Nr. 2/21) sagte der Bremer Wirtschaftsprofessor Rudolf Hickel: „Die Schuldenbremse ist eine Katastrophe und eine Todsünde, denn sie verhindert, dass gesellschaftlich wichtige, nachhaltige Investitionen auch über Kredite finanziert werden. Sie hat den Staat gezwungen, in wichtigen Infrastrukturbereichen zu kürzen. Das sieht man ja an den Schulen, wo teilweise nicht mal mehr Reparaturen finanziert werden, geschweige denn neue Gebäude. Bei den Kommunen gibt es – durch den Druck der Null-Verschuldung bei den Ländern – einen Investitionsstau von 44 Milliarden allein bei den Schulen. Der lässt sich nur durch neue Kredite abbauen. Die Schuldenbremse ist zu einer Investitions-, ja: Zukunftsbremse geworden. Kein Unternehmen käme auf die Idee, auf Kredite für seine später rentierlichen Investitionen zu verzichten.

An anderer Stelle schreibt Rudolf Hickel: „Diese populistischen Vorurteile gegen den gestaltenden Staat werden im vorherrschenden Dogma von der Schuldenbremse massenwirksam zugespitzt. Es dominieren Irrtümer nach dem Muster der Trugschlussökonomik, die auf der Ineinssetzung einzelwirtschaftlichen Verhaltens mit der Rolle des Staates in der Gesamtwirtschaft resultieren.“[2]

„In Deutschland ist der Abbau der Neuverschuldung ohne Rücksicht auf die Aufgaben eines die Gesellschaft gestaltenden Staates seit 2011 (damals noch unter schwarz-gelb, pbk) Hauptziel der neuen Finanzpolitik. Nach recht kurzer Debatte wurde die Schuldenbremse in das Grundgesetz aufgenommen. Spiegelbildlich dazu ist die zuvor geltende ,goldene Regel‘, die im Ausmaß öffentlicher Investitionen eine Kreditaufnahme vorsah, aus dem Grundgesetz gestrichen worden.“[3] Den Ländern wurde – von konjunkturell bedingten Schwankungen der Steuereinnahmen abgesehen – eine Kreditfinanzierung komplett verboten. Nur im Falle von „Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen“ (Art. 115 GG) sind Ausnahmen möglich.

Mit dem „europäischen Fiskalpakt“ wurde der deutsche ordoliberale Ansatz mit den Maastricht-Kriterien auch auf die EU übertragen. („Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“ vom 1. Januar 2013.) Hier wurde der Anteil der strukturellen Neuverschuldung am BIP eines Mitgliedslandes von drei auf 0,5 Prozent abgesenkt.

Diese Austeritätspolitik hatte katastrophale Auswirkungen: Spanien und Italien erreichten erst 2018 wieder das Wirtschaftsniveau von 2011, und Griechenland fiel von einem BIP von etwa 300 Mrd. Euro auf heute ca. 230 Mrd. Euro (statista.com, alle vor Corona), also ein für Friedenszeiten einmaliger Verarmungsprozess. Wahrlich tolle Erfolge dieser Sparpolitik!

Wachstum und Schulden

Im Januar 2010 veröffentlichten die beiden Wirtschaftsprofessoren Carmen Reinhardt und Kenneth Rogoff einen wirkmächtigen Aufsatz „Growth in a Time of Debt“ (Wachstum im Zeitalter der Schulden), der in Deutschland (abgesehen von vielen WirtschaftswissenschaftlerInnen) vor allem von den Finanzministern Peer Steinbrück (Finanzminister 2005-2009) und Wolfgang Schäuble (Finanzminister 2009-2017) rezipiert wurde. Den AutorInnen ging es dabei vor allem um die Verschuldung der USA, die 2010 bei knapp 100% lag. („2019 erreichte sie dort 107% und dürfte Ende des Jahres bei über 130% liegen (statista.com). Die Grundthese besagt, dass bei einem Schuldenstand von über 90 Prozent – gemessen am BIP – das Wirtschaftswachstum drastisch abnimmt. StudentInnen haben nach einiger Zeit die Berechnungen der Professoren nachgeprüft und aufgezeigt, dass diese zahlreichen Fehler begangen haben, so dass die Grundthese unhaltbar ist.

Die Austeritätsideologie wurde schon unzählige Male widerlegt, steht aber – gleich einem Zombie – immer wieder von den Toten auf. „Der Grund dafür ist zum einen die verführerische Einfachheit der Idee und zum anderen die Tatsache, dass sie es konservativen Kräften erlaubt, den verhassten Wohlfahrtsstaat aus scheinbar plausiblen Gründen zurechtzustutzen. Alles in allem ist Austerität also aus drei Gründen eine gefährliche Idee: sie funktioniert nicht in der Praxis; sie lässt die Armen für die Fehler der Reichen bezahlen; und sie basiert darauf, dass der Fehlschluss von den Teilen aufs Ganze kein Problem darstellt – was in der heutigen Welt ganz eklatant falsch ist.“[4]

Die drohende Inflation

Im Umfeld der Finanz- und Bankenkrise von 2009 ff., die zu einem Wirtschaftseinbruch von 5,7 Prozent und zu einem raschen Anstieg der Neuverschuldung führte, erklang in Deutschland die alte Leier einer  drohenden Inflation. Vor gut zwanzig Jahren hat dann die Föderalismuskommission (im Rahmen der Diskussionen um den Maastrichter Vertrag) die Schuldenbremse beschlossen; ab dem 1. Januar 2011 erhielt sie Gesetzeskraft. Das Ziel der Schuldenbremse war es, langfristig tragfähige Haushalte sicherzustellen, um dem Staat à la longue einen größeren Handlungsspielraum zu sichern. Doch damals ging man von steigenden Zinsen bei (je nach Land) zwischen fünf und zehn Prozentpunkten aus – wie das in der Ära Kohl/Waigel ja auch der Fall gewesen war. Aber mittlerweile erhält der deutsche Staat noch Geld, wenn er sich an den internationalen Finanzmärkten verschuldet – die Zinsen sind für ihn negativ. Das hat nur bedingt mit der Geldpolitik der EZB zu tun, wie viele mutmaßen; tatsächlich gibt es international ein starkes Überangebot an Geld, das sichere und profitable Anlagemöglichkeiten sucht. (Das hat zu einer „asset-inflation“ geführt; Aktien und vor allem Immobilien haben sich massiv verteuert, ein Blick in die deutschen Großstädte genügt.) Der deutsche Staat (alle öffentlichen Haushalte zusammen) konnte den Rückgang der Verschuldung von über 80 auf 59 Prozent (2019) des BIP finanzieren. Dies erfolgte einerseits   durch höhere Steuereinnahmen infolge des Wirtschaftswachstums und des Exportbooms (die Schulden wuchsen sich sozusagen aus) und andererseits aber  vor allem  durch sich steigernde Zinsersparnisse. Diese betrugen (laut Deutscher Bundesbank) 2010 18,8 Mrd. €, 2011 21,6 Mrd. €, 2012 28,2 Mrd. €, 2013 41,6 Mrd. €, 2014 45,2 Mrd. €, 2015 49,2 Mrd. €, 2016 53,4 Mrd. €, 2017 55,7 Mrd. €, 2018 56,3 Mrd. € und 2019 57,9 Mrd. €. Die Ersparnis seit 2009 erreichte also eine Gesamtsumme von 435,5 Mrd. Euro!

Diverse Artikel des Grundgesetzes mussten zur Einführung der ,schwarzen Null‘ geändert werden, so der Artikel 109: „Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen.“ Den Ländern wurde eine Kreditaufnahme ganz verboten. Für den Bund wurde in Artikel 115 GG völlig willkürlich festgelegt: „Die strukturelle Neuverschuldung des Bundes darf demnach 0,35 Prozent des nominalen Bruttoinlandsproduktes nicht überschreiten.“ Allerdings gibt es eine Berücksichtigung von heftigen Konjunkturschwankungen. Mit Zustimmung des Bundestages dürfen die Kreditobergrenzen nur „im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen“, außer Kraft gesetzt werden. Dieser Passus wurde bei der Haushaltsplanung der Corona-Jahre 2020 und 2021 in Anspruch genommen. Eigentlich sind diese Bestimmungen verfassungswidrig, denn sie widersprechen dem Demokratieprinzip, wonach die Parlamente in ihren Entscheidungen souverän zu sein haben. Hier finden sich Reste von Obrigkeitsstaat.

Stoiber und Steinbrück: Die Ängste des deutschen Kleinbürgers

Am 12./13. Mai 2021 veröffentlichten Edmund Stoiber (CSU) und Peer Steinbrück (SPD), langjährige Ministerpräsidenten und Kanzlerkandidaten, nachdem sie angeblich „über Monate konferiert“ haben, in der Süddeutsche Zeitung ein gemeinsames Papier, in dem sie ein „Ende der Schuldenpolitik“ (so der Titel) einfordern. Das Papier wurde von den „üblichen Verdächtigen“, den früheren CDU-Ministerpräsidenten Günther Oettinger und Roland Koch, von Hans-Werner Sinn, Kurt Faltlhauser (früher bayerischer Finanzminister), Nikolaus von Bomhard (Münchner Rück), Paul Achleitner (Deutsche Bank), Wolfgang Reitzle (Linde) und Linda Teuteberg (bis 19. September 2020 FDP-Generalsekretärin), unterzeichnet. Auf den ersten Blick könnte die Mitarbeit von Steinbrück überraschen, doch längst reiht er sich unter die Neokonservativen ein. Im Grunde geht es angesichts der Kosten der Coronakrise um eine Neuauflage der „Agenda 2020“.

Das Hauptargument der beiden Autoren liegt in der Behauptung, die EZB würde durch ihre expansive Geldpolitik die langfristige Finanzstabilität gefährden, insbesondere weil sie die langfristige Finanzstabilität großenteils durch den Erwerb von Staatspapieren erreicht habe. Die Autoren kritisieren den „Europäischen Wiederaufbaufonds“, der zur Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie eingerichtet wurde und den sie „als riesigen Nebenhaushalt mit gesamtschuldnerischer Haftung“ bezeichnen. „Einige Mitgliedstaaten sehen darin die Gelegenheit, ihre bei Beginn der Währungsunion nicht durchsetzbaren Forderungen nach gemeinschaftlicher Haftung und umfassenden Transfersystemen voranzutreiben.“ Natürlich wird verschwiegen, dass es vor allem Deutschland und seine Satelliten waren, die sich einer weitergehenden Integration verweigert haben. Erst der Brexit und der Druck von Macron haben nun die halbherzige gemeinsame Schuldenaufnahme möglich gemacht.

Angeblich ergeben sich aus der „ultralockern Geldpolitik“ der EZB sechs massive Gefahren: für den deutschen Kleinbürger droht immer und überall die Inflation. Natürlich dürfte die Inflationsrate etwas ansteigen, weil in der Erholung der Konjunktur auch Konsumwünsche realisiert werden. Außerdem führt das kalte Frühjahr zu einem Anstieg der Energiekosten. Doch handelt es sich um ein vorübergehendes Phänomen, denn der Globalisierungsprozess verhindert aufgrund der weltweiten Konkurrenz tendenziell starke Teuerungen. Andere Autoren, so Charles Goodhart, behaupten, eine alternde Bevölkerung treibe die Löhne hoch und das führe zu Inflation – ein Argument, das auch Hans-Werner Sinn seit Jahren vertritt. Empirisch nachvollziehen lässt es sich nicht.

Das nächste neoliberale Argument von Stoiber-Steinbrück ist, die lockere Geldpolitik verführe zu einer Verfestigung von „nicht mehr wettbewerbsfähigen Strukturen“, wodurch die Anreize der Mitgliedsstaaten sinken würden, „durch strukturelle Reformen ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen“. Auch dieses Argument stammt aus der neoliberalen Mottenkiste, die die Austerität zu einer Dauereinrichtung machen möchte. Wer sich nicht so verhält, entwickelt eine „Anspruchshaltung“ an den Staat, der „alle wirtschaftlichen Risiken abzudecken“ hat. Selbstverantwortung und der „marktwirtschaftliche Auswahlprozess“ hätten dahinter zurückzutreten. Schlussfolgerung: Der Staat solle also möglichst Sozialabbau betreiben.

In der CDU/CSU wird die Gegenposition zu Stoiber-Steinbrück vor allem von Wolfgang Schäuble vertreten: „Vor allem braucht es heute den Mut, den wir in der Krise 2010 nicht hatten, um endlich zu mehr Integration in der Eurozone zu kommen. Wir dürfen die Chance nicht wieder verpassen, sondern müssen die Disruption entschlossen nützen, um über den Europäischen Aufbaufonds jetzt die Währungsunion zu einer Wirtschaftsunion auszubauen.

Ist Sparen eine deutsche Tugend?

Ich kann mich noch gut erinnern, dass zum Weltspartag ein Angestellter der Sparkasse an die Schule kam, um die mitgebrachten Spargroschen der SchülerInnen in die Sparbücher einzutragen und mitzunehmen (Sparen als nationale Pflicht: 1928 bewarb die Sparkasse den Weltspartag unter dem Motto: „Wer spart, stärkt Deutschlands Stellung in der Welt!“). Einigen ganz Eifrigen schenkte man dann den „Sparefroh“, eine Drahtfigur mit einem Pfennig als Bauch.

Bis heute ist in Deutschland die Sparquote höher als in vergleichbaren EU-Ländern. Die sog. „Bruttosparquote“ der Privathaushalte, also der Bruttosparbetrag geteilt durch das verfügbare Bruttoeinkommen, lag zwischen 2008 und 2018 bei 17,4%. In Spanien waren dies 7,8%, in Frankreich 14,5% und in Italien 11%. Auch die öffentlichen Defizite waren dort deutlich höher (95,5%, 98,1% und 134,8, jeweils 2019; statista.com).

Das Problem liegt jedoch im sog. „Sparparadox“: Wenn alle sparen, führt das zu geringerer gesellschaftlicher Nachfrage und tendenziell zu geringerem Wachstum und Wohlstand. Ein Überangebot an Waren und Dienstleistungen bei einer zu geringen Nachfrage führt aber zu Preisverfall und verschärfter Konkurrenz. Viele kleinere Anbieter machen Pleite und müssen aus dem Markt ausscheiden, wie die Corona-Krise gerade wieder im Bereich des Einzelhandels, der Gastronomie und des Tourismus zeigt. „Ein Kapitalist schlägt viele andere tot“. (Marx) Die deutschen Kapitalisten versuchen das Problem durch immer neue Exportoffensiven zu umschiffen, was zu hohen Handels- und auch Leistungsbilanz-Überschüssen gegenüber vielen anderen Ländern führt. Vor allem zwischen 2011 und 2019 lag der Überschuss auf einer historischen Rekordmarke bei zwischen sechs und neun Prozent (2018: 260 Mrd. €)! Gemeinhin wird argumentiert, dies läge an der Qualität der deutschen Produkte (Autos, Maschinen), doch in Wirklichkeit lag das am Rückgang der Importe im Gefolge der „Hartz-Reformen“ bei einer lang stagnierenden Binnen-Nachfrage.

Wie konnte das passieren? Zunächst verloren die deutschen Haushalte seit Mitte der 1990er Jahre etwa acht Prozent des gesamtwirtschaftlichen Einkommens, vor allem wegen des Anschlusses der DDR und des dadurch bedingten Fischzuges der Unternehmer. Durch die Hartz-Gesetzgebung, die zur Gewinnexplosion und vor allem der Schaffung eines breiten Niedriglohnsektors führte, konnte das Kapital sich gütlich tun. Die Kapitalisten erhöhten ihre Ausgaben nur mäßig; vor allem nahmen sie kaum Kredite in Anspruch, so dass ihre Eigenkapitalquoten stark anstiegen. Ab 2013 erniedrigten sich die Anteile (relativ!) der Privathaushalte als Folge der „schwarzen Null“, die ja für steigende Überschüsse in den Haushalten sorgte. Doch diese Überschüsse wurden nicht für höhere Investitionen genutzt; die Infrastruktur altert und verfällt immer weiter (Schulen!). Am deutlichsten wird dies in der öffentlichen Verwaltung, wo häufig sogar noch Faxe im Einsatz sind[5].

Wachstum und Schulden

Die konkrete Ausgestaltung der Schuldenbremse wurde sogar (typisch) von einem SPD-Mann vorgenommen, von Christian Kastrop, der zwischen 1989 und 2014 Beamter im Finanzministerium war und die Arbeitsgruppe leitete, die die „Schuldenbremse“ ausgestaltet hat. (Das hat eine gewisse historische Logik: 1949 bezeichnete der Labour-Schatzkanzler Stafford Cripps Forderungen nach höheren Löhnen als kurzsichtig, unfair, ignorant und möglicherweise absichtlich bösartig. Die wirtschaftlichen Prioritäten müssten lauten: Zuerst Exporte, dann Investitionen und ganz zum Schluss persönlicher Konsum. Seit Hartz IV klingt das irgendwie bekannt.) Er war es auch, der 2005 vorgeschlagen hat, die Schuldenbremse ins Koalitionsprogramm der von Angela Merkel geführten Großen Koalition zu schreiben. Im Finanzministerium glaubte man damals, eine strukturelle Neuverschuldung sei bis zu einer jährlichen Höhe von 0,5% des BIP langfristig noch tragfähig. Dahinter stand ein Bericht der EU-Kommission, in dem die Tragfähigkeit der Schulden mit der deutschen Demografie (alternde Bevölkerung) in Beziehung gesetzt wurde[6]. Doch natürlich konnte man die Folgen der Zuwanderung nach Deutschland überhaupt nicht abschätzen. Übrigens ist Kastrop danach durchaus nach oben gefallen, denn heute ist er Staatssekretär im Justizministerium.

Die 19 Finanzminister der Euro-Gruppe einigten sich Mitte März, den seit einem Jahr ausgesetzten Stabilitätspakt weiterhin, wohl auch 2022, nicht anzuwenden, um der Wirtschaft nicht zu früh die Unterstützung zu entziehen. Der Vorsitzende, der irische Finanzminister Paschal Donohoe, erklärte: „Wenn man plötzlich die Ausgaben senkt, mag das Defizit für kurze Zeit besser aussehen, aber sehr schnell wirkt sich das auf die Arbeitslosigkeit und das Einkommen der Bürger aus – mit ernsten sozialen und negativen Effekten für die Staatsverschuldung.

Die staatlichen Nettoinvestitionen (Sachvermögen) sind seit 2012 geschrumpft, im Jahr 2014 – als erstmals ein Haushaltsüberschuss erzielt wurde, sogar um 5,44 Mrd. €[7]. Auf die Bruttoinvestitionen bezogen wurden noch nicht einmal Ersatzinvestitionen im Ausmaß der Abschreibungen vollzogen. Am deutlichsten sichtbar sind diese Defizite – Corona hat sie gnadenlos aufgezeigt – im Schul- und Hochschulbereich, im Kranken- und Pflegewesen, in der Verkehrsinfrastruktur, in der Öffentlichen Verwaltung (Digitalisierung) und im ökologischen Umbau der Wirtschaft. In Bayern sind – laut einer Anfrage der SPD-Fraktion an die Staatsregierung – ein Drittel der Straßen in schlechtem Zustand, in Niederbayern sind es sogar 43 Prozent. Mit diesen Sparorgien ging auch eine Reduzierung der entsprechenden Beschäftigung einher. Die dramatische Situation in vielen Krankenhäusern und im Pflegebereich ist bekannt.

Angeblich wird ja zugunsten künftiger Generationen „gespart“, doch das ist ein Mythos. Öffentliche Kredite sind eines der wenigen staatlichen Instrumente, diese Generationen an der Finanzierung von Investitionen zu beteiligen, die auch ihnen zugutekommen. Die Steuerfinanzierung von öffentlichen Investitionen belastet ausschließlich die heutigen StererzahlerInnen. Neoliberale Ideologen reduzieren die Schuldenberge ausschließlich auf die Vererbung von Lasten, doch es werden eben nicht nur Lasten, sondern die durch die öffentlichen Investitionen entstandenen Vermögen (z.B. Infrastruktur) vererbt. Natürlich stellt sich die Frage, was mit den Vermögenstiteln (Staatsanleihen) und deren Renditen geschieht, die wahrscheinlich von der unteren Hälfte der Bevölkerung nicht erworben werden können. Dem lässt sich aber nur durch eine stärkere Besteuerung der Vermögenden entgegenwirken.


[1] Biebricher, Thomas: 2019: Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus, S. 290, Berlin (Matthes&Seitz) [2] Hickel, Rudolf 2019: Die schwarze Null, in: Marquardt, Ralf-M. (u.A.) (Hrsg.): Mythos Soziale Marktwirtschaft. Arbeit, Soziales und Kapital. Festschrift für Heinz-J. Bontrup, S. 144, Köln (Papyrossa) [3] ebd, S. 145 [4] Blyth, Mark, 2014: Wie Europa sich kaputtspart. Die gescheiterte Idee der Austeritätspolitik, S. 34, Bonn (Dietz) [5] Nachwey, Oliver, 2016: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, S. 56f Berlin (edition suhrkamp 2682) [6] vgl. auch das Kapitel 7 „Deutschland – Land der Greise“ in Hans-Werner Sinns Buch Deutschland schafft sich ab, München 2004 [7] Hickel, Rudolf 2019: Die schwarze Null, in: Marquardt, Ralf-M. (u.A.) (Hrsg.): Mythos Soziale Marktwirtschaft. Arbeit, Soziales und Kapital. Festschrift für Heinz-J. Bontrup, S. 149, Köln (Papyrossa)