Ein Gespenst geht um in Frankreich. Das Gespenst einer Renaissance der Gelbwestenbewegung, die das Land 2018/19 monatelang mit Straßenblockaden und gewalttätigen Umzügen vor allem an den Wochenenden in Paris in Atem hielt. Bilder von Brandsätzen in Rathäusern und auf Avenuen auch anderer Großstädte wie Bordeaux, Lyon, Marseille, Lille oder Nancy nicht selten das Werk nächtlicher Streifzüge radikalisierter junger Leute begleitet von Großeinsätzen der Polizei gehen fast täglich durch die Medien. 

Seit Monaten rufen in seltener Einheit die acht kommunistischen und sozialdemokratischen Gewerkschaftsverbände zu immer neuen (General-)Streiks auf, denen bis zu 3 ½ Millionen Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes wie des Privatsektors folgen. Die Raffinerien mit Auswirkungen auf das Tankstellennetz werden bestreikt. Zug-, Nah- und Flugverkehr lahmgelegt. Wochenlang türmten sich die Müllsäcke auf den Straßen vor allem der Hauptstadt, entwickelten sich zum öffentlichen Gesundheitsrisiko, vertreiben Touristen, Café- und Restaurantbesucher.[1] Die ersten Gymnasien und Universitäten bleiben geschlossen. Vor allem die kommunistischen Gewerkschaften setzen vermehrt auf junge Leute in der Hoffnung auf eine noch breitere Mobilisierungswelle, um durch Massenproteste die Regierung zum Rückzug zu zwingen. Der parlamentarisch-politische Prozess ist verfassungskonform abgeschlossen, gleichwohl gehen die Unruhen weiter. Die linksextreme Partei der ‚Unbeugsamen‘ (La France Insoumise) sieht gar einen Aufstand des Volkes als Beginn einer gewaltsamen revolutionären Phase heraufziehen. 
Was ist geschehen? Steht Frankreich erneut vor einer Massenbewegung, womöglich revolutionären Wandels?

I.  Inhalt und Gesetzgebungsprozess der Rentenreform

Anlass der Bewegung, die von Anfang an den parlamentarischen Prozess begleitete, ist ein eben verabschiedetes Gesetz zur Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 64 Jahre. Das Gesetz wurde trotz wochenlanger Verhandlungen am Ende nicht von einer parlamentarischen Mehrheit beschlossen, sondern von der Regierung per Dekret in Kraft gesetzt. Als autoritär, die Grundlagen der Demokratie verletzendes Vorgehen beklagt, nährt es als weiteren Anklagepunkt den parteipolitischen wie gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Protest. Beide Anlässe gilt es zu erläutern.  

1. Das französische Rentensystem 

Die Regierung ist nicht die erste, die sich eine Reform des komplexen, vielfältigen und ungleichen Rentensystems in Frankreich vorgenommen hat. 1946 von der aus dem Widerstand hervorgegangenen provisorischen Regierung zuerst formuliert, wurden sehr weitgehende soziale Rechte, so u.a. im Bereich von Gesundheit, Wohnen, Erziehung und Altersversorgung, als verpflichtende Staatsziele 1958 sogar in die Präambel der V. Republik aufgenommen. Bis heute fest im kollektiven Bewusstsein verankert, erwiesen sich einschränkende Änderungsvorhaben immer wieder als sehr kontrovers, gaben Anlass zu Massendemonstrationen, die Regierungen nicht nur einmal zum Rückzug zwangen.                                                    

Neben der allgemeinen Rentenversicherung, die in das übergreifende staatliche ‚Soziale Sicherheitssystem‘ (sécurité sociale‘) integriert und für abhängig Beschäftigte, Selbständige in Handwerk und Handel sowie der Landwirtschaft zuständig ist, gibt es ein zweites für Beschäftigte im öffentlichen Dienst, inkl. Polizei und Militär. Von besonderer Bedeutung ist das dritte mit ursprünglich 42, heute 37 Sondersystemen oder ‚régimes spéciaux‘. In ihnen sind 7% der Erwerbsbevölkerung, vor allem der in Staatsbetrieben und öffentlichen Einrichtungen Arbeitenden, versichert. Dazu gehören die Eisenbahner, die Angestellten des Pariser ÖPNV (RATP), die Bergarbeiter und Beschäftigten bei den staatlichen Energieunternehmen EDF/GDF, die Lehrer, die Senatoren und Parlamentsabgeordneten, die Beschäftigten der Pariser Oper oder auch die Angestellten bei Notaren, um nur einige zu nennen.[2] Aktuell zählen sie 4.5 Millionen Pensionäre bei nurmehr 4.7 Mio. Beitragszahlern.[3]         

Nicht nur werden die insgesamt hoch defizitären Bilanzen der Sonderregime aus den Beiträgen der Mitglieder des allgemeinen Versicherungssystems ausgeglichen.  Darüber hinaus bestehen tiefgreifende Ungleichheiten bzgl. Rentenalter, Einzahldauer und Höhe der Renten zwischen den Angehörigen der verschiedenen Systeme. So liegt z.B. das gesetzliche Rentenalter bei Lokführern und Maschinisten der Pariser Metro nicht bei 62, sondern bei knapp 51 Jahren. Und liegt der effektive Rentenbeginn der allgemein Versicherten bei 63, gehen die übrigen Beschäftigen der Bahn (SNCF) mit 57, die der Paris ÖPVN (RATP) mit 56 und die der Gas- und Stromversorger (GDF, EDF) mit 58 in den Ruhestand. 

Kommt hinzu, dass trotz kürzerer Versicherungszeiten die Angehörigen der Spezialregime im Durchschnitt weitaus höhere Renten als die Allgemeinheit erhalten. Denn während deren Rentenhöhe auf der Basis von 50% der besten 25 Berufsjahre erfolgt, liegt die der ‚Sonderversicherten‘ bei 75% der letzten sechs Monate vor Renteneintritt.
 In der Praxis kann dies einen Unterschied von rund einem Drittel bei den monatlichen Renteneinkommen bedeuten.[4] 

Verschiedene Vorgängerregierungen, ob von Konservativen oder Sozialdemokaten geführt, hatten sich eine Abschaffung der Sonderregime und Vereinheitlichung der Rentensysteme vorgenommen. Erst unter Präsent Sarkozy (2007-2012) war die 1981 unter der Koalition aus Sozialdemokraten und Kommunisten verfügte Absenkung des Renteneintrittsalters auf 60 wieder auf 62 Jahre angehoben worden. Betroffen von der jetzt beschlossenen schritt-weisen Anhebung auf 64 Jahre bis 2030[5] sind zunächst die Mitglieder des Allgemeinen Rentensystems und damit die weit überwiegende Zahl der Erwerbspersonen vor allem des Privatsektors. Daneben enthält das Gesetz eigene Regelungen für die Angehörigen der ‚Sonderregime‘ und für besonders belastete Personengruppen.[6]

Nicht überraschend hatte die Regierung ihre Gesetzesvorlage u.a. mit ausgleichender ‚sozialer Gerechtigkeit‘ begründet. Doch wenn sie gehofft haben sollte, damit die Mehrheit der Erwerbstätigen und dabei insbesondere die des allgemeinen Versicherungssystems auf ihre Seite zu ziehen, täuschte sie sich. Rund drei Viertel der Bevölkerung lehnen Umfragen zufolge die Rentenreform als völlig unzumutbar, ungerecht, unnötig, ineffizient und brutal ab. Medien und öffentliche Meinung konzentrierten sich von Anfang an so gut wie ausschließlich auf die Verlängerung der Lebensarbeitszeit und gaben einer kritischen Debatte wenig Raum.

Exkurs: Renten in Frankreich im Vergleich zu anderen Industrieländern

Praktisch alle Industrieländer sind bzgl. ihrer Altersversorgungssysteme vor ähnliche Probleme gestellt: (1) einen demographischen Wandel charakterisiert von (a) geringen Geburten im Verein mit einem nur durch verstärkte Immigration kompensierbaren Bevölkerungsrückgang einerseits, (b) einer alternden Bevölkerung mit erhöhten Anteilen der über 65jährigen andererseits. Stellten diese 1990 im OECD-Durchschnitt nur ein Fünftel, waren es 30 Jahre später schon 30%. Dabei liegen sie in Frankreich und Deutschland mit rd. 37% nach 24% 1990 schon weit darüber.[7] Hinzu kommen wirtschaftliche Faktoren in Form (a) niedriger Wachstumsraten im Verein mit (b) teilweise hoher Arbeitslosigkeit, die (c) durch den technologischen Wandel und unsichere bzw. fragmentierte Berufskarrieren sich eher zu verschärfen verspricht. 

Als Konsequenz suchen die Regierungen, eine Reform ihrer auf dem Generationenvertrag beruhenden Rentensysteme vorzunehmen. An vorderster Stelle wird dabei eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit und damit des Renteneintrittsalters –neben Kapitalisierung, Absenkung des Renten- ins Auge gefasst. So auch in Frankreich. Um die aktuellen Reformen zu erläutern, seien ein paar Vergleichszahlen angeführt:

  • Die Erwerbstätigenrate belief sich 2021 in Frankreich auf 56%, das waren 5-6% weniger als in Deutschland, England, Japan oder den USA.[8]
  • Das gesetzliche Pensionierungsalter beträgt aktuell in Frankreich noch 62 gegenüber 65 in Spanien und Japan, 66 in der BRD und Großbritannien, oder 67 in Italien und den USA.[9] 
  • Wichtiger noch ist das effektive Rentenalter: Im OECD-Durchschnitt gehen Männer mit 64, Frauen mit 62 in Rente. Am spätestens in Japan mit 68 bzw. 67, in den USA mit jeweils 65, in Schweden mit 66 bzw. 65, in D jeweils rd. 63. Dagegen beginnt das Rentenalter in Frankreich mit 60,4 bzw. 60,9. Dem anschließenden Ruhestand können Franzosen für fast 24, Französinnen 27 Jahre gegenüber Deutschen mit 20 bzw. 23 und einem OECD-Durchschnitt von knapp 20 bzw. 24 Jahren bei Frauen entgegensehen.[10] 
  • Und was den individuellen Lebensstandard anbetrifft, leben französische SeniorInnen, wenn sie im allgemeinen Rentensystem versichert sind und formell 41 Jahre Beiträge für den Bezug einer vollen Rente geleistet haben, nicht viel anders als der Durchschnitt ihrer Landsleute. Verfügt die Altersgruppe 55-64 über ein rd. 10% höheres Einkommen als die übrige Bevölkerung, liegen die über 65jährigen mit 94% nur wenig darunter. Dabei schneidet Frankreich nach Luxemburg und Österreich im Vergleich der EU27 in dieser Altersgruppe mit 22.000 € bei Männern und 20.000 € bei Frauen, das sind über ein Drittel mehr als im Durchschnitt der EU und 10% mehr als in Deutschland, besonders gut ab. [11]  
  • Demgegenüber betrug die Arbeitslosenrate 2021 in Frankreich 7,9% gegenüber 3,6 % in Deutschland, 4,8% in England, 2,8 % in Japan und den 5,3% in den USA.[12] Sie ist besonders unter älteren französischen Arbeitnehmern ausgeprägt. So lag die Beschäftigtenquote bei der Altersgruppe 60-64 in Frankreich bei nurmehr 30% gegenüber 51% im OECD-Durchschnitt und sogar 60% in Deutschland.[13] 
  • Entsprechend fallen die Kosten der Rentensysteme als Anteil am BIP ins Gewicht. Sie reichen bei einem Durchschnitt von 7,7% in den OECD- Ländern von 5,1% in GB und 7,5% in den USA über 9,7% in Japan, 10, 4% in der BRD bis zu 13,4% in Frankreich und 15.9% in Italien.[14]

Résumé: Im Vergleich zu Industrieländern vergleichbaren Entwicklungsniveaus und Lebensstandards schneidet Frankreich aus Sicht seiner Rentner gut ab. Dies erzeugt allerdings gesamtgesellschaftliche Kosten. Dabei wirken sich eine hohe Arbeitslosenquote und dabei vor allem niedrige Alterserwerbstätigkeit für die langfristige finanzielle Sicherung der bestehenden Rentensysteme als besondere Herausforderungen aus.                                                                                                                     

2.  Die Rentenreform zwischen Legalität und Legitimität

Bereits in den Wahlkämpfen des Jahres 2022 hatte die Rente zu den wichtigsten und umstrittensten Themen gehört. Während Konservative und Macronisten[15] für eine Verlängerung des Rentenalters auf 65 plädierten, forderten die Parteien der extremen Rechten wie Linken deren Rückführung auf 60. Damit standen sich von Anfang an prinzipiell unversöhnliche Gegensätze in der Nationalversammlung gegenüber. Die Regierung zog ihrerseits alle, ihr verfassungsmäßig zustehenden Register, um ihr Vorhaben trotz aller Widerstände über die parlamentarischen Hürden zu bringen.   

Am 10. Januar brachte die Regierung das Gesetz in der Nationalversammlung ein. Mehr als zwei Monate später wurde nach wochenlangen Debatten in Parlament und Senat sowie mehreren Gesetzesänderungen am 17. März die zunächst vorgesehene abschließende Abstimmung im Parlament abgesagt. Stattdessen das Gesetz per Regierungsdekret erlassen. Mit einer knappen Mehrheit von lediglich 9 Stimmen scheiterte wenige Tage später der von 90 Abgeordneten aller Parteien verabschiedete Misstrauensantrag gegen die Regierung. Die Reform tritt damit in Kraft, vorausgesetzt das Verfassungsgericht hebt es nicht auf.   

Das Reformvorhaben wurde unter dem Titel „Nachtragshaushalt“ (budget rectificatif) dem Parlament vorgelegt. Damit wurde zum einen ein finanzpolitischer Rahmen des notwendigen Schuldenabbaus zugleich als Signal an Brüssel und ausländische Investoren bzgl. der Reformfähigkeit des Landes abgesteckt. Zum anderen wurde damit eine in der Verfassung vorgesehene zeitliche Verkürzung der Behandlung durch das Parlament grundsätzlich eingeplant. In der Tat wurde nach endlosen Debatten, in denen nur die beiden ersten von 28 Gesetzesartikeln -und dabei nicht einmal der zur Anhebung des Rentenalters- abschließend behandelt wurden und angesichts weiterer 5000 Änderungsanträge von ihr Gebrauch gemacht und das Vorhaben an den Senat verwiesen. Am Ende von 10tägigen, auch in diesem Fall abgekürzten, Beratungen wurde ein paritätisch aus acht Senatoren und ebenso vielen Parlamentariern besetztes Komitee mit dem Auftrag, einen mehrheitsfähigen Gesetzesentwurf vorzulegen, einberufen. Der von diesem einstimmig verabschiedeten Text fand in der Tat dann auch die Zustimmung einer absoluten Mehrheit der Senatoren. [16]

Doch die Erwartung von Regierung, der sie stützenden Parteien sowie der Partei der Konservativen auf eine entsprechend positive Abstimmung auch im Parlament erfüllte sich nicht. Angesichts eines völlig ungewissen Ergebnisses in der Nationalversammlung zog die Regierung die Notbremse. Statt eine Abstimmungsniederlage zu riskieren, beendete sie das parlamentarische Verfahren und griff auf Artikel 49.3 der Verfassung zurück, der ihr eine Gesetzgebung per Verordnung erlaubt.[17] 

Formal im Rahmen der Verfassung, wird weniger die Legalität als die Legitimität des Gesetzes durch die Opposition in Zweifel gezogen. 

Die wichtigsten Punkte des Gesetzes[18] 

Statt der ursprünglich vorgesehenen 65, wurde das gesetzliche Pensionierungsalter auf 64 Jahre bei vollem Rentenbezug nach 43 Beitragsjahren festgeschrieben. Nach maximal 44 Berufs- und Beitragsjahren und damit altersmäßig früher in Rente gehen können diejenigen, die vor dem 21.Lebensjahr erwerbstätig geworden sind.  

Die Verlängerung um 2 Jahre gilt ausnahmslos für alle Beschäftigten, inkl. der Sonderregime.

Für die Angehörigen der (meisten) Sonderregime gilt dabei die ‚Großväterklausel‘, d.h. für die aktuell Beschäftigten bleibt alles beim Alten. Erst bei Neueinstellungen entfallen die Sonderregelungen zu Gunsten einer Gleichstellung mit den Versicherten des allgemeinen Rentensystems. 

Die Mindestrente wird auf 85 % des gesetzlichen Mindesteinkommens, konkret 1200 € festgelegt. 

Spezielle Maßnahmen zwecks Frühverrentung sind für Beschäftigte in physisch und psychisch besonders belastenden Berufen, wie Nachtarbeit, oder Tätigkeiten mit typisch großer Lärm-, Hitze- oder Druckbelastung, etc. werden vorgesehen.

Für Frauen gelten verlängerte Anrechnungszeiten wegen Mutterschaft, Erziehungsjahren, etc.  

Die ursprünglich eingeplanten Einsparungen sind im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens und der Verhandlungen mit der konservativen Opposition auf wenige Milliarden zusammengeschmolzen. Kommt hinzu, dass das Gesetz 2027 auf seine Wirksamkeit vom Parlament überprüft werden soll. Schließlich ist anzumerken, dass die Reform im Kern weniger eine prinzipielle Erneuerung/Verschlechterung für die Beschäftigten darstellt als eine Beschleunigung der unter der sozialdemokratischen Präsidentschaft von François Hollande (2012-2017) 2014 verabschiedeten Rentengesetze.  

Also ‚viel Lärm um Nichts‘ bzw. wenig genug? Damit werden Fragen nach tieferen Ursachen, Hintergründen und Motiven der verschiedenen Akteure aufgeworfen.     

II. Rentenreform als strategischer Machtkampf um Suprematie

Hintergrund der aktuellen Situation ist die politische Konstellation nach den Wahlen von April und Juni 2022. Emmanuel Macron wurde zwar, wenn auch mit für ihn enttäuschenden 59% zum Präsidenten wiedergewählt.[19] Ihm unterlegen, wenngleich mit einer unerwartet hohen Zustimmung von 41%, war Marine Le Pen von dem rechtsextremen Rassemblement National (RN). Sie war mit 23 zu 22% nur knapp vor Mélenchon, dem Kandidaten der linksextremen La France Insoumise (LFI) in den entscheidenden zweiten Wahlgang eingezogen. In der folgenden Parlamentswahl im Juni 2022 verlor die Partei-Allianz des Präsidenten dagegen ihre absolute Mehrheit. Von den 2017 gewonnenen 350 Parlamentssitzen verlor sie 100 und erreichte mit 250 Abgeordneten von insgesamt 577 Volksvertretern nur eine relative Mehrheit. Um das Dilemma zu verdeutlichen: noch kein Jahr im Amt musste die Regierung sich bereits zum 11. Mal des Verfassungsartikels 49.3 bedienen, um angesichts einer fehlenden absoluten parlamentarischen Mehrheit gleichwohl ein Gesetz zu erlassen. 

Um nicht von Anbeginn seiner zweiten und verfassungsmäßig letzten 5-jährigen Amtszeit zur Rolle einer ‚lame duck‘ -zudem in einer Zeit entscheidender nationaler und internationaler Umwälzungen, Krisen und Herausforderungen- verurteilt zu sein, entschieden sich Präsident und Regierung deshalb für eine Doppelstrategie:  Einerseits einen dauerhaften Koalitionspartner mit oder ohne direkter Regierungsbeteiligung zu finden und andererseits den politischen Gegner zu schwächen. Sie wird an allen Fronten, sowohl der parlamentarischen, parteipolitischen wie zivilgesellschaftlicher Ebene als auch der der Organisationen und der öffentlichen Meinung, verfolgt. 

Angesichts der Zusammensetzung des Parlaments mit ausgeprägter Polarisierung einerseits zwischen den Parteien der Mitte und den erstarkten extremen Parteien, andererseits zwischen den beiden letzteren, kamen als potentielle Bündnispartner nur die konservativen Les Républicains‘ (LR, Republikaner) in Frage. Deren 61 Parlamentarier galt es, womöglich für eine langfristige interfraktionelle Zusammenarbeit und damit eine stabile absolute Mehrheit in der Nationalversammlung zu gewinnen. 
Da bot sich die Rentenreform, seit Jahren zentrale Forderung konservativer Wahlprogramme, als Köder und aussichtsreiches Thema für eine Verständigung und Zusammenarbeit an. Auch konzeptuell und um langwierige Kontroversen zu vermeiden, kam die Regierung den Konservativen entgegen. So wurde gar nicht erst auf das in der ersten Regierungszeit Macrons bereits vom Parlament angenommene, wegen der Covid-Pandemie dann aber von der weiteren Beratung durch den Senat auf Eis gelegte, Rentenreformprogramm zurückgegriffen. Statt des darin vorgesehenen, völlig neuen Ansatzes basierend auf einem den individuellen Berufsweg nachzeichnenden Punktesystem bei den Rentenansprüchen legte die Regierung Anfang Januar 2023 einen Gesetzesentwurf auf Basis des bestehenden Systems mit Fokus auf Pensionsalter und Angleichung der Spezialregime vor. Damit hoffte man umso mehr auf ein erfolgreiches Gesetzgebungsverfahren setzen zu können, da auch die notwendige Zustimmung durch die zweite Kammer, den dem Bundesrat vergleichbaren Senat, gesichert schien. Denn anders als in der Nationalversammlung dominieren ihn mit 145 von 348 Vertretern (42%) die Republikaner.  

Doch die Rechnung der Regierung ging nicht auf. Trotz Zugeständnissen und Mehrheitsvoten von Fraktionsvorstand, Paritätischer Kommission und Senat weigerten sich einige Senatoren, vor allem aber rund ein Drittel der Parlamentarier dem Votum ihrer konservativen Partei- bzw. Fraktionsführung zu folgen. Das Ergebnis ist bekannt: konfrontiert mit einer potentiellen parlamentarischen Abstimmungsniederlage, nahm die Regierung Zuflucht zur exekutiven Verordnung.

Ausschaltung und Schwächung des politischen Gegners 

Im Vergleich zur früheren Zusammensetzung hat sich die parteipolitische Struktur der neuen Nationalversammlung mit unerwartet und erstmalig erstarkten Fraktionen extremer Parteien stark verändert. Die rechtsextreme RN ist heute mit 88 Abgeordneten oder 15% gegenüber 8 in 2017, die Linksallianz NUPES (‚Nouvelle Union Populaire Ecologique et Sociale) insgesamt mit 149 Mitgliedern oder 26 % vertreten.  

Von Anfang an war mit der prinzipiellen Ablehnung der Gesetzesvorlage durch den RN, vor allem aber der NUPES zu rechnen. Beide lehnten die Verschiebung des Rentenalters prinzipiell ab, forderten eher dessen Reduzierung. Das linke Parteienbündnis aus Ökologen, Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten hatte sich bereits in seinem Wahlprogramm in Übernahme der Forderungen der LFI auf eine Rückführung des Rentenalters von 62 auf 60 eingeschworen. Es schlug mit mehr als 20.000 Änderungsanträgen zwecks Verschleppung bzw. Blockade des Gesetzgebungsverfahrens eine Strategie der Obstruktion ein. Anders der Rassemblement National. Er verfolgte mit inhaltlichen Gegenvorschlägen die Rolle einer ‚verantwortungsvollen Opposition‘ als Teil einer Allgemeinstrategie, sich als regierungswürdige nationale Interessensvertretung des Volkes zu empfehlen.           

Dies trug zum strategischen Vorgehen der Regierung bei. Wie erwähnt, brachte sie das Gesetzesvorhaben als bloße Korrektur des Haushaltsplans (‚budget rectificatif‘)‘ ein und öffnete damit den Weg zu einer verfassungskonformen Abkürzung des parlamentarischen Prozesses.

Die Zivilgesellschaft

Anders als die Gelbwesten, die sich anlässlich einer staatlich verordneten Erhöhung der Benzinpreise entscheidend aus dem Protest der zunehmend vernachlässigten und ausgebluteten ländlichen Bevölkerung unter bewusster Ablehnung der Unterstützung durch Gewerkschaften und Parteien rekrutierten, spielt sich die heutige Bewegung vor allem in den Städten bei gleichzeitiger Ausgrenzung der Gelbwesten ab. Neben den linken und rechten Parteien setzt sie sich essentiell aus Arbeitnehmern unter Führung der Gewerkschaften zusammen.

Als bloße Budgetkorrektur etikettiert, hatte die Regierung die Verfassungsbestimmung von 2007, wonach bei Änderungen des Arbeitsrechts die Gewerkschaften vorab zu konsultieren sind, umgangen. In der Tat fand die letzte Konferenz zwischen Premier und Gewerkschaften am 10.Januar, dem Tag der parlamentarischen Einführung des Reformpakets, statt. Zum nächsten hat die Premierministerin für Anfang April, 14 Tage nach Verabschiedung des Gesetzes und nach den bisher letzten, teilweise in Krawallen endenden, Streiktagen eingeladen.

Schon vor Beginn des Gesetzgebungsverfahrens hatten die Gewerkschaften in seltener Einheit ihren Widerstand gegen die Rentenreform erklärt. Und in der Tat begleiteten sie die über zehnwöchige Parlamentsdebatte mit Aufrufen zu Arbeitsniederlegungen, Kundgebungen und Massendemonstrationen. Ihr Widerstand wurde von vorneherein dadurch geweckt, dass die Regierung ihre Gesetzesvorlage primär mit der Förderung ‚sozialer Gerechtigkeit‘ und nicht ‚ökonomischer Notwendigkeit‘ angesichts der demographischen und wirtschaftlich-technologischen Entwicklungen begründete. Mehrfach korrigierte Angaben bzgl. der eventuellen Zahl der zukünftigen Mindestrentenempfänger von 1.200 € verstärkten den Eindruck, das Hauptmotiv der Regierung sei politischer Natur: Stärkung der Exekutive, Schwächung der parlamentarischen Opposition und der Gewerkschaften. 

Zeitgleich mit der Eröffnung der Parlamentsdebatte riefen die Gewerkschaftsführungen auf ihrer gemeinsamen Plattform zum ersten -von bisher 11- Tagen des Widerstands auch der Nichtorganisierten und aller Privatangestellten bis hin zum Generalstreik auf. Auch nach Verabschiedung des Gesetzes gehen die Aktionen weiter, mögen zuletzt auch geringere Teilnehmerzahlen registriert worden sein. Die vereinten Gewerkschaften fühlen sich nicht an die gesetzlichen Vorgaben gebunden, da sie ihre Interessen nicht (ausreichend) durch den Staat und ihre gewählten Vertreter wahrgenommen sehen. Für sie hat Volkssouveränität Vorrang vor politischer Repräsentativität. Damit spitzt sich die Auseinandersetzung über die Rentenreform zu einem allgemeinen Machtkampf zu. Analog zur Beharrung der Regierung schließen sie eine Radikalisierung der Protestbewegung nicht aus. 

Wie die Regierenden ihrem Selbstverständnis nach das Allgemeinwohl repräsentieren, verstehen sich die Gewerkschaften als Vertreter und Speerspitze der Interessen der Lohnabhängigen gegenüber Staat und Kapital bzw. Unternehmervereinigungen. Mit den systemischen Klassenwidersprüchen auf Zeit in friedliche Aushandelsprozesse eingelagert, kämpft man am Ende immer um die öffentliche/veröffentlichte Meinung.
 Zustimmung der Mehrheit verleiht Legitimität für Forderungen und Vorgehensweise, verstärkt Motivation und Unterstützung im Kampf für deren Realisierung.  

Diese liegt gegenwärtig eindeutig auf Seiten der Gewerkschaften und gegen den Präsidenten und seine Regierung. 
Umfragen zufolge lehnen rd. ¾ der Bevölkerung die Rentenreform ab, unterstützen die Arbeitnehmerorganisationen in ihren Aktionen, inkl. Einschränkungen des öffentlichen Lebens im ÖPNV, kulturellen Einrichtungen und Ämtern, Schulen und Universitäten. Noch stoßen selbst Gewaltakte auf breites Verständnis als massenhaftes Druckmittel, die Regierung zur Rücknahme des Gesetzes oder Suspendierung seiner Anwendung zu zwingen. 

Geht man nach der Vergangenheit, ist ihr Erfolg nicht auszuschließen. Schon mehrfach haben Regierungen eine Änderung des Rentensystems, inkl. Aufhebung der Sonderregime, durchzusetzen versucht. Sie sind essentiell am Widerstand der Betroffenen gescheitert. 

Noch heute ist die Erinnerung an 1995 im kollektiven Gedächtnis lebendig, als sich eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hinter die Gewerkschaften als organisatorisches Zentrum im Kampf gegen die Reform der damaligen Regierung Juppé des eben ins Amt gewählten konservativen Präsidenten Chirac nach 14 Jahren unter dem Sozialisten Mitterrand scharte. [20] Obwohl in ihnen kaum mehr als 10% der abhängig Beschäftigten organisiert sind, und dies insbesondere in den privilegierten staatlichen und öffentlichen Einrichtungen, sitzen sie an den zentralen Schaltstellen der Infrastruktur wie Energieversorgung und Transport. Sie wissen um ihre Macht zur Durchsetzung ihrer Forderungen, das Land lahm zu legen. Umso größer ist ihr Durchsetzungspotential, wenn sie sich -selbst bei prioritärem Einsatz für ihre privilegierenden Sonderinteressen- als Stellvertreter und Vorkämpfer für die Sache der Bevölkerungsmehrheit engagiert wissen.   

Was die Regierung anbetrifft, setzt diese im Gegenzug auf eine zunehmende Apathie, Erschöpfung und Unmut angesichts andauernder Verschlechterung der individuellen Lebensverhältnisse bei der schweigenden Mehrheit. Horror vor Gewalt ist dabei ein probates Mittel, um die  Protagonisten und am Ende auch deren Anliegen zu Gunsten von staatlich garantierter Ruhe und Ordnung zu marginalisieren, die Bewegung zu spalten, wenn möglich ganz zu desavouieren.[21] So ist der Rekurs der Gewerkschaften zu Massendemonstrationen wegen des wachsenden Risikos zerstörerischer Gewaltanwendung ein zweischneidiges Schwert. 

III. Frankreich in der Krise

Staatskrise

Angesichts der polarisierten Situation bieten sich der Regierung nur wenige Auswege aus der doppelten Krise um Rentenreform und Regierungsfähigkeit. Als Handlungsoptionen bzgl. der Rentenreform stehen zur Verfügung: 
(1) Eine erste Chance zur Deeskalierung und Kompromisssuche bieten sich nach drei-monatiger Pause die vorgesehenen Gespräche zwischen Regierung und Gewerkschaften an; (2) Rücknahme bzw. Suspendierung der Reform durch die Regierung, wie es Cazeneuve, der letzte Premier unter Präsident Hollande und dieser selbst ebenso wie Generalsekretär Laurent Berger von der sozialdemokratischen Gewerkschaft CFDT vorschlagen; 
(3) Dies könnte, wenn auch eher unwahrscheinlich, durch eine Annullierung des Gesetzes wegen substantieller Mängel seitens des Verfassungsrats erfolgen. 
Zu einem ähnlichen Ergebnis könnte 
(4) ein Volksentscheid, vorausgesetzt 10% der Wähler unterstützen den entsprechenden Antrag einer Bürgerinitiative, führen.

Alle implizieren eine Niederlage für die Regierung, einen Sieg der organisierten Opposition und der mobilisierten Öffentlichkeit. Gleichwohl, keine davon ist längerfristig vielversprechend. Sie würden das angespannte soziale Klima beruhigen, aber die Probleme des Alterssicherungssystems, vor allem die des Pensionsalters und der Sonderregime, nur zeitlich aufschieben. 

Über das Reformvorhaben hinaus wurden Ansehen und Vertrauen in die Regierung generell weiter beschädigt, die politischen Institutionen der V. Republik grundsätzlich geschwächt. Dem entgegenzusteuern bieten sich dem Präsidenten folgende Möglichkeiten: (1) Ein Regierungswechsel im Verbund mit fortgesetzter Suche nach Koalitionspartnern oder (2) Neuwahlen. Beide erscheinen wenig aussichtsreich. 

Ein Regierungswechsel würde allenfalls kurzfristig das Bild der Regierung und den Willen zu einem Neuanfang signalisieren. Ein Austausch von Personal allein aber dürfte an der öffentlichen Meinung über Person, Auftreten und Politik ihres mit hoher Exekutivgewalt ausgestatteten Präsidenten, der bis 2027 im Amt bleibt, allenfalls kurzfristig etwas ändern. Auch die weitere Suche nach einem Koalitionspartner dürfte sich nach dem Scheitern des Rentengesetzes und angesichts der parteipolitischen Zusammensetzung des Parlaments eher verbieten. Bleiben ‚Weiterwurschteln‘ oder Neuwahlen in der Erwartung absoluter Mehrheiten. Doch außer den Parteien von Rechts- bzw. Linksaußen, RN und LFI, wünscht sich dies niemand. Allein die extreme Rechte kann sich Erfolgschancen ausrechnen.    

Das Parteiensystem und mit ihr die bürgerliche Demokratie sind in der Krise. Sollte der Präsident das Parlament kurzfristig auflösen und Neuwahlen ansetzen, dürften alle Parteien der Mitte im Gegensatz zur bisherigen Erfahrung und Strategie, wonach Wahlen in der Mitte gewonnen werden, drastisch verlieren. Das betrifft als erstes die Macronisten selbst. Verantwortlich dafür ist zunächst der Vertrauensverlust in die Regierungspartei ‚Renaissance‘. Ohne territoriale Verankerung ist die Formation auf die Person Macron, der als abgehoben und arrogant (‚Jupiter‘) und Präsident der Reichen gilt, zugeschnitten. Seine aktuellen Zustimmungswerte sind auf unter 30% abgesunken. 

Unabhängig von seiner Person wird das ganze Konzept ‚weder rechts noch links‘ angesichts der Wahlergebnisse von 2022 mit ihren einmalig starken Ergebnissen für die Links- und Rechtsextremen (LFI 13 bzw. RN 15%) bei gleichzeitiger Erosion der traditionell dominanten sozialdemokratischen und konservativen Parteien in Frage gestellt. 

So haben die Konservativen, Les Républicains, einst zentrale Regierungs- und Präsidentenpartei (Giscard, Chirac, Sarkozy) bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen mit ihrer Kandidatin Pécresse mit weniger als 5% der abgegebenen Stimmen nicht nur den Einzug in den entscheidenden 2.Wahlgang, sondern auch die Schwelle zur staatlichen Wahlkampf-Kostenerstattung verfehlt. In ihrer Repräsentanz nach 112 Abgeordneten auf nurmehr 61 in der Nationalversammlung mehr als halbiert, ist die Partei programmatisch unter Druck des aufsteigenden xenophoben Rechtsnationalismus und politisch bzgl. des Verhältnisses zur RN geraten. Konzeptuell uneins und zerrissen, ist auch die Parteiführung zerstritten und umkämpft. Schon vorher unglaubwürdig geworden, hat ein Drittel der Abgeordneten -trotz eigenen Wahlprogramms und trotz erheblicher Konzessionen beim Rentenreformgesetz- angesichts der öffentlichen Meinung bangend um ihr Mandat bei vorgezogenen Neuwahlen die Fraktionsdisziplin aufgekündigt. Sie waren es, die am Ende die Regierung zum Rekurs auf Paragraph 49.3 gezwungen haben. 

Wenig anders dürfte es den Sozialdemokraten von der Parti socialist (PS), gehen. 1972 aus verschiedenen linken Gruppierungen zusammengeschweißt, hat sie ihre größte Zeit mit der Präsidentschaft Mitterrand 1981-1995 und unter Premier Jospin (1997-2002) erlebt. Mit Präsident François Hollande (2012-2017) begann der rasche Niedergang. Programmatisch zerrissen, von Abspaltung und Neugründung bedroht, ist sie heute nur noch ein Schatten einstiger Bedeutung. Nur durch ein Wahlbündnis mit Kommunisten, Grünen und den ‚Unbeugsamen‘ hat sie eine Präsenz in die Nationalversammlung mit 31 Abgeordneten (5.4%) retten können. Doch die Allianz selbst ist angesichts der dominierenden Position der LFI nicht nur in der PS umstritten. Die politischen Divergenzen innerhalb der NUPES haben es nicht erlaubt, sich trotz ihrer 149 Abgeordneten gegenüber den 88 der RN die Vorteile der wichtigsten Oppositionspartei zu sichern.  

Als Konsequenz kann (1) nur ein genereller drastischer Vertrauensverlust in die politische Klasse im Verbund mit der in das bestehende System der Mehrparteiendemokratie gefolgert werden. (2) Als direkte Folge ist ein allgemeines Desinteresse am politischen Prozess zusammen mit merklich steigenden Anteilen von Enthaltungen zu erwarten, die schon heute 25-28% betragen.[22] Und (3) ist gleichzeitig mit dem Zusammenbruch der Parteien der politischen Mitte zu Gunsten extremistischer Formationen unter Dominanz nationalistischer rechtsextremer Gruppierungen zu beobachten. Waren Programme und Regierungshandeln der bis dahin herrschenden Parteien auf Kompromiss und Kooperation ausgerichtet, sind von jetzt an Radikalität im Verein mit Exklusion, Konfliktverschärfung und Polarisierung gefragt.

Gesellschaftskrise

Frankreich sieht sich mit einer Krise und dem objektiven Niedergang seines Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells konfrontiert. Traditionell spielt der Staat in Wirtschaft und Gesellschaft eine zentrale Rolle. So beträgt der Anteil der Regierungsausgaben am BIP 61 %, in vergleichbaren Industrieländern nur 47-51 %. Und während Deutschland 11% Staatsbedienstete zählt, beschäftigt der französische Staat 5.7 Mio. oder 20 % aller Arbeitnehmer, davon 2/3 als Beamte. Gerade in Krisenzeiten erweist sich dies Modell allerdings finanziell wie politisch überfordert. Wenige Daten belegen das Dilemma. 

Das jährliche Wirtschaftswachstum betrug im letzten Jahrzehnt 1 bis 2 %.  Und die post-Covid Wachstumseuphorie für 2022 von 2.6%, wurde im laufenden Jahr auf 0.6 % reduziert. Die Staatsverschuldung beläuft sich auf 3000 Mrd. € oder 111% des BIP; das Haushaltsdefizit –wegen höherer Staatseinnahmen aufgrund der hohen Inflation- auf gegenwärtig 4.7%.[23] Beide zu finanzieren wird angesichts hoher Inflation und steigender Zinsen hauptsächlich künftigen Generationen aufgehalst. Auch der seit 2005 defizitäre Außenhandel -62 Prozent des BIP (D 89%) - verspricht keine Entlastung. Als Folge von Energiekrise und Euroschwäche bei in Dollar fakturierten Waren beträgt das Handelsbilanzdefizit 150 Mrd. oder 14%. Da jahrelang Dienstleistungen gegenüber Industrieprodukten priorisiert wurden,[24] drohen geplante Re-industrialisierungsprogramme an mangelnder Wettbewerbsfähigkeit zu scheitern, Frankreich seinen Rang als fünftgrößte Exportnation trotz Nachfrageboom bei Waffen, Aeronautik, Autos, Agrar- und Luxusgütern zu verlieren. 
Der bereits eng begrenzte Spielraum für die notwendigen Investitionen in die ökologische Transformation wird durch die anvisierte militärische Aufrüstung weiter eingeschränkt.[25] 

Frankreich hat eine lange revolutionäre Tradition, verbunden mit einer ambivalenten, zwischen Fürsorge- und Schutzanspruch gegenüber Misstrauen und Verachtung  schwankenden, Einstellung zu Regierung und Staat. 
Es gilt wegen seiner vergleichsweise hohen und das öffentliche Leben blockierenden Streikbewegungen als unregierbar, unreformierbar. 

In der Tat kommt das Land nicht zur Ruhe: der Aufstand der Gelbwesten als landesweite Protestbewegung des vernachlässigten und pauperisierten ländlichen Raums wurde nur durch die Covid-Pandemie gestoppt, die ihrerseits zu Einschränkungen in Mobilität, Lebensweise und Lebensstandard gerade bei den ärmeren Bevölkerungsschichten, inkl. kleinen Selbständigen, führte. Die mit der weitgehenden Immunisierung verbundenen Erwartungen auf eine Rückkehr zum früheren Lebensstil wurden durch steigende Preise, Inflation und Krieg enttäuscht. Wiederkehrende Proteste, inkl. breite Bevölkerungskreise negativ beschränkende Raffinerieblockaden und Tankstellenschließungen, waren die Folge. Trotz umfangreicher Staatsprogramme zur Inflationsbegrenzung und direkten Unterstützungszahlungen wie 100 € Prämien für Haushalte mit geringem Einkommen verschärft sich das Bild eines Staates und einer Regierung der Reichen. 
Die Präsidenten- Worte vom ‚Ende des Überflusses‘ und ‚Beginns der Nüchternheit‘ kontrastieren die einmaligen Superprofite der Unternehmen, milliardenschwere Dividendenausschüttungen an Aktionäre und die gleichzeitige Weigerung der Regierung, eine Reichensteuer einzuführen. 
Mehr noch stoßen da die Verlängerung des Rentenalters und die Verschärfung der Arbeitslosenhilfe bei wachsender absoluter Armut[26] auf massenhaften Widerstand. 
Die Rezepte der Regierung im Namen von Wachstum, Reindustrialisierung und Wettbewerbsvorteilen erlassen, werden als direkter Angriff auf die sozialen Errungenschaften (acquis sociaux) der abhängigen Klassen zu Gunsten des Kapitals und der Reichen empfunden. 

Gleichwohl dürften sich die Hoffnungen der ‚Unbeugsamen‘, am Vorabend einer sozialen Revolution analog zu 1789 zu stehen, nicht erfüllen. 
Der aktuelle Protest ist essentiell defensiver Natur. Bewahrung des gefährdeten Erworbenen, bestimmen Perspektive und Ziel der Protestbewegung., nicht Aufbruch in eine andere fortschrittlichere, ökosozialistische Welt. 

 
[1] So musste der überhaupt erste ausländische Staatsbesuch des englischen Königs Charles III, geplant vom 26.-29.März, auf unbestimmte Zeit verschoben werden. 
[2] https://www.retraite.com/retraite-par-metier/retraite-fonctionnaire-publique/retraite-et-regimes-speciaux-tout-ce-qu-il-faut-savoir.html
[3] 2016 überwiesen so die Beitragszahler des allgemeinen Versicherungssystems 82 Mrd. € , das war das Doppelte der 41 Mrd. Eigenbeiträge von 20 der noch fungierenden 37 Sonderregime, zur Deckung von deren Defiziten. 
[4] 2017 wurde den Angehörigen des allgemeinen Versicherungssystems eine durchschnittliche Rente in Höhe von 1605 gegenüber 2357 € für die der Pariser Metro gezahlt.  
[5] https://www.lesechos.fr/economie-france/social/retraites-les-points-clefs-de-la-nouvelle-reforme-1888859
[6] https://www.vie-publique.fr/loi/287916-reforme-des-retraites-2023-projet-de-loi-plfss-rectificatif Zur Kritik vgl. https://www.cgt.fr/comm-de-presse/projet-de-loi-reforme-des-retraites vgl. auch Sanders, B., Die Rentenpläne werden das Gesicht der Französischen Republik verändern, pp 43-46, in: SOZIALISMUS, 2-2023.
[7] OECD Pensions at a Glance 2021, bes. p 174, 176, 180  https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/ca401ebd-en.pdf?expires=1680006808&id=id&accname=guest&checksum=9F35F18320DF441255370DEA16E356AB
2020 lag der Anteil der über 65jährigen in Japan sogar bei 52%, den USA dagegen bei nur 28%. 
[8] Es handelt sich der Erwerbstätigen im Alter über 15.  https://data.worldbank.org/indicator/SL.TLF.CACT.ZS?locations=FR&name_desc=false 
[9] Für Europa 2022 vgl. https://www.cleiss.fr/docs/ages_retraite.html, für Japan https://tradingeconomics.com/japan/retirement-age-men https://en.wikipedia.org/wiki/Retirement_age#:~:text=Retirees%20are%20eligible%20to%20receive,born%20in%201960%20or%20later.
[10] OECD Pensions at a Glance 2021, bes. Pp 178-181 https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/ca401ebd-en.pdf?expires=1680006808&id=id&accname=guest&checksum=9F35F18320DF441255370DEA16E356AB 
[11] https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Ageing_Europe_-_statistics_on_pensions,_income_and_expenditure#Pensions Die Daten beziehen sich auf 2018; im Oktober 2023 soll eine Studie mit neueren Daten vorgelegt werden. Durch Covid und Inflation dürften die Unterschiede seitdem eher grösser geworden sein. 
[12] https://data.worldbank.org/indicator/SL.UEM.TOTL.ZS?locations=EU
[13] Bei den 55-59jährigen beläuft sich die Beschäftigtenquote in Frankreich mit 71% noch auf dem OECD Durchschnittsniveau mit 72%; aber auch hier geringer als Deutschland mit 81%.       
[14] Daten für 2019/20 OECD (2023), Pension spending (indicator). doi: 10.1787/a041f4ef-en (Accessed on 28 March 2023) https://data.oecd.org/socialexp/pension-spending.htm Für die EU27 lag der Rentenanteil am BIP 2017 bei 9.6%.  
[15] Die ursprüngliche Bewegung ‚En Marche‘ wurde nach gewonnener Wahl 2017 in die Partei ‚La République en Marche (LReM), später in die heutige ‚Renaissance‘ transformiert. Zur Regierung zusätzlich die liberal-konservative ‚Modem‘ und die von Eduard Philippe, dem ehemaligen Premier Macrons, gegründete  ‚Horizon‘.  
[16] 192 der Anwesenden von insgesamt 348 Senatoren stimmten für den Gesetzesentwurf, 112 dagegen und 37 enthielten sich. 
[17] Zum 11. Mal hat damit die Premierministerin seit ihrem Amtsantritt sich auf Artikel 49.3 berufen, um ein Gesetz zu erlassen. Es war das 100.mal seit Gründung der V. Republik. Den Rekord mit 28mal hält die sozialistische Regierung Rocard 1988-91, die auch nur über eine relative Mehrheit verfügte.  https://www.liberation.fr/politique/elisabeth-borne-a-declenche-le-100e-493-de-la-ve-republique-20230316_4POXNU5MVJDYFHT7GMBFKLCMQI/des Es war das elfte 11. Mal 
[18] https://www.lesechos.fr/economie-france/social/retraites-les-points-clefs-de-la-nouvelle-reforme-1888859
[19] Auf Macron waren im 1.Wahlgang nur 28% der Stimmen entfallen. https://www.interieur.gouv.fr/Elections/Les-resultats/Presidentielles/elecresult__presidentielle-2022/(path)/presidentielle-2022/FE.html
https://www.interieur.gouv.fr/Elections/Les-resultats/Presidentielles/elecresult__presidentielle-2022/(path)/presidentielle-2022/FE.html
[20] Ernaux, A., Relever la tête, le monde diplomatique, Février 2023, pp 1, 18.   
[21]  So beschuldigt Innenminister Darmanin die linksextreme LFI für die Übergriffe von 1000-1500 Chaoten des black block‘, die Gebäude in Brand setzen und die Polizei ‚brutal‘ angreifen, verantwortlich zu sein. 
[22]Unter den 25-32 sogar 32%.  https://www.vie-publique.fr/en-bref/287300-elections-2022-un-tiers-des-electeurs-vote-tous-les-tours#:~:text=En%202022%2C%20l'abstention%20syst%C3%A9matique,69%20ans%20autour%20de%209%25
[23] https://www.lemonde.fr/politique/article/2023/03/28/la-dette-francaise-frole-les-3-000-milliards-d-euros_6167237_823448.html#:~:text=La%20charge%20de%20la%20dette,d%C3%A9penses%20apr%C3%A8s%20l'%C3%A9ducation%20nationale. 
[24] 20% der Erwerbstätigen arbeiten im Sekundär-, 77% im Tertiärsektor. Zu Macrons ‚re-localisation industrielle‘ vgl. Rapport du Commerce Extérieur de la France 2021 
[25] Vgl. Neelsen, J.P., Frankreichs Wirtschaft und die sozialen Herausforderungen, pp 26-31, in: WeltTrends Nr. 194, Dezember 2022. Die Militärausgaben sollen bis 2030 um 413 Mrd. aufgestockt werden.  https://actu.orange.fr/france/amp-quot-il-n-y-a-rien-de-trop-amp-quot-dans-les-413-milliards-de-la-loi-de-programmation-militaire-selon-lecornu-CNT000002267zJ.html
[26] Umfragen zufolge schränken ärmere Haushalte ihre Hygienemaßnahmen z.B. durch Verzicht auf Seife, ein.