Können Grenzwerte hier noch schützen?

Ein Blick auf die in den letzten Wochen proklamierten Maßnahmen und Entscheidungen in der bundesdeutschen Verkehrspolitik lässt nichts Gutes mehr erhoffen. Mit großem Eifer scheint Verkehrsminister Andreas Scheuer in seinem zu verantwortenden Ressort eine Verkehrspolitik vorantreiben zu wollen, die Weichen für die Zukunft stellt. Diese Weichenstellung richtet sich ohne große kosmetische Beschönigung gegen das Gemeinwohl – die Förderung des Automobilverkehrs hat Vorrang, selbst wenn „Marmor Stein und Eisen bricht, aber doch die Erde nicht…“

Die alles überlagernde Klimaerhitzung und eine ihrer signifikanten Ursachen, der Automobilverkehr, von internationalen Verkehrsexperten und Wissenschaftlern nicht einmal, nicht zweimal, sondern tausende Male belegt, scheint von verkehrsministerieller Seite bewusst ausgeklammert zu werden. Ein bewusstes Schließen der Augen vor der Realität kommt als spielerisches Element häufig im Kleinkind-Alter vor, im ministerialen Erwachsenen-Alter hingegen ist ein Augen-Schließen vor der Realität grobfahrlässig und brandgefährlich. Stellvertretend für diese fragwürdige Verkehrspolitik lassen sich einige Beispiele herausgreifen, ohne hier jedoch ein komplettes Bild beschreiben zu wollen und zu können.

Die Frontstellung gegen europäische Diesel-Grenzwerte und Hardware-Nachrüstung

Nicht neu, aber brandaktuell wie ein Déjà-vu ist die nach allen Regeln der Kunst inszenierte Fronstellung gegen die drohenden Fahrverbote in innerdeutschen Städten, im Falle einer den Grenzwert überschreitenden Stickoxidkonzentration von 40 Mikrogramm/m3 Luft. Vierzig Mikrogramm NO₂ pro Kubikmeter sind mit einem gesunden Leben nicht zu vereinbaren, wenn man sie im jährlichen Durchschnitt 365 Tage lang einatmet; einem Spitzenwert von zweihundert Mikrogramm NO₂ pro Kubikmeter sollte man nicht länger als 18 Stunden im Jahr ausgesetzt sein. Beziehungsweise gar nicht, fordert die in diesem Punkt strenge Weltgesundheitsorganisation. Die Frontstellung von Andreas Scheuer zielt nach einhelliger Meinung schlicht darauf ab, den Grenzwert auf 50 Mikrogramm/m3 heraufzusetzen, ein politisches Machtdiktat einseitiger Interessenspolitik für die Automobilindustrie.

Rein „zufällig“ taucht brandaktuell in derselben Debatte ein von 100 Lungenspezialisten unterzeichnetes Papier auf, in dem der gesundheitliche Nutzen der aktuellen Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide (NOx) angezweifelt wird.

Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) sieht den Vorstoß der Mediziner als wichtige Initiative, um “Sachlichkeit und Fakten” in die Diesel-Debatte zu bringen. Er vermittelt über seine bevorzugten Medien, dass der wissenschaftliche Ansatz des Lungen-Ärztepapiers das Gewicht habe, den Ansatz des Verbietens, Einschränkens und Verärgerns zu überwinden. Erfreulicherweise bezieht selbst das Umweltministerium gegen diese auffällige „Scheuer-Hilfe“ für die Automobilindustrie eine klare Position. So bringt Staatssekretär Flasbarth verwundert zum Ausdruck, dass es sich bei der Ärzte-Kritik um eine rein politische Erklärung und nicht um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung handle: „Seit 2010 sind diese Grenzwerte einzuhalten. Das tun wir nicht, aber nicht deshalb, weil die Grenzwerte falsch sind, sondern weil die Industrie dreckige Autos verkauft hat und weil die Verkehrspolitik tatenlos zugeguckt hat“. Vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) kommt ebenfalls eine entsprechende Stellungnahme, in der jener Vorstoß der Lungenärzte als unverantwortliche Effekthascherei bewertet wird.

Bezieht man ergänzend hinzu, dass nach wie vor eine Nachrüstung und Finanzierung der grenzwertüberschreitenden und manipulierten Dieselfahrzeugen unterhalb der Euronorm 5 aussteht, liegt der Verdacht einer unheiligen Kumpanei nicht mehr fern. Die mehrfach abgehaltenen Diesel-Gipfel mit Beteiligung u. a. von Angela Merkel, dem Verkehrsministerium, den Chefs der Automobilkonzerne und verschiedenster Interessensverbänden führten bislang zu Absichtserklärungen, einem Minimal-förder-Programm für die Ausstattung der Kommunen mit Elektrobussen sowie ein freiwilliges Prämienprogramm der Autokonzerne bei einem Umstieg auf ein Elektro-Fahrzeug. Was niemals zur Debatte stand, waren politisch korrekte Ansagen an die Automobilkonzerne und Profiteure, für den finanziellen Schaden zu haften, der durch den Verkauf manipulierter Diesel-Autos entstanden ist.

Eine Verschärfung der Vorgaben für die Produktion von schadstoffarmen Fahrzeugen liegt in den Machtbefugnissen des Verkehrsministeriums und seines ihm unterstellten Kraftfahrzeug Bundesamtes, KBA. Der Verdacht liegt nahe, dass Andreas Scheuer damit die programmatischen Grundlagen schaffen will für eine Umbenennung seiner CSU in eine Christliche Stickoxid Union. Wer weiß das schon?

Der Wirtschaftsrat der CDU forderte wegen der Debatte um Feinstaub-Grenzwerte ein Moratorium für die Fahrverbote. „Offenkundig bestehen immer größere – auch medizinische Zweifel – an der Sinnhaftigkeit der Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide. Angeregt wird eine wissenschaftliche Neubewertung der existierenden Grenzwerte. „Bis dahin sollten die bereits beschlossenen Diesel-Fahrverbote ausgesetzt werden“ (Generalsekretär Wolfgang Steiger).

Hier treffen sich scheinbar ganz zwanglos die Interessen der Christlichen Stickoxid Union mit jenen der “Brüder und Schwestern“ (Kramp-Karrenbauer) aus der Christlichen Diesel Union (entliehen von der Deutschen Umwelthilfe, DUH).

Dringlichkeit der Debatte um ein Tempolimit auf deutschen Straßen

Die strikte Ablehnung eines Tempolimits auf bundesdeutschen Straßen ist ein weiteres rückwärtsgewandtes Vorgehen der gegenwärtigen Verkehrspolitik. Die jahrzehntelang zusammengetragenen Erkenntnisse von Wissenschaft und Verkehrsexperten führen den Nachweis, dass auch ein Tempolimit ein signifikanter Hebel ist, einen signifikanten Beitrag zur Verhinderung der weiteren Klimaerhitzung zu leisten.

Fürwahr ein banales Bekenntnis – aber die Wissenschaft belegt es: ohne gesundes Klima ist alles nichts. Mit einem Tempolimit von 120 km/h auf der Autobahn und 80 km/h auf der Landstraße könnte in Deutschland eine jährliche Einsparung von bis zu fünf Millionen Tonnen CO2-Emissionen erzielt werden. Das Aufstellen der dafür erforderlichen Tafeln „Tempo 120…. Tempo 80“ könnte eine so reiche Nation wie Deutschland mit einem Bruttoinlandsprodukt von 3,39 Billionen € gerade noch finanzieren, sofern der Menschenverstand gegenüber der ministeriellen Blindheit obsiegen würde. Aus Sicht des Autors ist jede Maßnahme, die eine Reduzierung der Verkehrstoten bewirkt, ohne Wenn und Aber zu befürworten. Und diese Forderung findet mittlerweile breite Zustimmung, trotz der ideologischen Beschwörung der Freiheit des Einzelnen (Christian Lindner, FDP). Diese Freiheit ist die rücksichtslose Freiheit des staatlich begünstigten Unternehmertums, Freiheit für die Kapitalverwertung für Konzerne und ihre Produktion von fossilen Verbrennungs-Autos.

Die Freiheit der Mehrheit meint etwas anderes: über die die Hälfte der Bevölkerung einschließlich der sozialen Bewegungen, Umweltverbände und Teile der evangelischen Kirche befürwortet ein generelles Tempolimit. Selbst die von Andreas Scheuer eingesetzte Regierungskommission, ein breit aufgestelltes Expertengremium, das nicht unter Ideologieverdacht steht, befürwortet in ihrer beauftragten Expertise ein generelles Tempolimit auf Autobahnen.

Die Expertise trägt zwar zweifelsfrei den Charakter des „invented here“, beauftragt von Scheuer selbst. Aber sie wird von ihm als unbrauchbar zurückgewiesen. Die Frage nach dem Willen des Andreas Scheuer, eine Verkehrspolitik der Zukunft zu entwerfen, geschweige denn eine solche nach rationalen Erkenntnissen planbar zu gestalten, ist spätestens nach dem Aussetzen der Kommissionsarbeit der Experten nicht abschließend zu beantworten. Wenn über ein Tempolimit eine Verringerung von Toten und Schwerverletzten zu erzielen ist, die Stausituationen sich entsprechend eines dynamischeren Verkehrsflusses bei reduzierter gleichmäßiger Geschwindigkeit verbessern ließe und ein positiver Klimaeffekt durch Emissionen erreichbar ist, lohnt sich die Suche nach einem entsprechenden Verkehrsminister.

Verkehrswende

Oberstes Ziel einer zeitgerechten und an den Bedarfen einer öffentlichen Mobilitätsversorgung ausgerichteten Verkehrspolitik bedeutet eine Verkehrs- und Strukturpolitik der Dezentralität.

Notwendig sind Investitionen und Maßnahmen, die Dezentralität und Nähe fördern. Auf diese Weise könnten in großem Maßstab Verkehrswege verkürzt und das Verkehrsaufkommen in Summe eingeschränkt werden. Dem heute existierenden strukturellen Zwang, ein Auto für die individuelle Mobilität zu nutzen, sollte die Prämisse einer zukunftsorientierten Verkehrspolitik entgegengesetzt werden: Abkehr von der bestehenden Verkehrsmarktordnung, Einschränkung der roten Verkehrsarten Luftverkehr, Schifffahrt, Straßenverkehr und insbesondere der PKW-Verkehr.

 Für eine weiterführende Beschäftigung mit der Thematik sind u. a. Thesen zu einer alternativen Verkehrspolitik zu empfehlen, nachzulesen im isw report 112/113.

Quellen