Die Deutsche Bundesbank (DBB) hat im Monatsbericht vom Oktober 2019 ein Grundsatzpapier zur Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung vorgelegt. Die Rentenversicherung sei auf Dauer nur zu stabilisieren, wenn sowohl die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung als auch der Bundeszuschuss deutlich erhöht werden. Gleichzeitig müsse die Rentenhöhe sinken und die Lebensarbeitszeit verlängert werden.

Die demografische Entwicklung erfordere das unausweichlich. Die Anzahl der Menschen im erwerbstätigen Alter nehme ab, die Menschen im Rentenalter dagegen nähmen zu und lebten länger. Das sei unbezahlbar. Den Aussagen der Bundesbank zur Demografie liegt die mittlere Variante der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statischen Bundesamtes zugrunde. Die Bundesbank verlängert, ausgehend von diesen Daten, die Vorausschau auf das Jahr 2070. 50 Jahre vorausschauen zu wollen ist falsch! Wer im Jahr 1900 unter linearer Fortschreibung einzelner sozio-ökonomischer Daten das Jahr 1950 beschrieben hätte, wäre komplett falsch gelegen. Auch 1950 hätte eine Vorschau auf das Jahr 2000 kaum realistische Ergebnisse erbracht.

Die Lebensarbeitszeit müsse über das 67te Lebensjahr hinaus angehoben werden, nachdem laut Bundesbank die Lebenserwartung von 84,4 im Jahr 2018 bis auf 89,0 Jahre in 2070 ansteige (S. 66). Das Renteneintrittsalter soll in 2070 dann bei 69 Jahren und vier Monaten liegen.

Die Entwicklung der Lebenserwartung hat sich in den letzten 12 Jahren stark verlangsamt und es ist anzunehmen, dass sie sich auf Grund zunehmender sozialer und gesundheitlicher Risiken weiter verlangsamen wird.

Von den USA wird berichtet, dass die Lebenserwartung inzwischen rückläufig sei. Da unsicher sei, wie sich die Lebenserwartung konkret entwickle, schlägt die Bundesbank eine Indizierung vor. Steige die Lebenserwartung, müsse die Rente gesenkt werden. Viele Menschen sterben schon vor Erreichen des Renteneinstiegsalters. Die durchschnittliche statistische Lebenserwartung ab Geburt liegt bei Männern bei 78,5 und bei Frauen bei 83,3 Jahren. Lebenserwartung und damit Rentenbezugsdauer sind stark von der sozialen Stellung abhängig. 27 Prozent der Männer der niedrigsten Einkommensgruppe sterben vor der Vollendung des 65ten Lebensjahres. In der höchsten Einkommensgruppe sind es dagegen nur 14 Prozent. 13,2 % der Frauen der niedrigsten Einkommensgruppe sterben vor Vollendung des 65ten Lebensjahres, in der höchsten Einkommensgruppe sind es 8,3 Prozent.

Die folgende Tabelle zeigt die Mittlere Lebenserwartung nach Einkommensgruppen.

Mittlere Lebenserwartung nach Einkommensgruppen 

  Einkommensgruppen
(Median-Einkommen)
Mittlere Lebenserwartung
(bei Geburt)
Männer
  < 60 Prozent 71 Jahre
  60 – 79 Prozent 73,3 Jahre
  80 – 99 Prozent 75,2 Jahre
  100 – 149 Prozent 76.0 Jahre
  150 — Prozent 79,6 Jahre
Frauen
  < 60 Prozent 78,4 Jahre
  60 – 79 Prozent 79,7 Jahre
  80 – 99 Prozent 80,7 Jahre
  100 – 149 Prozent 82,1 Jahre
  150 – Prozent 82,8 Jahre
Quelle

Bei Männern differierte die Rentenbezugsdauer zwischen der ärmsten und der wohlhabendsten Gruppe um 8,6 Jahre. Bei Frauen betrug die Differenz 4,4 Jahre. Durch Tod vor Erreichen des Renten-Eintrittsalters und geringe Rentenbezugsdauer finanzieren die ärmeren Schichten der Erwerbstätigen die Renten der besser Gestellten mit. Diese Unterschiede interessieren die Bundesbanker nicht. Allen soll ein noch höheres Renteneintrittsalter zugemutet werden mit der Folge, dass ein großer Teil der Rentenversicherten – und zwar der ärmere – keine oder nur wenige Jahre Rente erhält.

Durch die Forderung, nahezu bis zum 70ten Lebensjahr zu arbeiten, wird die Lebensqualität dieser Gruppe (Verrentung vom 65ten bis zum 70ten Lebensjahr verschoben) massiv eingeschränkt. Wer mit 63 Jahren aus dem Erwerbsleben ausscheidet, hat vielfach die Chance, noch 12 Lebensjahre bei guter Gesundheit zu verbringen. Danach steigen die gesundheitlichen Risiken. Viele Menschen leben im hohen Alter mit schweren Erkrankungen.

Der Bundesbank scheint daran gelegen, die Beiträge der Arbeitgeber zur Rentenversicherung niedrig zu halten und den Bundeshaushalt von sozialen Ausgaben entlasten. Deshalb bewertet sie demografische Entwicklungen nicht im Zusammenhang mit der Entwicklung der Produktivität. Das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner, ist von 19,829 Tausend Euro im Jahr 1991 auf 40,339 Tausend Euro im Jahr 2018 gestiegen.

Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg im selben Zeitraum bei Männern um gut 6 Jahre, bei Frauen um knapp 5 Jahre. Die Produktivität hat sich im gleichen Zeitraum mehr als verdoppelt, was sich in den erfolgten Rentenanpassungen nicht entsprechend wiederfindet. Weiter stellt die Bundesbank die Senioren (ab 65 Lebensjahre) im Vergleich zu der Generation im erwerbsfähigen Alter (20 bis 64- Jährige) dar und leitet daraus horrende Belastungen ab. Aus dem Volkseinkommen müssen alle Menschen ernährt werden. Die Anzahl der Menschen unter 20 Jahren nimmt aber deutlich ab, ebenso die Zahl der Nichterwerbspersonen an der Gruppe der 20 bis 64-Jährigen. Es ist somit von einer Steigerung der Produktivität bei der Gruppe der Erwerbstätigen auszugehen, so dass die Belastung durch die ansteigende Zahl der Rentner aufgrund der steigenden Lebenserwartung in ihrer fiskalischen Auswirkung deshalb viel weniger dramatisch ausfällt als die Bundesbank behauptet.

2017 lag der prozentuale Anteil der BezieherInnen an Altersrenten in Deutschland an der Bevölkerung bei 22 Prozent. Der Anteil der gesetzlichen Altersrenten am Volkseinkommen war nur 8,35 Prozent. Das ist eine beschämende Zahl, die für sich schon anzeigt, dass eine Rentenreform mit entsprechender Anhebung der Rentenbezüge dringend erforderlich ist. Kern dieser Reform muss sein, dass alle am Erwerbsleben Beteiligten, auch Selbstständige, Beamte und Politiker in die Rentenversicherung einzuzahlen haben.

Das will die Bundesbank verhindern. Nach ihrer Auffassung müssten die Renten sinken. Nur die Verlängerung der Lebensarbeitszeit mache es möglich, das heutige Rentenniveau von 44 Prozent zu halten (45 Jahre Beitragszahlung auf Basis eines durchschnittlichen Einkommens und dem durchschnittlichen Einkommen eines Arbeitsnehmers/einer Arbeitnehmerin.)

Das Rentenniveau beschreibt also das Verhältnis der Rente zum Nettolohn vor Abzug von Steuern. Vom Bruttolohn werden nur die Sozialversicherungsbeiträge abgezogen, nicht aber die Steuer. Das ist das sogenannte bereinigte Netto. Daraus berechnet sich das Rentenniveau. Es beträgt heute 48,3 Prozent des „bereinigten Netto“ und soll bis 2070 noch um 4,3 Punkte sinken. 2017 betrug die Durchschnittsrente 873 Euro. 2070 würde sie demnach nur noch 755 Euro betragen und läge unterhalb der Grundsicherung. Zum Erwerb der Standardrente (die Rente, die jemand erhalten würde, der 45 Versicherungsjahre aufweisen kann und in der Gesamtzeit den Durchschnittslohn verdient hat) schlägt die Bundesbank zudem noch eine weitere Rentenkürzung vor. Weil die notwendige Lebensarbeitszeit steige, müssten auch die Rentenjahre steigen. 2017 betrug die Standardrente netto vor Steuern 1.231 Euro. Müsste man für die gleiche Rente zwei Jahre länger arbeiten, käme das heute einer Rentenkürzung von 66 Euro gleich. Die durchschnittliche Nettorente nach 45 Beitragsjahren würde nur noch 1.165 Euro betragen. Da aber das Rentenniveau generell um 4,3 Prozentpunkte sinken soll, wäre die Rente nach 45 Jahren tatsächlich nur noch 1.061 Euro.

45 Beitragsjahre zur Rentenversicherung erreichen nur ein Viertel der RentnerInnen. Die große Mehrheit hat weniger als 40 Beitragsjahre. Außerdem gehen 23 Prozent der RentenbezieherInnen vorzeitig in Rente und nehmen Abschläge in Kauf, weil sie die berufliche Arbeitsbelastung nicht mehr aushalten wollen. Jede Lebensarbeitsverlängerung vergrößert den Abstand zwischen der wirklichen Lebensarbeitszeit und dem gesetzlichen Rentenbeginn und schmälert dadurch mit höheren Abzügen die individuellen Renten.

Wenn man die Lebensarbeitszeit nicht verlängere und die Rentenhöhe beibehalte, müssten nach Aussagen der Bundesbank, die Rentenausgaben des Bundes kräftig erhöht werden, und zwar um 7 Prozentpunkte des Umsatzsteuersatzes. Das würde eine jährliche Erhöhung der Rentenausgaben um 840 Mio. Euro bedeuten. Bis zur „Halbzeit“ im Jahr 2045 wären es dann zusätzlich 21 Mrd. Euro. Der Bund teilt der Rentenversicherung Jahr für Jahr Aufgaben zu, deren Finanzierung nicht durch die Rentenbeiträge gedeckt ist. Die bisherigen Zuschüsse des Bundes zur Rentenversicherung gleichen schon diese zusätzlichen Ausgaben für die zugewiesenen Aufgaben nicht aus. Die Unterdeckung beträgt ca. 35 Milliarden jährlich.

Eine erhebliche Erhöhung des Bundeszuschusses ist somit dringend geboten. Die Einnahmen dafür können nur über Steuern erbracht werden. Es ist sehr bezeichnend, dass die Bundesbank dabei allein auf die Umsatzsteuer abhebt. Diese belastet vor allem die Masse der VerbraucherInnen und damit wieder am stärksten die Ärmsten der Werktätigen. An die Erhöhung der Einkommenssteuer oder Körperschaftssteuer denkt sie nicht. Die Reichen sollen geschützt werden.

Auch der Beitragssatz (der Anteil des Arbeitsentgelts in der deutschen Sozialversicherung, der zum Zweck der sozialen Sicherung an die Sozialversicherung abgeführt wird) müsste laut Bundesbank bis 2070 erheblich angehoben werden, wenn Lebensarbeitszeit und Rentenhöhe konstant blieben. Er müsste bis 2070 auf 31 Prozent ansteigen. Das sei aber vor allem den Arbeitgebern nicht zuzumuten. Deswegen gebe es zum Vorschlag der Bundesbank der moderaten Verteilung der Lasten auf 4 Elemente keine Alternative. 

Der Plan der Bundesbank

Lebensarbeitszeit 69 ¹/³ Jahre (Indizierung der Lebenszeit))
Rentenniveau 44 Prozent des bereinigten Nettolohns + Verlängerung der Versicherungsjahre für die Standardrente um 2 Jahre
Beitragssatz 24 Prozent des Bruttolohns
Bundeszuschuss 4¹/² bis 7 Prozent Umsatzsteuer

 

Was der Kapitalismus in 50 Jahren an Krisen und Zerstörungen hervorbringen wird, ist kaum vorherzusehen. Deswegen ist kritisch anzumerken, was die Stellungnahme der Bundesbank gegenwärtig in der Auseinandersetzung um die Rentenpolitik bewirken soll. Seit einiger Zeit tagt im geheimen eine Rentenkommission, die im nächsten Jahr im März Vorschläge für die zukünftige Rentenpolitik unterbreiten soll. Das Papier der Bundesbank hat den Zweck, diese Kommission zu beeinflussen. Dabei sind ihre Vorschläge keineswegs originell. Schon 2018 hat der Rentenpapst Axel Börsch-Supan bei seiner Kritik der doppelten Haltelinien alle Argumente und Daten dargelegt, die die Bundesbank nun ebenfalls ausbreitet. (Eine ausgezeichnete Kritik dazu hat Gerd Bosbach hier und hier geschrieben.) Es ist kaum ein Gedanke zu erkennen, der von denen Börsch-Supans abweicht, auch wenn die Bundesbank das Ganze als Ergebnis eigener Forschung darstellt. Börsch-Supan ist der geistige Vater der Rentenpolitik. Er tritt dafür ein, die Lebensarbeitszeit auf 70 Jahre festzulegen und das Rentenniveau drastisch zu senken. Die Werktätigen sollen die gekürzten Renten mit privater Vorsorge ausgleichen. Das empfiehlt die Bundesbank ebenfalls. Beide sind Interessenvertreter der Versicherungswirtschaft und der Arbeitgeber insgesamt. Ihre Vorschläge zielen auf die weitere Demontage und letztlich die Zerstörung der gesetzlichen Rente. Börsch-Supan sitzt in der Kommission. Die Bundesbank giftet von außen.