Der Kompromiss erzeugt viel Jubel. Besonders die beteiligten Sozialdemokraten klopfen sich auf die Schulter, weil sie es gegen den heftigsten Widerstand der Union geschafft hätten, „einen Vorschlag durchzusetzen, der weit über die Koalitionsvereinbarung hinausragt und Milliardentransfers für rund 1,5 Millionen ältere Arbeitnehmer erstreitet, überwiegend Frauen“.

Worin besteht der Kompromiss? Die SPD wollte langjährig Versicherte mit mindestens 35 Versicherungsjahren aus der Altersarmut herausführen. Um mindestens 10 Prozent sollten deren Renten über der Grundsicherung liegen. Eine Bedürftigkeitsprüfung sollte nicht stattfinden. Es sollte eine echte Rente sein.

Vor allem an der Bedürftigkeitsprüfung entzündete sich der Streit .“Ohne Bedürftigkeitsprüfung würden … rund 80 Prozent der Aufstockungen an Rentner gehen, die gar nicht bedürftig sind“. Die Zahl ist frei erfunden und nachweislich falsch (s.u.). Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) wird von Wirtschaftsverbänden und Unternehmen aus den Reihen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie finanziert. So werden deren Interessen „verwissenschaftlicht“.

Die Wirtschaftsverbände kämpfen wütend gegen eine neue Rentenleistung. Zweimal schaltete die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), eine Tochtergesellschaft des IW, die von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie finanziert wird, ganzseitige Zeitungsanzeigen, um die neue Rente zu Fall zu bringen. Die CDU ist ihr hauptsächlicher parlamentarischer Arm und entsprechend stark war aus ihren Reihen der Widerstand. Auch heute noch gibt es einen starken Flügel in der CDU, der das Inkrafttreten des Gesetzes verhindern möchte.

1.955.945 Millionen langjährig Versicherte sind im Rentenbestand 2018. Davon sind 584.967 Frauen. Der durchschnittliche Zahlbetrag ist 1.116 Euro. Der durchschnittliche Zahlbetrag der Frauen beträgt nur 757 Euro. Die Zahl der Berechtigten für die Grundsicherung wird auf 1,2 bis 1,5 Millionen geschätzt. Woher das Institut der Wirtschaft die Behauptung her nimmt, dass ohne Bedürftigkeitsprüfung 80 Prozent der Grundsicherung an Nichtbedürftige gehen würden, ist nicht nachvollziehbar.

Insofern könnte es als Fortschritt angesehen werden, dass die neue Grundrente überhaupt vom Kabinett beschlossen wurde. Die SPD musste dabei jedoch Federn lassen, denn es gibt sie nun ja doch, die Einkommensprüfung. Die neue Rente erhält nur, wer allein lebt und weniger als 1.250 € regelmäßiges Einkommen erhält. Für Paare gilt eine Einkommensgrenze von 1.950 €. Dadurch wird die Zahl der Berechtigten erheblich eingeschränkt, nachdem sie häufig aus der Grundrente ausgeschlossen werden. Der Partner kann kaum mehr als 1.200 Euro brutto Erwerbseinkommen oder Rente haben, wenn die Einkommensgrenze von 1.950 Euro unterschritten wird.

Man spricht heute von 1,2 bis 1,5 Millionen BezieherInnen statt den geplanten drei bis vier Millionen. Folglich wird nur noch mit Kosten von 1,5 Milliarden Euro statt eines mittleren einstelligen Milliardenbetrags (nach Heils Schätzung) gerechnet. Die Anrechnung von Vermögen, die die CDU forderte, entfällt dagegen. Die gesetzliche Rente kennt keine Einkommensprüfung. In der Grundsicherung (Sozialhilfe) gibt es zusätzlich zur Einkommensprüfung eine Vermögensanrechnung. Insofern ist die neue Grundrente keine richtige Rente.

Ob und wie das Gesetz das Ziel erreicht, allen langjährig Versicherten eine Rente oberhalb der Grundsicherung zu ermöglichen, soll im Folgenden gezeigt werden.

Die CDU hat für Einschränkungen gesorgt. Sie hat durchgesetzt, dass der Zuschlag zur Rente jeweils um 12,5 Prozent gekürzt werden muss, um diejenigen besser zu stellen, die aus „eigener Kraft“ eine Rente oberhalb der Sozialhilfe erreicht haben. Weiter hat sie darauf bestanden, dass das Gesetz nur für diejenigen gilt, die mindestens durchschnittlich 0,3 Entgeltpunkte im Verlauf ihres Arbeitslebens erworben haben. 0,3 Entgeltpunkte entsprechen einem monatlichen Bruttoverdienst von ca. 970 Euro. Wer weniger verdient hat, fällt aus der Grundrente raus. In Heils Entwurf gab es diese Beschränkungen nicht.

Das Gesetz gilt nun also für RentnerInnen, die mindestens 0,3 Entgeltpunkte und maximal 0,79 Entgeltpunkte in mindestens 35 Versicherungsjahren erworben haben. 

Minister Heil hatte als Begründung seiner sogenannten Respektrente immer das Beispiel einer Friseurin genannt, die 40 Jahre lang auf Mindestlohnbasis gearbeitet hat und nur 514 Euro Rente bekommt. Durch sein Modell der Grundrente hätte die Friseurin künftig mit 961 Euro Rente im Monat rechnen können.

Endlich, so freute sich die SPD, habe nun eine Friseurin eine Rente von 933,66 Euro brutto. Die meisten Zeitungen plapperten das mit Begeisterung nach und rechneten nicht nach, ob das Beispiel typisch ist und wie es zustande kam.

Rentenversicherung in Zahlen

Die genannte Friseurin, nennen wir sie Frau B, hätte als Lohnabhängige mit einem Durchschnittslohn von 1.300 Euro brutto einen persönlichen Rentenanspruch von 0,4 Entgeltpunkten pro Jahr erworben. In 35 Jahren ergibt das 14 Entgeltpunkte (EP).

14 x 33,05 Euro (das ist 2019 der allgemeine Rentenwert für einen Entgeltpunkt) = 462,70 Euro. Dieser Wert wird nun verdoppelt. Von der Verdoppelung werden 12,5 Prozent abgezogen (462,70 Euro – 12,5 Prozent = 404,86 Euro). Frau B. hat nun nach 35 Versicherungsjahren eine Bruttorente von 867,56 Euro (462,70 + 404,86 = 867,56 Euro).

Um auf die von der Presse genannten 933,66 Euro kommen, muss sie 40 statt 35 Jahre Versicherungsjahre aufweisen. In diesen zusätzlichen 5 Jahren hat sie einen Rentenanspruch von 66,10 Euro erworben. Nur deswegen beträgt ihre Rente 933,66 Euro. Der Zusatzbetrag ist das Ergebnis ihrer längeren Lebensarbeitszeit und nicht des neuen Gesetzes. Um zu bestimmen, wie hoch der Betrag ist, um den die persönliche Rente angehoben wird, ist von 35 Versicherungsjahren auszugehen. Die Höhe der Grundrente ergibt sich dann in zwei Schritten wie folgt:

Die persönlichen Entgeltpunkte x 35 Versicherungsjahre x 33,05 Euro ergeben die persönliche Rente. Der Zuschlag zur persönlichen Rente ist nach oben begrenzt durch den Rentenwert für 0,8 Entgeltpunkte. 2019 sind das 925,40 Euro (0,8 EP x 35 Jahre x 33,05 aktueller Rentenwert = 925,40 Euro). Beträgt eine persönliche Rente nach 35 Jahren z.B. 600 Euro, wird diese Summe nicht verdoppelt. Es wird nur die Differenz zu 925,44 Euro gebildet. Das sind dann 325,40 Euro. Davon werden 12,5 Prozent abgezogen, bleiben also 285,73 Euro als Zuschlag zur persönlichen Rente.

600 Euro +285,73 Euro = 885,73 Euro brutto. So hoch ist in diesem Fall die neue aufgestockte Grundrente. Meist wird in der Berichterstattung verschwiegen, dass es sich dabei um eine Bruttorente handelt. Von der Bruttorente werden Sozialversicherungsbeiträge abgezogen für jeweils:

Krankenversicherung 7,3 %
Zusatzbeitrag zur Krankenversicherung 0,9 %
Pflegeversicherung 3,05 %
Summe 11,25 %

Die Nettogrundrente im oben genannten Beispiel mit 600 Euro eigener Rente beträgt also 786,09 Euro statt 885,73 brutto. Nach diesem Schema lassen sich der Zuschlag und die neue Grundrente berechnen. Sie beträgt bei 35 Versicherungsjahren:

Entgeltpunkte eigene Rente Zuschlag Bruttorente Nettorente
0,3 347,03 € 303,65 € 650,68 € 577,48 €
0,4 472,70 € 404,86 € 865,56 € 774,67 €
0,5 578,38 € 303,65 € 882,02 € 782,79 €
0,6 694,04 € 202,43 € 896,47 € 795,62 €
0,7 809,76 € 109,94 € 919,70 € 816,13 €
0,79 913,83 € 10,12 € 923,95 € 820,01 €

Bei 35 Versicherungsjahren bleiben alle RentnerInnen mit weniger als 0,8 Entgeltpunkten an der Grenze und unterhalb des Anspruchs auf Grundsicherung (Sozialhilfe). Erst bei längerer Versicherungsdauer kann eine Nettorente oberhalb der Grundsicherung im Alter erreicht werden. Bei Altersrenten in den alten Bundesländern erreichen Frauen 2018 durchschnittlich nur 32 Versicherungsjahre. Sehr viele Frauen kommen deswegen auch mit der Grundrente nicht aus der Armut heraus. Die tabellarische Übersicht zeigt die Renten nach 40 Versicherungsjahren:

Entgeltpunkte eigene Rente nach 40 Beitragsjahren Zuschlag Bruttorente nach 40 Beitragsjahren Nettorente
0,3 396,60 € 303,65 € 700,25 € 621,47 €
0,4 528,80 € 404,86 € 933,66 € 828,62 €
0.5 661,00 € 303,65 € 964,65 € 856,17 €
0.6 793,20 € 202,43 € 995,63 € 883,62 €
0,7 925,40 € 109,94 € 1.035,38 € 918,90 €
0,79 1.044,38 € 10,12 € 1.054,50 € 935,87 €

 

Das alles sind auch nach 40 Versicherungsjahren noch sehr bescheidene Beträge. Viele RentnerInnen bleiben auch nach 40 Versicherungsjahren mit dem Zuschlag zur Rente noch unterhalb der Grundsicherung (Sozialhilfe). Um das zu vermeiden, wurde ein Freibetrag in der Grundsicherung (Sozialhilfe) beschlossen. Er beträgt 100 Euro und dazu 30 Prozent der persönlichen Renten, die über 100 Euro hinausgehen. In dieser Höhe wird Einkommen nicht auf die Grundsicherung angerechnet, bleibt also frei. Der maximale Freibetrag ist 212 Euro (die Hälfte des Regelsatzes von Alleinstehenden in Höhe von 424 Euro). Im Fall der Rentnerin mit 0,3 Entgeltpunkten und 35 Versicherungsjahren beträgt der Freibetrag 161,10 Euro. In einer Bedarfsermittlung des Bundesministeriums für Arbeit für Sozialhilfe, Rente wegen Erwerbsminderung und Grundsicherung im Alter¹ werden in einem Beispiel Bedarfe der Grundsicherung im Alter vorgerechnet:

Regelbedarf 424 €
Kosten der Unterkunft 344 €
Heizkosten   92 €
Summe Bedarf 860 €

Im Fall der Rentnerin mit 0,3 Entgeltpunkten nach 35 Versicherungsjahren, die eine eigene Nettorente von 307,99 Euro hat, werden 100 Euro und 30 Prozent von der darüber liegenden Rente als Freibetrag gewährt. 30 % von 207,99 € sind 62,40 €. Der Freibetrag beträgt also 162,40 Euro. Der Bedarf ist 860 Euro. Die Grundrente ist 577,45 Euro Von dieser Rente wird der Freibetrag abgezogen. 577,45 € – 162,40 € = 415,05 Euro. Diese um den Freibetrag geminderte Rente wird vom Bedarf abgerechnet:

860,00 € Grundsicherungsbedarf
- 415,05 € eigene Rente, die auf den Bedarf angerechnet wird
444,95 € Grundsicherungsbetrag (Sozialhilfe)

Grundrente 577,45 + Grundsicherungsbetrag (444,95€) ergeben zusammen 1.022,40 Euro individuelle Grundsicherung. Da der Freibetrag höchstens 212 Euro betragen darf, könnte bei einem Bedarf von 860 Euro und einer Nettorente von 590 Euro der Höchstbetrag in der Grundsicherung (Sozialhilfe) 1.070 Euro betragen.

Dieser Freibetrag in der Grundrente führt zu dem kuriosen Ergebnis, dass RentnerInnen, die Grundsicherung (Sozialhilfe) beantragen, eine höhere Nettorente erhalten als diejenigen, die nach 35 und mehr Versicherungsjahren nahezu 0,8 Entgeltpunkte in der Rentenversicherung haben. Diese könnten Wohngeld beantragen, weil sie selbst mit der neuen Grundrente ihre Miete nicht voll bezahlen können. Durch den Grundrentenzuschlag verlieren viele von ihnen nun den Anspruch ganz oder teilweise auf Wohngeld. Damit dieser Verlusteffekt nicht eintritt, wurde auch ein Freibetrag beim Wohngeld für BezieherInnen von Grundsicherung beschlossen. Die Höhe des Freibetrags wurde bisher nicht benannt, aber es sollen 80 Millionen Euro dafür im Haushalt bereitgestellt werden.

Mit 35 Versicherungsjahren hat die große Mehrheit der RentnerInnen, die die neue Grundrente erhalten, eine Nettorente unterhalb der Grundsicherung (Sozialhilfe). Auch nach 40 Versicherungsjahren führt die Grundrente für viele nicht über das Niveau der Grundsicherung hinaus.

In Summe zeigt sich, dass das Gesetz finanziell miserabel ausgestattet ist. Viele BezieherInnen der neuen Grundrente müssten weiterhin Grundsicherung (Sozialhilfe) beantragen. Da gilt jedoch die Bedürftigkeitsprüfung. Das Einkommen von PartnerInnen wird wegen der Bedarfsgemeinschaft voll heran gezogen. Das Vermögen wird angerechnet (nur 5.000 Euro pro erwachsene Person bleiben frei). Ein Auto über einem Wert von 7.500 Euro wird ebenfalls angerechnet usw. Damit geht die hoch gelobte Errungenschaft der vereinfachten Einkommensanrechnung bei der Grundrente für viele verloren.

In einer neuen Studie schätzt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, dass 625.000 Haushalte darauf verzichten, Grundsicherung im Alter zu beantragen. Dies ist auch Ergebnis der rigorosen Bedürftigkeitsprüfung. Auch mit dem neuen Gesetz wird sich daran nichts ändern. Viele RentnerInnen, die Anspruch auf ergänzende Grundsicherung hätten, werden weiterhin davor zurückscheuen, Grundsicherung (Sozialhilfe) zu beantragen und sich mit dem begnügen, was die Grundrente ihnen bietet.

Der ursprüngliche Plan der SPD war, drei bis vier Millionen langjährig Versicherte aus der Altersarmut (Maßstab: Grundsicherung) ohne Bedürftigkeitsprüfung herauszuführen. Dieser Plan ist gescheitert:

  1. Die Einkommensprüfung begrenzt die Zahl der Berechtigten deutlich. Die Zahl der Berechtigten und die Kosten der Grundrente werden dadurch mehr als halbiert.
  2. Die Grundrente allein ist oft so niedrig, so dass die Nettorente vielfach noch unterhalb des Bedarfs bei der Grundsicherung (Sozialhilfe) liegt. Erst die Freibeträge der Grundrente erhöhen die Leistungen durch ergänzende Grundsicherung.
  3. Wer Grundsicherung (Sozialhilfe) beantragt, wird auf Bedürftigkeit geprüft. Viele werden deswegen darauf verzichten, Grundsicherung zu beantragen.Die Kosten der Grundrente werden auf ca. 1,5 Milliarden Euro jährlich geschätzt. Die Finanzierung soll ausschließlich aus Bundesmitteln kommen. Dafür ist eine neue Steuer auf Finanztransaktionen angedacht. Bisher ist nur klar, dass die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung sofort um weitere 0,1 Prozent gesenkt werden sollen. Damit wird Arbeitgebern und Beschäftigten ein Geschenk gemacht, das ungefähr den gesamten Kosten der Grundsicherung entspricht. Auch das ist ein Zugeständnis an die CDU, die sich in den meisten Punkte bei dem Kompromiss durchsetzen konnte.

Dennoch geht der jämmerliche Kompromiss vielen Mitgliedern der CDU immer noch viel zu weit und Arbeitgeber-Verbände und Versicherungslobbyisten wollen dafür sorgen, dass das Gesetz in dieser Form nicht in Kraft tritt. Nach deren Politik soll es überhaupt keine Zugeständnisse in der Rentenpolitik mehr geben. Die SPD dagegen feiert die gerupfte Grundrente als großes Werk. Im Grunde will die SPD am Rentendesaster nichts ändern. Sie hat sich von ihren „Reformen“ der Agenda 2010 faktisch nicht losgesagt und betreibt weiter das Geschäft, die gesetzliche Rente zu demontieren. Mit den zusätzlichen Säulen: Riester-Rente und Betriebsrente in der Form von Entgeltumwandlung möchte sie die verängstigte Bevölkerung in die Arme der Versicherungskonzerne treiben und ihnen zusätzlich Geld aus der Tasche ziehen. Die Grundrente ist ihr ärmlicher Versuch, das unsoziale Image zu vertuschen. Das Geschrei um die Grundrente wird weiter gehen. Noch hat der Bundestag das Gesetz nicht verabschiedet. Auch weitere Abstriche sind nicht auszuschließen. Auch ein Scheitern ist möglich.