Helmut Schmidt, immer vorneweg mit frecher Schnauze, nannte Russland verächtlich ein „Obervolta mit Atomraketen“. Das ist arroganter Unsinn. Russland steht nach dem Factbook der CIA in der Rangfolge der Länder nach ihrem Bruttoinlandsprodukt (BIP) hinter China, USA, Indien, Japan und Deutschland an sechster Stelle. Im Pro-Kopf-Einkommen fällt das Land auf Platz 72 zurück. Russland ist mithin kein entwickeltes Industrieland, sondern ein Schwellenland mit enorm hoher Rüstung. In der Liste der Länder mit dem höchsten Rüstungsaufkommen belegt es mit 61,7 Mrd. $ Platz Vier. Die USA liegen sternenweit vorn mit 778 Mrd $, China ist Zweiter mit 264 Mrd. $ und Indien Dritter mit 72,9 Mrd. $. An Atomraketen jedoch hat Russland mit über 6500 Stück gut 700 mehr als die USA. Entscheidend bei der Drohung Putins mit Atomraketen ist die Zweitschlagsfähigkeit Russlands, das selbst nach einem Atomangriff noch in der Lage ist, den „Gegner“ in Schutt und Asche zu legen. Das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank BOFIT meldete für Russland, dass 2021 die „Erholung von Produktion und Rohstoffpreisen ... Wirkung“ gezeigt hat. Die Ausfuhrerlöse und die Staatseinnahmen seien kräftig gestiegen. Im zweiten Quartal 2021 seien die Warenexporterlöse um fast zwei Drittel in die Höhe geschnellt. Russland ist ein Anbieter der ersten Reihe in den knapp werdenden und dringend benötigen Energierohstoffen. Deshalb ist sein Handelsbilanzüberschuss im zweiten Quartal 2021 um rund 42 % gestiegen. Die Exporterlöse sind wieder so hoch wie vor der Krise. Für das Gesamtjahr 2021 steht die Verdoppelung des Leistungsbilanzüberschusses zu Buch. Die russische Zentralbank rechnet mit einem Jahreswachstum des BIP von 4,5 %. Diese relativ günstigen wirtschaftlichen Entwicklungen mögen dazu beigetragen haben, dass Präsident Putin den waghalsigen und völkerrechtswidrigen Einmarsch des russischen Militärs in die Ukraine befahl. Er hält Russland für stark genug, den militärischen Waffengang mit der Nato zu riskieren. Damit überschätzt er seine Position gewaltig und beschwört gleichzeitig ein nukleares Inferno herauf. Der jährliche Rüstungsaufwand der USA allein ist mehr als zehnmal so stark wie der Russlands, er ist doppelt so groß wie das addierte Potential von Russland und China. Das geringe Pro-Kopf-Einkommen stellt Russland auf eine Stufe mit Malaysia und Panama. Die Wachstumsrate der Industrieproduktion war vor der Corona-Pandemie rückläufig, während diese Wachstumsraten in der Türkei bei 9,1 % liegen, bei China bei 6,1 %, bei Deutschland bei 3,3 und den USA bei 2,3 %. Russland ist industriepolitisch nicht nur bloß ein Schwellenland, es ist dabei, seine Position absolut zu verschlechtern und im Verhältnis zu seinen Konkurrenten und Partnern schnell zurückzufallen. Mit friedlichen Machtmitteln ist Russland gegenüber der Nato im Hintertreffen, und selbst mit der Hilfe Chinas kann Russland sein Ziel, ein Satrapenregime in Kiew, nicht erreichen. China ist nicht bereit, einen Kurs, der sogar den Atomkrieg ausdrücklich einschließt, mitzutragen. China betreibt eine kompromisslose Politik der friedlichen Koexistenz, die darauf beharrt, alle Konflikte politisch auszutragen, die den Krieg als Mittel der Politik ausschließt, selbst wenn es aus vordergründig „gerechtfertigten“ Gründen eingebracht wird. Ein Atomkrieg ist nie und nimmer zu rechtfertigen. China muss seinen ganzen Einfluss aufbieten, um Russland von seiner aggressiven Politik abzubringen. Die Sanktionen werden Moskau hart treffen, die großen Exportüberschüsse werden schwinden, die Importbeschränkungen werden die Modernisierung der Industrie hemmen. Putin wird auch in den Augen der eigenen Bevölkerung an Legitimation verlieren. Zwar sind die Bestände an Gold und Devisen jetzt noch enorm hoch – Russland belegt den sechsten Platz in der Weltrangliste der Länder mit solchen Schatz-Rücklagen, für die USA ist diese Liste belanglos, sie drucken den begehrten Dollar selber. Die Ex- und Importportsanktionen der Nato werden die Schätze Russlands schnell wegschmelzen lassen. China, das seine Bereitschaft zur Vermittlung erklärt hat, muss als erstes verhindern, dass Putin in einer Verschärfung des Krieges eine Lösung sieht. Für die Ukraine ist vielmehr mit der Vermittlung von China, Deutschland und Frankreich eine Lösung zu finden, die dem Volk der Ukraine seinen Staat belässt und Russland eine Sicherheitsgarantie gibt, die die Neutralität der Ukraine und ein Nein zu Atomwaffen in Europa einschließt.
Russland – mehr als „Obervolta mit Atomraketen“ – aber nicht auf Augenhöhe mit USA und Nato
- Von Conrad Schuhler
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