Nie würde Kabul 2021 so werden wie Saigon 1975, versicherte Präsident Biden noch im Juli 2021 der US- und der Weltöffentlichkeit. In Saigon kletterten US-Botschaftsangehörige in höchster Eile die Rolltreppe hoch zum Helikopter, um nicht in letzter Sekunde dem „Vietcong“ in die Hände zu fallen. Doch Kabul wurde viel schlimmer. Am riesigen US Air Force C-130 Transporter klammerten sich Afghanen am Tragwerk fest, zogen mit in die Höhe und stürzten ab in den Tod. Drei Afghanen kamen auf diese fürchterliche Weise ums Leben. Ein Sinnbild für die Katastrophe von Afghanistan, die trotz der gleichermaßen verstörenden Bilder eine ganz andere Qualität aufweist als die Befreiungstage in Vietnam. Denn in Saigon mussten die US-Invasoren vor den nationalen Befreiungskräften die Flucht antreten. Diese von den Kommunisten führten Kräfte brachten das Land aus seiner kolonialen Misere, Vietnam ist heute eines der am schnellsten aufstrebenden Länder Asiens. In Kabul musste die Nato in schmählicher Hast das Land den Taliban überlassen, die eines garantieren: keine Demokratie, keine moderne Bildung, keine Frauenrechte, vielmehr ins Haus gesperrte Frauen, zu sexuellen und familiären Diensten verpflichtet, öffentliches Auftreten nur unter Kontrolle des Mannes. Die Schau in Kabul ist „eine Tragödie für den Feminismus“, sagt Michelle Bachelet, UN-Hochkommissarin für Menschenrechte.
Die Taliban in ihrer heutigen Stärke sind wesentlich ein Produkt der USA selbst.
1978 hatte die Demokratische Volkspartei die Macht in Afghanistan übernommen und wurde vom ersten Tag an von islamistischen Guerillas bekämpft. Die Afghanen stützten sich auf die Hilfe der Sowjetunion, was dem US-Imperialismus hier im Herzen Zentralasiens ein Dorn im Auge war. Die USA rüsteten die islamistischen Truppen auf, dirigierten sie von Pakistan aus, in Saudi-Arabien wurden sie über Jahrzehnte und Generationen hinweg zu strammen Gotteskriegern herangezogen. Die Bilder aus dem Kabul der Siebziger und Achtziger Jahre zeigen fröhliche Frauen in kurzen Röcken, als flögen sie durch Paris. Die Bildung von Frauen und Männern war modern, die Frauen gingen zur Arbeit und verwalteten ihr eigenes Geld. Die Taliban waren, als die sowjetischen Truppen das Land 1989 verließen, dank der Zuwendungen der USA die dominante Kraft der islamistischen Gruppen. Der letzte Präsident des Landes, Najibullah, wurde von ihnen in den Straßen Kabuls aufgehängt, im Land wurde der rigide Sharia-Islamismus saudischer Prägung durchgesetzt. Es blieb nicht bei den Koranschulen, das Land wurde schnell zum Hafen islamistischer Terrorgruppen, unter ihnen Osama Bin Ladens al-Qaida. Der aber biss die Hand, die die Taliban jahrzehntelang gefüttert hatte, und organisierte den Angriff auf das World Trade Center in New York an 9/11 mit den Tausenden von US-Opfern. Die Taliban weigerten sich, die Glaubensbrüder Bin Laden und Co. herauszugeben, und die USA begannen ihren weltweiten „Krieg gegen den Terror“, womit für Deutschland und die Nato der Bündnisfall gegeben war und sie tatkräftig in den Krieg miteinstiegen. Als die USA mit den Nato-Alliierten die Taliban-Ordnung in Afghanistan zusammengebombt hatten, nannten sie ihren Krieg „enduring freedom“ = dauerhafte Freiheit, und installierten in Kabul eine Marionettenregierung. Im Irak logen sie „Massenvernichtungswaffen“ herbei und bombardierten das unliebsame Regime und errichteten wieder eine ihnen genehme Verwaltung. Für Libyen konstatierten sie eine „responsibility to protect“ (Verantwortung, um zu schützen), sie sahen sich gezwungen, überall einzugreifen, wo die Menschenrechte verletzt werden. In Afghanistan kamen über 200.000 Menschen um bei der Einrichtung einer „dauerhaften Freiheit“, darunter 2500 US- und 59 deutsche Soldaten. Beim Abkommen in Doha nahm Trump 2020 die alten Fäden zu den Taliban wieder auf. Die Regierung in Kabul war ebenso wenig dabei wie die Nato-Alliierten. Es war ein Ding zwischen den alten Bekannten USA und Taliban. Die USA verpflichteten sich, binnen 14 Monaten, also bis zum Mai 2021, ihre Truppen und die der Alliierten aus Afghanistan abzuziehen. Die Taliban verpflichteten sich ihrerseits, eine kurze Waffenruhe einzuhalten. Die USA sicherten weiterhin zu, die Afghan National Security Forces (ANSF), also die afghanische Armee, zu einem „active defence stand“ zu verpflichten. Sie durften also nicht mehr selbst offensiv werden, sondern hatten Gewehr bei Fuß zuzusehen, wie in den darauffolgenden Monaten ein Richter, Polizist, Beamter, Journalist nach dem anderen von den Taliban ermordet wurden. Die Demoralisierung der afghanischen Armee und der Behördenangestellten hatten die Trump-USA mit dem Doha-Abkommen schon vorgesehen. Die Verwunderung, dass sich Armee und Verwaltung widerstandslos von den Taliban in Beschlag nehmen ließen, oder ihre Angehörigen desertieren, ist geheuchelt. Biden hat Trumps Zeitplan des Abzugs im Prinzip beibehalten, nur mit der ihm eigenen Komik den letzten Tag auf 9/11 festgelegt, den 20. Jahrestags des Attentats auf das WTC; der Beginn des „Kriegs gegen den Terror“ sollte am 20. Jahrestag mit seiner Niederlage besiegelt werden. Die Nato-Mächte hatten also noch vier Monate mehr Zeit, ihre Truppen, Organisationen und Ortskräfte aus dem Land zurückzuholen. Dennoch gaben sich alle, in Sonderheit die deutsche Regierung, überrascht über die Plötzlichkeit des Machtübergangs im Land. Der deutsche Außenminister Maas erklärte noch im Juni, er ginge nicht von einer baldigen Machtergreifung der Taliban aus. Wieso? Kannte er das Abkommen von Doha nicht? Dachte er, Biden wird den Aufenthalt der US-Truppen verlängern, obwohl Biden schon als Vizepräsident Obamas bekanntlich gegen die Verlängerung des Kriegs war? Erhofften sich die europäischen G7-Mitglieder wirklich, dass sie Biden auf der jämmerlichen Londoner Video-Tagung Ende August umstimmen und zu einem Aufschub des Abzugs der US-Truppen bewegen könnten? Wenn ja, ist das eine so abstoßende Mischung von Dilettantismus und Unverfrorenheit, dass man keine dieser Regierungen davonkommen lassen sollte – weder Macron noch Johnson noch Merkel. Sie sollten abgewählt werden, bevor sie noch größeren Schaden anrichten.
Die deutsche Politik, von Merkel bis Laschet und Söder/Seehofer, war gelähmt durch die Furcht vor einer Flüchtlingswelle wie 2015.
Nie wieder 2015, war der Tenor. CSU-Fraktionschef Alexander Dobrindt nannte seine Lösung: Die Millionen Flüchtlinge sollten in den Nachbarstaaten Afghanistans untergebracht werden, und die UN sollte Geld in diese Staaten pumpen, damit diese „die flüchtenden Menschen zumutbar unterbringen“. Die Nato sorgt mit ihren Kriegen ständig für mehr Flüchtlinge, und die EU schottet sich als Festung gegen diese Ströme in ihrer Existenz vernichteter Flüchtlinge systematisch ab und fordert das Geld der Weltgemeinschaft, um solche Außen-Bastionen zu alimentieren. Die Menschlichkeit der deutschen Christlichen Parteien ist auf einem Tiefpunkt. Und ihre Rechnung wird nicht aufgehen, denn die Nachbarn Afghanistans werden dem christlichen Wunsch nicht entsprechen. Die nördlichen Nachbarn Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan, allesamt ehemalige Sowjetrepubliken und heute vom Wohlwollen Russlands abhängig, fürchten sich wie Russland vor islamischem Terrorismus. Pakistan hat bereits Millionen afghanischer Flüchtlinge aufgenommen und wird sich in seiner instabilen Lage hüten, noch mehr aufzunehmen. Der Iran, ein schiitischer Gottesstaat, wird nicht daran denken, sunnitische Muslime aufzunehmen. China, wo der Westen gerne noch mehr islamische Widerständler sähe, wird seine Grenzen dicht machen. Die Türkei, ein recht entfernter Nachbar, hat ebenfalls schon Millionen afghanischer Flüchtlinge im Land und stößt an seine Aufnahmekapazität, egal, wie hoch die Ablösesummen der EU sein würden. Die EU hat sich einzustellen auf eine mächtige Migrationsbewegung hin an ihre Grenzen.
Wieso hat Biden darauf bestanden, endlich Schluss zu machen mit US-Truppen in Afghanistan?
Hubert Wetzel analysiert, dass Biden, ein Kind des unteren Mittelstandes, eben Middle Class Joe, die große Verbitterung in der Unterschicht der USA spürt, aus der die Tausende Tote des Krieges stammen. Im herabsinkenden Industrieproletariat ist die Attraktion der US-Army mit ihrer Besoldung und Versicherung groß. Der Millionärssohn Bush hatte es leicht, den Krieg auszurufen, aus seiner Klasse würde niemand einziehen müssen. Das „intellektuelle Wunderkind“ Obama gehört mit seinen Buch-Millionen und mit seiner Frau Michelle ebenfalls längst zu den Millionären. Biden aber lebe noch mit dem Ohr an seiner Herkunftsklasse. Das mit Bidens Ohr mag seine Richtigkeit haben. Ob ihm der Abzug aus Afghanistan aber bei der Arbeiterklasse Zustimmung bringen wird, scheint sehr zweifelhaft. Erstmals seit Amtsantritt sind weniger als die Hälfte der US-Bevölkerung zufrieden mit Bidens Amtsführung. Selbst die Zustimmungsraten zur Covid-Aktion des Präsidenten stürzen ab. Biden hatte nie die Zustimmung der unteren Mittelklasse, dort und bei denen, die Angst haben, bald dazu zu gehören, sitzt der Anhang von Trump. Bidens Wähler kommen aus dem „Smart America“, wie George Packer es nennt[1]. Gemeint sind die Fachleute des Online-Kapitalismus, mit Jahresgehältern von 150.000 Dollar und mehr, die neuen Meritokraten, die sich für die rechtmäßigen Sieger des kapitalistischen Wettbewerbs halten, aber offen sind für die Belange jeder Minderheit, der die gleichen Chancen einzuräumen sind beim Rennen um die ersten Plätze. Sie, deren Kinder keinen Armeeeinsatz irgendwo zu befürchten haben, sind von Bidens Entscheidung nicht angetan. Sie denken an die nicht mehr vorhandenen Rechte der Frauen und stimmen Biden herunter. Die untere Mittelklasse, die alten Veteranen der US-Army ziehen ganz spezielle Schlüsse aus den Vorgängen, weit hinten in Afghanistan. Sie recken ihre AR-15 in die Höhe, die für Zivile zugängliche Version eines militärischen Sturmgewehrs, und sagen, wie Hubert Wentzel berichtet: „Wir könnten es hier so machen wie die Taliban in Afghanistan.“ Der Sturm auf das Kapitol im Januar 2021 war womöglich nur ein Vorgeschmack auf das, was die bis auf die Zähne bewaffneten Milizen der Rechten in den USA noch vorhaben.
Was ist Bidens strategischer Plan?
Es wäre naiv anzunehmen, die USA würden zusehen, dass die Taliban nun mal den Krieg gewonnen hätten und jetzt unter russisch-chinesischen Einfluss geraten könnten. Im Zeitalter der Drohnenkriege brauchen die imperialistischen USA nicht unbedingt eigene Truppen im Zielland. Sie haben ihre immer präziseren Drohnenflieger und sie haben Special Forces an den Grenzen, die im Bedarfsfall sofort im Land angreifen können, so wie sie Osama Bin Laden mit Kopfschuss in Pakistan liquidiert haben. Eine zweite strategische Überlegung tritt hinzu. John Pilger hat sie schon nach dem Überfall auf Libyen 2011 formuliert: „Der europäisch-amerikanische Überfall auf Libyen hat nichts damit zu tun, dass jemand beschützt werden soll… Es ist die Antwort des Westens auf die Volkserhebungen in strategisch wichtigen und ressourcenreichen Regionen der Erde und der Beginn eines Zermürbungskrieges gegen den neuen imperialen Konkurrenten China.“ Das ist der Kern der Biden-Strategie: die Kräfte konzentrieren auf den Hauptfeind China und die Kontrolle des Rests der Welt kostengünstig und US-Leben schützend per Drohnen und Special Forces. Hoch willkommen ist die Möglichkeit, islamische Flüchtlinge aus Afghanistan in die Volksrepublik China zu schleusen, um das Problem der islamischen Uiguren im Autonomen Gebiet Xinjiang zu intensivieren. Diese werden angeblich „sinisiert“, einem „Genozid“ unterzogen, die Menschenrechtspropaganda läuft seit Jahren auf Hochtouren (a.a.O.), wie praktisch, wenn der Zorn der Gotteskrieger endlich auf den chinesischen Erzfeind gerichtet werden könnte. Der Abzug aus Afghanistan eröffnet eine neue Runde in der Dominanzstrategie der USA und ihrer Alliierten. Der Text ist das Nachwort in Conrad Schuhlers neuem Buch (erscheint Ende September): Das Neue Amerika des Joseph R. Biden. Papyrossa Verlag, Köln.
[1] George Packer: Die letzte beste Hoffnung. Hamburg 2021