Am Morgen des 27.Juni wird in einem der Vororte von Paris ein Minderjähriger algerischer Abstammung am Steuer eines Wagens bei einer Polizeikontrolle erschossen. Die Tat löst landesweit für die nächsten acht Tage gewalttätige städtische Unruhen aus. Vor allem die Armenviertel der Großstädte mit ihren umfangreichen Immigrantengemeinden arabisch-islamischer Herkunft sind betroffen. NGOs, Medien, Regierung und politische Parteien beeinflussen Verlauf und Einschätzung. Sie reichen von ‚sozialer Revolte und Klassenkampf ‘[1] über Vorwürfe systemischen Rassismus in der Gesellschaft mit exterministischer [2] Tendenz bei den Sicherheitskräften [3] bis hin zu anti-islamischem Zivilisationskonflikt mit Forderungen nach Rückführung der Migranten.

I. Anlass und Verlauf 

  • Am Morgen des 27.Juni beobachten zwei Polizisten auf Motorrädern in Nanterre, einer Vorstadt von Paris mit 98.000 Einwohnern, einen gelben Mercedes Sportwagen der Klasse A mit polnischen Kennzeichen, der mit hoher Geschwindigkeit auf der für Busse reservierten Spur fährt. Blaulicht und Sirene der Polizei, die ihn anzuhalten versuchen, ignoriert der – ohne Führerschein- am Steuer sitzende 17jährige Nahel M. ebenso wie eine erste Aufforderung bei einem erzwungenen Halt an einer Ampel, das Autofenster zu öffnen. Stattdessen beschleunigt er, überfährt zweimal eine Ampel bei Rot und durchquert ohne Rücksicht auf Passanten eine Fußgängerzone. Erst nach insgesamt 25- minütiger Verfolgungsjagd bleibt das Auto in einem Stau stecken. Den mit vorgehaltener Pistole gemachten Anordnungen der Polizei folgt der Fahrer nicht, stellt auch den Motor nicht ab. Einer der Polizisten, der zweimal wegen hervorragender Pflichterfüllung ausgezeichnete 38- jährige Florian M. fühlt sich und seinen Kollegen bedroht und feuert einen tödlichen Schuss in die Brust des jungen Mannes.[4] Ein Verkehrsteilnehmer filmt die Szene und stellt sie ins Netz. Noch am selben Abend gehen die ersten Mülltonnen und Autos in Flammen auf, werden Schaufenster eingeschlagen, Geschäfte geplündert.                                   
  • Sofort in Gewahrsam genommen und der ‚vorsätzlichen Tötung‘ (homicide volontaire) angeklagt, sitzt der Schütze bis heute in Haft, nicht zuletzt, um wie die Staatsanwaltschaft argumentiert, ‚sein Leben zu schützen‘ und ‚neue Unruhen zu verhindern‘.
  • Und das Opfer?: Nahel M., 17 ans, in Frankreich geborener Sohn einer alleinerziehenden Mutter mit algerischen Wurzeln war als eher ruhiger Junge, wenngleich mit gelegentlichen Anzeichen von borderline-Symptomen, bekannt. Schulabbrecher, schlug er sich wie so manch anderer Jugendlicher der Vorstädte mehr schlecht als recht, er arbeitete als Zulieferer, durchs Leben. Der Polizei war er wegen kleinerer Zusammenstöße – vor allem wegen Insubordination/ Widerstand gegen die Staatsgewalt- zuletzt noch wenige Tage zuvor und einem Termin beim Jugendgericht im September nicht unbekannt.[5] Fan von Rap und Motorrad wohnte er in einem Wohnblock der Viertels von Nanterre im Westen von Paris unweit von La Defense.
  • Präsident Macron erklärt -entgegen der gebotenen Zurückhaltung- das Vorgehen des Polizisten für „unerklärlich und unentschuldbar“ und verweist auf die Untersuchung der Justizbehörden. Doch die Aufrufe des Präsidenten wie der meisten Parteioberen zur Ruhe und Ordnung bleiben vergeblich. In den nächsten acht Tagen erfassen die Unruhen viele Vorstädte Frankreichs von Lille im Norden, Nantes im Westen, Metz im Osten bis zu Lyon und Marseille im Süden. Zwar wird offiziell kein Staatsnotstand ausgerufen, aber bis zu 45.000 Polizisten sind landesweit tagtäglich im Einsatz. Mehr noch, Präsident Macron bricht seine Teilnahme am Europäischen Gipfel vorzeitig ab und eilt von Brüssel zu einer Krisensitzung nach Paris;[6] seinen Staatsbesuch in Deutschland tritt er gar nicht erst an.

II. Beteiligte, Aktionen und Motive                                                              

  1. Die Bilanz des Innenministers am Ende der Unruhen vor dem Senat :
  • Im Vergleich zu den dreiwöchigen Unruhen in den Banlieues von 2005 nach dem Tod zweier maghrebinischer Minderjähriger durch Elektroschock, als sie sich auf der Flucht vor der Polizei in einem Stromhäuschen versteckten, sind die Kosten mit 650 Mio. € dreimal so hoch.
  • 898 Feuer, vor allem Mülltonnen, wurden auf öffentlichen Straßen und Plätzen entzündet. Dazu 12.003 Autos in Brand gesteckt. Tausende von Bushaltestellen wurden zertrümmert.
  • 2508 Gebäude wurden beschädigt oder ganz zerstört, darunter mehr als ein Fünftel öffentlicher Einrichtungen. Dazu gehören 273 Polizeistationen, 105 Rathäuser und 168 Schulen.[7]
  • Zu den verbleibenden knapp 80% beschädigten Privatgebäuden gehören Apotheken, Fast-Food Restaurants, Bekleidungsgeschäfte, Parfümerien, Internet-Boutiquen.  
                                                                                                             
  1. Zum Profil der an den Unruhen Beteiligten: die Angaben der Polizei zu den 3.693 [8] bis zum 6. Juli kontrollierten Personen:
  • Verstreut über das ganze Land waren insgesamt 553 Gemeinden, vom Großraum Paris mit seinen Banlieues bis hinunter zu Kleinstädten mit nur wenigen Tausend Einwohnern von den in ihrer territorialen Ausbreitung wie Intensität unübertroffenen Ausschreitungen betroffen.
  • 170 oder 31% der betroffenen Gemeinden fielen nicht unter die ‚politique de la ville‘, verfügten sie doch nicht über als ‚sensibles‘ ‚populaires‘ oder ‚prioritär‘ klassifizierte Nachbarschaften/ Quartiere.[9]
  • 40% der Festnahmen wurden in Paris und seinem Umfeld vorgenommen.
  • Ein Drittel waren Minderjährige unter 18 Jahren.
  • Mindestens 40% waren der Polizei bekannt.
  • Einer Teilauswertung der von Polizeikontrollen erfassten Personen zufolge dürften rd. die Hälfte maghrebinische bzw. arabo-islamische Wurzeln haben.[10]
  1. Halten wir fest:
  • Der Tod Nahel M. war der Funke, der das Pulverfass eines seit Langem schwelenden Konflikts entzündete. Ausgangs- und Brennpunkt waren die Banlieues. Von dort verbreiteten sich die Ausschreitungen auf weitere Städte.
  • Die Ausschreitungen waren zeitlich (eine Woche) begrenzt, geschahen nachts, waren unorganisiert bzw. wurden spontan über soziale Medien, wie TikTtok, Twitter, Snapchat, lokal und ad hoc vermittelt. Dabei bildeten sich Gruppen von typischerweise 30-40 Personen der Nachbarschaft, gelegentlich unter Beteiligung Ortsfremder.
  • Den Kern bildeten weit überwiegend männliche Jugendliche. Dabei fällt der hohe Anteil (40%) der Polizei bekannter, sozial marginaler junger Leute maghrebinischer Herkunft auf.
  • Als wichtige „Waffen“ kamen neben Benzin und Schlagwerkzeugen vor allem Feuerwerkskörper in großer Zahl in Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften zum Einsatz. Ihr umfangreicher Einsatz lässt auf eine längerfristige Planung, Beschaffung und Lagerung schließen.
  • Es gab keine konkreten Forderungen. Besonderes Ziel der Unruhen waren angefangen in den Banlieues selbst zum einen Institutionen der Staatsmacht, Polizeistationen und Rathäuser. Zum anderen sozial-kulturelle Institutionen, nämlich Schulen, Mediatheken, Kultur- und Sozialzentren.
  • Die überwiegende Zahl der Angriffe und Beschädigungen richtete sich gegen private Geschäfte des täglichen Bedarfs in den Stadtzentren, von Apotheken, über Kleider- und Lebensmittelläden bis zu Internetboutiquen und Schnellrestaurants. Überragendes Ziel war offensichtlich die Plünderung der Waren. Den polizeilichen Berichten zufolge beteiligten sich daran in größerer Zahl gerade auch ‚zufällig vorbeikommende, vornehmlich jugendliche, Passanten‘.

 

 

 

 

 

 

 

 

Photo der Mediathek, Metz-Borny
https://www.republicain-lorrain.fr/faits-divers-justice/2023/07/01/violences-urbaines-une-nouvelle-nuit-de-chaos

In ihnen manifestiert sich zunächst Hass, Feindschaft und Zerstörungsbereitschaft gegenüber dem als repressiv identifizierten französischen Staat. Ähnlich sind die Einstellungen gegenüber den Institutionen von Erziehung und Kultur. Offenkundig werden diese subjektiv als Orte des persönlichen Versagens und der Erniedrigung, objektiv als Stätten der Aufherrschung einer fremden, bei gleichzeitiger Marginalisierung, wenn nicht Unterdrückung, der eigenen (islamischen) Kultur gesehen und bekämpft.

III. Zu den tieferen Konflikt-Ursachen

  1. Die Banlieues – Immigration und Koloniales Erbe

(1) Charakteristisch für die Banlieues sind ihre Wohnblocks. In den 1920er Jahren von Le Corbusier als moderne „Wohnmaschinen“ konzipiert, sollten sie Wirtschaftlichkeit und Komfort sowie Einrichtungen des täglichen Bedarfs miteinander verbinden. Mit Beginn der 1960er Jahre wurde dem erhöhten Bedarf an günstigem städtischen Wohnraum angesichts von demographischer Entwicklung, Urbanisierung und Industrialisierung Rechnung tragend, von der öffentlichen Hand und dabei nicht zuletzt unter der Regie linker/kommunistischer Bürgermeister im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus an der Peripherie der Stadtzentren umfangreich in solche Wohnblocks/ Plattenbau investiert.[11] Wegen ihrer günstigen Mieten[12]  von jungen Familien gerade auch der Mittelschicht gesucht, verschlechterten sich im Laufe der Jahrzehnte Bausubstanz, veränderten sich Einwohnerprofil und vorherrschende soziale und kulturelle Identität. [13] Unterschichtzugehörigkeit, Armut und Unsicherheit im Verbund mit ausgeprägter Multikulturalität durch massenhaften Zuzug von Migranten vor allem aus den ehemaligen französischen Kolonien Nord- und Schwarzafrikas prägen von nun an das Bild. Eine Tendenz zur sozial-kulturellen Ghettoisierung unter arabisch-islamischem Vorzeichen bildete sich heraus.

(2) 53% der Wohneinheiten in Nanterre als Beispiel für die um Paris gelagerten Vorstädte mit ihren jeweils rd. 100.000 Einwohnern fallen in die Kategorie HLM (im sozialen Wohnungsbau lebend; nur 15 % wohnen in Privathäusern. Die Wohnungen sind eng, eher wenig isoliert, der Wohnungswechsel besonders ausgeprägt.[14] Atypisch ist mit 43% der unter 30-jährigen und 15% der über 60-jährigen zunächst der jugendliche Altersaufbau der Bevölkerung. Gravierender noch: die Einkommen liegen etwa 50% unter dem nationalen Durchschnitt. 21% der Bewohner sind arbeitslos, bei Jugendlichen unter 30 steigt die Quote auf 23%. Das sind fast doppelt so hohe Werte wie der Gesamtbevölkerung. Auch in Frankreich gilt zudem, dass bei Bewerbungen Kandidaten mit arabischen Namen schlechtere Erfolgschancen haben. Kein Wunder, dass sich Frustration breitmacht, Banden bilden, Drogenhandel und Schwarzmarkt blühen. Wer beruflich vorankommen will, zieht früher oder später weg.                                                                                                                                                                      

(3) Sie bereiten den Boden für eine wachsende männlich dominierte, kulturell-ethisch eher an traditionellen Bildern und Vorstellungen orientierte Parallelgesellschaft gekennzeichnet von Clans und angeführt von ‚grands frères‘.  Gleichzeitig bildet sich eine Schattenwirtschaft charakterisiert von Drogenhandel, Schwarzmarkt und Suche nach schnellem Geld. In diesen Milieus finden sich häufig alleinerziehende, berufstätige, mehrheitlich weniger qualifizierte und zudem schlecht bezahlte Frauen. Sekundäre Opfer sind die Kinder. Nicht überraschend finden sich gerade deren Söhne zahlreich unter den schlechten Schülern, wenn nicht Schulabbrechern. Statt Hort des Lernens, beruflicher Qualifikation und Voraussetzung für sozial-kulturelle Integration und sozio-ökonomischen Aufstieg ist die Schule für sie ein feindlicher Ort, verhasstes Symbol persönlichen Versagens und der Demütigung sowie Instanz der Indoktrinierung der herrschenden Kultur. Fehlende Autorität der Eltern/Mütter wird ergänzt durch die gegenüber den Lehrern. Orientierungslos, sich selbst überlassen, finden sie sich in Gruppen Gleichgesinnter in ihrem Wohnblock gegenüber denen anderer desselben Viertels zusammen.

Gerade sie bildeten die Trupps, die in den letzten Juni-Tagen  nachts durch die Straßen zogen, Schulen, Kulturzentren und Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs ihres eigenen Viertels anzündeten, Müllcontainer und Autos abfackelten, Schaufensterscheiben einschlugen und Geschäfte plünderten.    Zahlenmäßig nur eine kleine Minderheit in Vororten/Banlieues und Städten, sozial und ökonomisch marginalisiert, aber gewaltbereit, stellten sie den Kern der Aufrührer, die ihrer grundlegenden Ablehnung, wenn nicht Hass auf die Mehrheitsgesellschaft und ihre Institutionen zerstörerisch Luft verschafften.

Zwar haben die Regierungen aller Couleur in den letzten Jahrzehnten verschiedene städtische Entwicklungs- und Rehabilitationsprogramme aufgelegt und mit viel Geld -mindestens 10 Mrd. € jährlich- zur Verbesserung der Wohnsituation und der Infrastruktur, inkl. des öffentlichen Nahverkehrs und der schnellen Anbindung an die Stadtzentren zur Verfügung gestellt. Doch die marginalisierten Jugendlichen wurden damit nicht erreicht, an ihrer Situation änderte sich wenig. Es fehlt an umfangreichen, den Verhältnissen angepassten Ausbildungs- und Sozialprogrammen sowie Lehrstellen und Arbeitsplätzen. Erfolge werden sich in jedem Fall erst sehr langfristig abzeichnen.

(4) Polizei und Justizsystem spielen in diesem Kontext und der öffentlichen Wahrnehmung eine zunehmend negative bzw. konfliktverschärfende Rolle. Das Justizsystem ist personell unterbesetzt mit der Folge, dass Verfahren nicht nur sehr lange dauern, sondern jedes Jahr 100.000 Gerichtsurteile nicht vollstreckt werden können. Als faktische Straffreiheit wahrgenommen, ist gerade bei Bagatellfällen eine hohe Wiederholungsrate auffällig. Viel wurde in den letzten Jahren über die französische Polizei geschrieben, Polizeitaktiken als wenig flexibel, militaristisch konfrontativ und brutal beschrieben, ihr Rassismus und Diskriminierung bei der Strafverfolgung vorgeworfen.

Tatsache ist, dass unter Präsident Sarkozy (2007-2012) die bürgernahe Polizeiarbeit abgeschafft und unter seinem sozialdemokratischen Nachfolger Hollande das Recht auf bewaffnete Selbstverteidigung („Lizenz zum Töten“, so Mélenchon) weitergefasst wurde. Beides hat dazu beigetragen, das Verhältnis der Polizei zur Lokalbevölkerung besonders in den Vorstädten entscheidend von Schutz und Sicherheit zu Repression und Willkür zu verschlechtern.[15] Bei drei Viertel der Bevölkerung dagegen genießt die Polizei einen guten Ruf!

(5) „Wir sind keine Soziologen oder Stadtplaner. Unsere Rolle besteht in einer politischen Einschätzung eines politischen Problems mit dem Ziel politischer Antworten.“ Auf diesem Hintergrund und in der Absicht einer breiten politischen Mobilisierung will der Führer des linksextremen ‚Unbeugsamen Frankreich‘ Jean-Luc Mélenchon den Unruhen und ihren Trägern eine historische revolutionäre Perspektive unterlegen, indem er sie als ‚soziale Revolte‘ und Klassenkampf charakterisiert. Die Daten stützen ihn nicht: Angehörige des „Lumpenproletariats“ gingen spontan, ohne irgendwelche politische Forderungen plan- und organisationslos und ohne Unterstützung  der Bevölkerung ihrer Banlieues, die sich im Gegenteil schützend vor ihre Schulen stellten, noch gar breiterer Klassenfraktionen der übrigen Gesellschaft zerstörerisch zu Werke.

Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass viele der Vorstädte seit vielen Jahrzehnten von kommunistischen Bürgermeistern und Stadträten regiert werden, der politisch organisierte Protest gegen die etablierten Parteien und Regierungen sich im Rahmen der bürgerlichen Demokratie in den letzten Wahlen überwiegend für Kandidaten der NUPES (New Ecological and Social People's Union) entschieden und sich jeder Solidaritätsbekundungen mit den militanten Aufrührern enthalten haben.


2. Immigration, Integration und die Ideale von 1789

Die Ideale der Revolution von 1789 Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit konkretisiert in der Trennung von Kirche und Staat von 1905 und die in die Verfassung aufgenommenen Zielsetzungen des Programms des Nationalrats der Résistance von 1944 bestimmen bis heute das allgemeine soziale und politische Bewusstsein ebenso wie das programmatische Handeln der Republik. So ist zunächst einmal Franzose, wer in Frankreich, und dazu gehörte als integraler Bestandteil bis 1963 Algerien, geboren ist bzw. französische Eltern hat.
Zum anderen sind im Namen des Laizismus alle sichtbaren Anzeichen religiöser Zugehörigkeit bei Staatsangestellten oder auch in Schulen strikt untersagt, wie sich medienwirksam immer wieder in Konflikten um bzw. Verboten von Kopftüchern bei Schülerinnen beweist. Unverrückbarer Bestandteil französischer kollektiver Identität und Grundprinzip der Erziehungspolitik werden sie durch ein zentralisiertes, landesweit verbindliches identisches Lehrprogramm auf Dauer zementiert. Identität und Kultur der Mehrheit werden dadurch zwar gesichert, doch jede Flexibilität beim Umgang mit multiethnischen, multikulturellen Klassen und sozial-ökonomisch unterprivilegierten Kontexten verhindert.

Für die auf sechs Mio. geschätzte rd. 10% der Bevölkerung ausmachende islamisch-maghrebinische Minderheit bedeutet das konkret: es gibt nur Integration als Assimilation. War für die erste Generation von Immigranten die Integration in den Arbeitsmarkt entscheidend, hat sich dies für die folgenden Generationen zunehmend auf die Ebene der Kultur verschoben. Die internationale Entwicklung, vor allem im Verhältnis zu den früheren Kolonien, der Aufstieg des globalen Südens, Politisierung und Radikalisierung des Islam haben ihre Spuren nicht nur in den außenpolitischen Beziehungen, hier insbesondere zu Algerien, sondern auch in den innenpolitischen bzw. innergesellschaftlichen Verhältnissen hinterlassen.

Das Ergebnis ist eine kulturell zunehmend fragmentierte französische Gesellschaft, in der sich zumindest Teile, vor allem Unterschichtangehörige der maghrebinischen Einwanderer insbesondere dort, wo sie auch territoriale Cluster bilden, politisch-religiös radikalisiert haben. Die Umsetzung der Ideale der Revolution wird von ihnen als aggressiver hegemonialer Kulturkampf erlebt. Ihre Forderungen und Lebensformen werden umgekehrt als Gefahr des ‚Kommunitarismus‘, Gefährdung von Laizismus und damit der Grundlage von Meinungs-, Religionsfreiheit und Toleranz bekämpft.
Sie werden leichte Beute rechtsextremer immigrationsfeindlicher, anti-muslimischer Parteien.
Sie beschwören eine Zukunft der durch Immigration und höhere Geburtenrate verursachten ethnisch-kulturellen Überfremdung, ‘le grand remplacement‘,[16] herauf. Und gewalttätige, medial verstärkte Unruhen mit maghrebinischen Beteiligten dienen unabhängig von sozialen Hintergründen und durch eventuelle polizeiliche Übergriffe hervorgerufene Anlässe als Mittel rechter Politisierung mit dem Akzent auf Xenophobie, Angst und Unsicherheit.

IV. Gesellschaft und Republik in der Krise

Die jüngsten Unruhen ausgehend von den Banlieues sind nur ein weiteres Glied in einer Kette von gewaltbegleiteten Protestaktionen, die die französische Gesellschaft und Politik in den letzten Jahren erschüttern. Sie sind Symptome einer wachsenden Fragmentierung und Polarisierung, in der das frühere ‚Nebeneinander‘ durch ein ‚Gegeneinander‘ ersetzt wird. Dabei verschieben sich die Konfliktlinien von Klassenwidersprüchen zu territorialen und ethnisch-kulturellen bzw. identitären Problemen der Ungleichbehandlung. Konfrontiert mit unterschiedlichen partikularen Forderungen erweisen sich Regierung und das demokratische System selbst als unfähig bzw. abgehoben, werden als parteiisch erfahren und zunehmend abgelehnt. Im Ergebnis macht sich einerseits Politikverdrossenheit im Verbund mit Wahlenthaltung gerade unter jüngeren Altersgruppen breit.
Daneben verlagert sich in der Tradition von 1789 und dem Glauben, andernfalls bei den Regierenden kein Gehör zu finden, der Protest schnell auf die Straße, wobei trotz allgemeiner Ablehnung, Ausbrüche von Gewalt nicht verhindert werden.

Die Präsidentschaft Macrons seit 2017 hat eine kaum unterbrochene Abfolge breiten Protests in sehr unterschiedlichen Formen und in ihrem Kern verschiedenen Bevölkerungsgruppen erlebt. Die ‚Gelbwesten‘ machten Ende 2018 den Anfang. Breite Teile der ländlichen und kleinstädtischen Bevölkerung besetzten über Monate Straßen, Plätze und Verkehrsknotenpunkte, um auf die Verarmung, Vernachlässigung und den Abzug staatlicher Dienstleistungen, wie Post, Bank, Gesundheitszentren, aufmerksam zu machen. Die Restriktionen infolge der Covid Pandemie machten den Protesten Anfang 2020 ein Ende. Neben erhöhten Sterberaten, generellem Wachstums- und Wohlstandseinbruch bei gleichzeitig steigernder Ungleichheit machten sich die negativen Auswirkungen von Arbeitseinschränkungen, Ausgeh- und Kontaktsperren besonders unter ärmeren urbanen Sozialschichten sowie bei Jüngeren bemerkbar. Anfang 2023 folgten die allgemeinen Streiks und Protestmärsche gegen die Anhebung des allgemeinen Renteneintritts von 62 auf 64 Jahre. Unter Führung einer alle Gewerkschaften umfassenden Bewegung und unterstützt von rechten wie linken Parteien gingen bis zu 2 Millionen Menschen, vor allem Angestellte und Beamte, in ganz Frankreich auf die Straße.

Die gleichwohl parlamentarisch verabschiedete und in Kraft gesetzte Reform vertiefte die Krise von Regierung, Staat und politischem System.  Der Gesetzgebungsprozess war zwar formell verfassungskonform, wurde aber nur durch Rekurs auf Ausnahmeregelungen unter Umgehung parlamentarischer Abstimmungsverhältnisse und gegen den massiven Widerstand der rechten wie linken Parteien durchgesetzt.

Zeitgleich stiegen im Kontext der russischen Intervention in der Ukraine Energie- und Nahrungsmittelpreise. Die durch Profitmaximierungsinteressen weiter angeheizte Inflation macht vornehmlich den ärmeren Haushalten zu schaffen. 8,9 Mio. Menschen oder 14% der 65 Mio. Einwohner Frankreichs haben verfügen nurmehr über 60% des mittleren Einkommens –aktuell 1130 €). 5 Mio. Menschen gelten als arm mit einem seit 20 Jahren praktisch unveränderten monatlichen Pro-Kopf-Einkommen von heute 726 €. Knapp zwei Drittel leben in (Groß-) Städten, die Hälfte ist unter 30 und jeder Fünfte ist Immigrant bzw. Alleinerziehender.[17]   

Zwar hatte Präsident Macron für sich und seine Regierung nach Verabschiedung der umstrittenen Rentenreform und dem faktischen Ende der Protestbewegung 100 Tage für einen Neuanfang in Aussicht gestellt, doch wurden die Erwartungen und Versprechungen durch die jüngsten vor-städtischen Unruhen mit Gewalt konterkariert.

Verarmung und Ungleichheit, verbreiterte Unzufriedenheit und Zukunftspessimismus nehmen zu, brechen sich teilweise unorganisiert und spontan in wachsendem Masse zunehmend jenseits der Parteien und jenseits des parlamentarischen Prozesses auf der Straße, zudem nicht selten gewaltsam, Bahn.

Dabei stehen bei einer Staatsverschuldung von drei Bio. €, das entspricht 115 % des BIP, allenfalls geringe Mittel für Neuinvestitionen zur Verfügung, von zusätzlichen Sozialausgaben ganz zu schweigen. Zusätzliche Mittel durch Wirtschaftswachstum und/oder Besteuerung der Reichen sind ideologisch angesichts der Mehrheitsverhältnisse und der neuen Sicherheits-cum-Militarisierungsdoktrin kaum realistisch. Dabei sind Umverteilung zu Gunsten der sozial Schwachen, massive Investitionen in die ökologische Transformation bei gleichzeitiger prinzipieller Veränderung von Lebens- und Konsumweise absolut unerlässlich, will man schlimmere Umwelt- und Gesellschaftskrisen vermeiden bzw. zumindest eindämmen.

Die Fragmentierung und Polarisierung im Verbund mit steigender Ungleichheit und Konfliktbereitschaft bei sinkender internationaler Wettbewerbsfähigkeit und Schwäche des politischen Systems lassen keinen Optimismus für die Zukunft des Landes aufkommen. Die jüngsten Unruhen befeuern das Gefühl der Unsicherheit und des nationalen Abstiegs in der Mehrheitsgesellschaft. Davon profitieren allein die Rechtsextremen. Sie wissen, ihre Stunde ist gekommen.

  

Quellenangaben

[1] So Jean-Luc Mélenchon, Vorsitzender der linksextremen Partei ‘La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich)am 14.Juli 2023 « La Révolte des Quartiers est une Lutte de classes » https://www.youtube.com/channel/UCk-_PEY3iC6DIGJKuoEe9bw     

[2] Exterminismus : In der Wirtschaftssoziologie: kritischer Begriff der Friedensforschung und Friedensbewegung (E.P Thompson) für den Willen zu einer äußerst schnellen und äußerst risikoreichen Eskalation von internationalen Konflikten, die zum Einsatz von Waffen mit unkalkulierbaren und unkontrollierbaren Wirkungen und Folgen (Auslöschung von Bevölkerungen und Ökosystemen) führt.

[3] So das Traoré Komitee oder die Assoziation magrebhinischer Arbeiter, die den ‚kleinen Nahel“ als Opfer einer „Exekution“ sieht. Jean Luc Melenchon, Gründer und Vorsitzender der linksextremen Partei La France insoumise LFI oder „unbeugsames Frankreich“) sieht zudem eine faschistoide Entwicklung mit Aushöhlung der Demokratie durch die Exekutive, die ihrerseits die Kontrolle über die Sicherheitskräfte verloren hat, herausziehen.  atmf 29.Juin 2023 « Communiqué : Nahel ».  https://www.lexpress.fr/societe/justice-pour-nahel-linfluence-grandissante-du-comite-adama-traore-SNI4DFFNGZCEBONP27WXS2FA7Q/

[4] https://fr.news.yahoo.com/mort-nahel-d%C3%A9clarations-florian-m-074500102.html https://www.lefigaro.fr/faits-divers/mort-de-nahel-le-recit-de-la-course-poursuite-minute-par-minute-20230629  http://www.atmf.org/?p=8732,

[5] https://www.lepoint.fr/societe/nahel-un-gamin-de-quartier-a-la-vie-brisee-apres-un-controle-routier-30-06-2023-2526925_23.php siehe auch https://www.bfmtv.com/police-justice/qui-etait-nahel-l-adolescent-tue-par-un-tir-policier-a-nanterre_AV-202306280650.html  Er war zwar seit 2021 in einem Ausbildungsgang als Elektriker eingeschrieben, aber selten präsent. „Le jeune homme avait un profil d'élève absentéiste ».

[6] https://www.leparisien.fr/politique/emeutes-en-france-macron-quitte-le-sommet-europeen-de-bruxelles-et-annule-sa-conference-de-presse-finale

[7] Ouest France vom 5.7.23  https://www.ouest-france.fr/faits-divers/emeutes-urbaines/emeutes-urbaines-auditionne-par-le-senat-gerald-darmanin-fait-parler-la-verite-des-chiffres

[8] https://www.francetvinfo.fr/faits-divers/adolescent-tue-par-un-policier-a-nanterre/direct-emeutes-apres-la-mort-de-nahel-20-interpellations-dans-la-nuit_5933753.html 

[9] https://www.lemonde.fr/societe/article/2023/07/07/la-cartographie-d-une-semaine-d-emeutes-en-france_6180894_3224.html  « 170 n’avaient pas de quartiers « politique de la ville », appellation administrative des quartiers autrefois dits « sensibles », « populaires » ou « prioritaires ». Si la France n’en est pas à sa première vague de violences urbaines, celles-ci n’avaient jamais été aussi étendues ni généralisées sur le territoire, des plus grands centres urbains aux plus petites agglomérations. 

[10] https://www.lopinion.fr/politique/emeutes-la-repartition-chiffree-des-prenoms-des-2-300-interpelles-en-zone-police  Das Sample umfasst keine Personen aus Paris und seiner Peripherie, da diese in den Zuständigkeitsbereich der Gendarmerie und nicht der Polizei fallen.

[11] Une nouvelle Charte d’Athènes pour penser l’urbanisme (chroniques-architecture.com)

[12] Typischerweise werden diese Wohnblocks unter der Bezeichnung HLM (Habitations à loyer modéré) geführt.

[13] https://de.wikipedia.org/wiki/Unit%C3%A9_d%E2%80%99Habitation Den Kern der Idee stellte Le Corbusier bereits 1925 in Paris vor, mit dem Pavillon de l’Esprit Nouveau. Le Corbusier sah seinen Gebäudeentwurf als ideale Lösung für eine massenhafte Wiederholung an vielen Orten. Durch standardisierte Serienproduktion wollte er ein hohes Maß an Wirtschaftlichkeit erreichen. Diese Effizienz und die weite Verbreitung sollten einer breiten Masse einen erhöhten Wohnkomfort ermöglichen. Damit sind die Unités d’Habitation Vorläufer der Plattenbauten. Le Corbusier bemühte sich, den menschlichen Anforderungen zu entsprechen, und integrierte verschiedene Einrichtungen des täglichen Bedarfs. Dabei stapelte er Wohnen und andere Funktionen der herkömmlichen Stadt. Dies entsprach Le Corbusiers Leitbild der „vertikalen Stadt“.

[14] https://www.insee.fr/fr/statistiques/2011101?geo=COM-92050 Die Untersuchung bezieht sich auf das Jahr 2020.

[15] UN rights office calls on France to address ‘deep issues’ of racism in policing   “We also emphasize the importance of peaceful assembly. We call on the authorities to ensure use of force by police to address violent elements in demonstrations always respects the principles of legality, necessity, proportionality, non-discrimination, precaution and accountability.  https://news.un.org/en/story/2023/06/1138247

[16] https://www.lejdd.fr/Politique/quest-ce-que-la-theorie-du-grand-remplacement-4077579

[17] https://www.lafinancepourtous.com/2022/12/15/la-pauvrete-en-france-se-stabilise-et-se-concentre-dans-les-poles-urbains/