Die Corona-Krise schränkt das Arbeitsleben und die vertrauten Alltagsabläufe für ganz viele Menschen ein. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen sind noch nicht in Gänze vorhersehbar.
Die Corona-Krise verändert die Mobilität. Der ÖPNV ist auf das Nötigste reduziert. Neue Mobilitätsformen pausieren. Das bedeutet in seiner Konsequenz, dass der Individualverkehr, also ein Umsteigen zurück auf das Autofahren als die einzige Alternative erscheint, für all diejenigen, die trotz der Corona-Krise ihren Weg zum Arbeitsplatz wahrnehmen müssen.
Neben den vielerorts eingeleiteten gesundheitlichen Schutzmaßnahmen und den Vorbereitungen, das wirtschaftliche und öffentliche Leben unter dem Eindruck der hinterlassenen Spuren wiederzubeleben, bleibt der Klimaschutz ein dringendes weltweites Gebot der Stunde. Die erstarkten Bewegungen für eine nachhaltige Wirtschaft und eine Verkehrswende, für die Millionen Menschen weltweit auf die Straße gegangen sind, sollten im Anbetracht der Corona-Krise nicht kampflos aufgegeben werden.
Die vielen gemeinschaftlich errungenen Erfolge von Umweltverbänden, sozialen Bewegungen und vor allem der Klimaschutzbewegung sind einem nicht zu unterschätzenden „Hebel der Mächtigen“ ausgeliefert. Es besteht die Gefahr eines Zurückdrängens der vielen erfolgten kleinen Schritte für eine Verkehrswende mit Alternativen zum automobilen Individualverkehr, Klima- und Umweltschutz. Der für den Verkehrssektor angemahnte Beitrag zur Einhaltung der Klimaschutzziele 2030 durch eine Minderung der CO2-Emissionen könnte infolge der unübersehbaren Auswirkungen der Corona-Krise schlussendlich zum Erliegen kommen.
Aussetzen der CO2-Grenzwerte
Die europäischen Lobbygruppen der Automobilkonzerne, Zulieferer, Reifenhersteller und deren Handelsorganisationen setzen sich vor dem Hintergrund der Corona-Krise für eine Verschiebung der CO2-Vorgaben der EU für die Autobranche und der drohenden Strafzahlungen der Hersteller ein. In einem Schreiben an die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen weisen sie auf die Auswirkungen der Covid-19-Krise auf den Automobilsektor hin und auf die von der EU zu treffenden Maßnahmen zum Schutz der wirtschaftlichen Interessen der Automobilindustrie.
Es müsse mehr getan werden, um die Liquidität der Unternehmen mit Finanzierungshilfen über das bisher bekannte Maß hinaus zu gewährleisten. Das Top-Management der deutschen Hersteller setzte sich sogar in einem Gespräch mit Angela Merkel dafür ein, staatliche Maßnahmen nicht nur für sich, sondern auch für die vielen kleineren Zulieferbetriebe der Großen zu gewährleisten. Die unter Druck geratene Profitabilität der Autokonzerne sollte keinen größeren Schaden nehmen, weshalb die Versorgungsketten für die hoffentlich bald wieder anlaufende Automobilproduktion keinen allzu großen profitschädigenden Schaden anrichte – das Großkapital denkt an sich und zeigt Herz für die abhängigen Kleinen.
Aber das Hauptanliegen der Auto-Lobbyisten richtet sich gegen die bestehenden CO2-Vorgaben, die alle Autokonzerne dazu verpflichten, im Jahr 2020 einen Grenzwert von 95g pro Kilometer im Mittel ihrer angebotenen Neu-PKW einzuhalten. Im Brief der Auto-Lobby an Ursula von der Leyen heißt es dazu: „Derzeit finden keine Produktions-, Entwicklungs-, Test- oder Homologationsarbeiten statt. Dies stört die Pläne, die wir gemacht hatten, um uns darauf vorzubereiten, bestehende und zukünftige EU-Gesetze und -Vorschriften innerhalb der in diesen Vorschriften festgelegten Fristen einzuhalten“. Man müsse darüber nachdenken, dass einige Anpassungen, insbesondere am Zeitpunkt dieser Gesetze vorgenommen werden müssten.
Einer aktuellen Analyse des Beratungsunternehmens PA Consulting ist zu entnehmen, dass die CO2-Emissionen bei einem Teil der Autokonzerne sogar gestiegen sind. Und das geschehe in einer Zeit, in der die Grenzwerte schon in den vergangenen Jahren von den Grenzwerten der EU weit entfernt waren. Laut der Analyse von PA Consulting werden alle 13 führenden Automobilhersteller Europas ihre Ziele für 2021 voraussichtlich verfehlen und mit Strafzahlungen von insgesamt 14,5 Milliarden Euro rechnen müssen.
Aber „natürlich“ würden die Hersteller unverändert an der Einhaltung der CO2-Grenzwerte festhalten wollen. Hierzu der Wortlaut des besagten Lobby-Briefes an die EU: „Wir versichern Ihnen jedoch, dass wir weder die Gesetze als solche noch die zugrunde liegenden Ziele der Verkehrssicherheit, des Klimaschutzes und des Umweltschutzes in Frage stellen wollen.“
Ein prognostizierter Rückgang der Neuzulassungen in 2020 von bis zu 20% plus der Strafzahlungen zwingt die Konzerne zum Handeln. Nach überstandener Corona-Krise dürfte die Autoindustrie alle Hebel in Bewegung setzen, die Ausfälle des Abverkaufs vor allem durch die reichlich verfügbaren PKW mit Benzin- und Dieselantrieb einigermaßen abzumildern. Die ohnehin nicht einhaltbaren CO2-Emissionsvorgaben führen damit aber zwangsläufig zu den besagten Strafzahlungen. Und die eingeleiteten wenn auch noch zögerlichen Schritte hin zum ergänzenden Angebot an PKW mit Elektroantrieb, ohne die das Einhalten der EU-Grenzwerte eine Illusion wäre, geraten ins Stocken.
Diese Auswirkungen sind wahrscheinlich, obgleich die Auto-Lobby bei der Festlegung der Grenzwerte schon massiv und erfolgreich interveniert hatte:
- So dürfen die Hersteller 2020 bei der Bestimmung der Grenzwerte pauschal die schadstoffreichsten 5 Prozent aller verkauften Autos aus der Berechnung streichen.
- Technische Maßnahmen, die sich nicht im Messzyklus bemerkbar machen und trotzdem nachweisbar wirksam sind, werden ebenfalls eingerechnet. Ein Beispiel hierfür sind LED-Scheinwerfer, die schrittweise das Halogenlicht ersetzen werden.
- Die Hersteller sind berechtigt, sich bilanziell zur Grenzwerteinhaltung zusammentun. Beispielsweise könnte Tesla mit PSA und Fiat-Chrysler kooperieren. Alles hat seinen Preis. Aus Sicht der EU ist gleichgültig, wie sich das CO2-Ziel mathematisch erreichen lässt.
Elektroautos, die von den Autokonzernen als einen erforderlichen Schritt zur Einhaltung der 95g/km eingesteuert werden – sie werden bei der Berechnung der Grenzwerte mit 0,0 gr CO2 berücksichtigt – dürften nach der Krise aufgrund ihrer Preisstellung vergleichsweise weniger nachgefragt werden als Neufahrzeuge mit Benzin- resp. Dieselantrieb. Die Verkäufe von Elektroautos haben zwar im Krisenmonat März signifikant zugelegt, aber im Jahresvergleich lagen ihre Gesamtzulassungen gerade mal bei unter 2% Marktanteil. Wie groß die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist, zeigen weitere Daten aus der PA-Analyse: Um die CO2-Grenzwerte doch noch einzuhalten, müssten die Automobilhersteller in Europa mehr als 2,5 Millionen zusätzliche Batterie-Elektrofahrzeuge verkaufen – das entspricht einer Steigerung von 1280 Prozent bis 2021. Unrealistisch erscheint das auch, weil es zuletzt immer neue Meldungen zu verzögerten Produktionsanläufen oder langen Lieferzeiten bei Elektromodellen gab.
Ungefragte Schützenhilfe für das Ansinnen der Auto-Lobbyisten leistet der frühere EU-Kommissar Günther Öttinger mit seinem Vorschlag, die CO2-Regulierung angesichts der Corona-Pandemie zu lockern. Die Politik dürfe nach seiner Auffassung nicht auf Vorgaben beharren, die unter anderen Geschäftsgrundlagen beschlossen wurden. Um eine existenzielle Schwächung der Unternehmen zu verhindern, dürfe es keine Denkverbote geben.
Einspruch
Verbände aus dem Bereich der erneuerbaren Energie und der Elektromobilität und wenden sich mit drastischen Worten gegen die unverhohlenen Vorschläge von Günther Öttinger und der Automobil-Lobby.
Die Präsidentin des Bundesverbandes Erneuerbare Energie e.V. (BEE) Simone Peter kritisiert den Vorstoß Oettingers: “Die Corona-Krise gegen die Klimakrise zu stellen, ist völlig kontraproduktiv. Wir müssen im Gegenteil daraus lernen und frühzeitig auf die Wissenschaft hören“. Die CO2-Grenzwerte für Neuwagen in der EU jetzt zu lockern, hieße, die Wettbewerbsbedingungen für saubere Mobilität zu verschlechtern.” Damit würden nicht nur die Klimaziele gefährdet, sondern Europa würde im internationalen Wettbewerb um klimafreundliche Technologien noch weiter zurückfallen. Das muss von der Bundesregierung klar abgelehnt werden.
In einer gemeinsamen Presseerklärung mehrerer Verbände erklärte der Präsident des Bundesverbandes eMobilität (BEM), Kurt Sigl: “Der Vorschlag zur Verschiebung der CO2-Abgaben ist selten dreist und kontraproduktiv”. “Den gesellschaftlichen Ausnahmezustand durch die Corona-Vorsorge zu benutzen, um industrielle Vorteile zu erlangen, ist schamlos und schockierend, noch dazu, wenn sie von einem ehemaligen EU-Kommissar transportiert werden Presseerklärung mehrerer Verbände mit. Wie groß die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist, zeigen weitere Daten aus der PA-Analyse: Um die CO₂-Grenzwerte doch noch einzuhalten, müssten die Automobilhersteller in Europa mehr als 2,5 Millionen zusätzliche Batterie-Elektrofahrzeuge verkaufen – das entspricht einer Steigerung von 1280 Prozent bis 2021. Unrealistisch erscheint das auch, weil es zuletzt immer neue Meldungen zu verzögerten Produktionsanläufen oder langen Lieferzeiten bei Elektromodellen gab.
“Die Corona-Krise zu nutzen, um die notwendigen CO2-Reduktionsziele aufzulockern ist auf das Äußerste zu kritisieren”, erklärte Thomic Ruschmeyer, Vorsitzender des Bundesverbandes Solare Mobilität (BSM). “Wir müssen nicht nur in der Gesundheitsvorsorge, sondern im globalen Zusammenhang lernen, einen wirklichen Neustart zu einer nachhaltigen Welt mit erneuerbarer Energieversorgung und Mobilität schnellstmöglich aufzubauen.”
Der Verkehrs- und Sozialforscher Prof. Dr. Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) beantwortet die Frage, ob die Corona-Krise die Verkehrswende und das Mobilitätsverhalten nachdrücklich verändert, mit den Worten: „Wir haben einen völligen Verlust der Vielfalt“. Alle erforderlichen Dinge, die für eine neue Mobilität erforderlich seien, wie etwa Fernbahnen in der gewünschten Frequenz, U-Bahnverkehr, e-Roller, Car-Sharing, digitale Plattformen für das Angebot von Mitfahrgelegenheiten seien nur noch in reduzierter Form verfügbar. Umweltschutzmaßnahmen im Verkehr würden zugunsten einer Wiederbelebung der Wirtschaft zurückgestellt. Er stellt in diesem Zusammenhang das Aufrechterhalten des mit Verbrennungsmotoren betriebenen Individualverkehrs in Frage. Man fände infolge des geringeren Verkehrsaufkommens und des viel geringeren Lärms eine qualitativ bessere und attraktivere Stadt vor.
Zuzustimmen ist seiner Forderung, jetzt intensiv darüber nachzudenken und daran festzuhalten, „wie wir den Verkehr in Zukunft besser organisieren“ wollen.