Biden will ein neues Amerika schaffen, das über manche Grenzen hinweg geeint ein modernes Gesellschaftsbild realisiert, das dem Rivalen China seine Überlegenheit demonstriert, an der Spitze der freien Welt den Untergang der „Autokratien“ bewerkstelligt und der Welt ein Vorbild einer funktionierenden und zufriedenen Gesellschaft vermittelt. Soweit der Plan. Er scheitert schon daran, dass Biden mit seinen Plänen die „amerikanische Krankheit“, nämlich den gewaltigen Unterschied von Arm und Reich nicht nur nicht heilt, sondern weiter verschlimmert. Dieser Unterschied in Einkommen und Vermögen ist nicht nur einer der Identität, der kulturellen Distinktion, vielmehr unterscheidet er die Lebenschancen jedes einzelnen fundamental. Wachse ich beengt auf, in einem Viertel, das nach Gang-Manier organisiert ist, wo der Abschluss der High School schon oft unerreichbar ist – oder habe ich die Chance auf eine Erziehung mit Zuwendung und Wissensvermittlung, Zugang zu College und Universität, gut entlohnter Arbeit und Versorgung für Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter? Oft ein Unterschied auf Leben und Tod, wenn zum Beispiel eine Pandemie ausbricht. Die enorme soziale Ungleichheit verteilt gleichzeitig die Lebenschancen auf Bildung, auf Gesundheit, auf Arbeit, auf Pflege, auf Altersversorgung. Wenn man dies weiß und dann sieht, dass 140 Millionen US-BürgerInnen – 40 Prozent der Bevölkerung – arm oder Niedriglöhner sind (arm ist ein Vier-Personenhaushalt mit weniger als 20.212 $/Jahr, Niedriglöhner ist man mit höchstens 25.624 $), das obere Fünftel der Einkommensbezieher aber mehr verdient als die unteren vier Fünftel, und dieses „Wohlstandsgefälle“ jedes Jahr steiler wird, dann kann man sich vorstellen, dass gewaltige Reformen nötig sind. Das sind die Biden-Reformen nicht, sie führen nicht zum Ziel. Sie verlassen zwar eindeutig das gescheiterte Reagan-Paradigma des Neoliberalismus, wonach die Ausgaben des Staates nicht höher sein dürfen als die Steuereinnahmen und wonach Deregulierung und Steuererleichterungen für das Kapital zu Investitionen und Wachstum, zu Vollbeschäftigung und Massen-Wohlstand führen. Doch bleiben die Ausgaben für ein ökologisches und soziales Zukunftsprogramm weit hinter den Notwendigkeiten zurück – und der Versuch, mit der geringen Erhöhung der „Reichensteuer“, der Erhöhung der Einkommensteuer für Kapitalgewinne, der Festlegung der Gewinnsteuer auf das Vor-Trump-Niveau und dem Drängen auf eine globale Mindeststeuer eine „Umverteilung des Reichtums“ in die Wege zu leiten, ist so kläglich, dass er scheitern muss. Schon die Bemessungsgrundlage, ab der die „Reichensteuer“ ziehen soll, ist absurd. 400.000 Dollar Jahreseinkommen ist nicht bezeichnend für die Mittelklasse, auch nicht für ihren oberen Rand. Das Pew Research Center hat anhand der amtlichen Zahlen eine Dreiteilung der Gesellschaft vorgenommen. 29 % der Amerikaner zählen zum low-income-Bereich, 52 % zur Mittelklasse und 19 % zum upper-income-Bereich (Zahlen von 2018). Das mittlere (Median-) Jahreseinkommen der Mittelschicht liegt bei 78.442 Dollar, jenes der Oberschicht bei 182.872 Dollar. Bidens 400.000 Dollar-Grenze bietet Steuerschutz nicht nur für die wirkliche Mittelschicht – deren Median ein Fünftel der Summe erreicht, ab der Biden den Steuersatz erhöht. Sie schützt auch das Gros der Oberschicht, deren Median-Wert mit rund 188.000 Dollar nicht einmal halb so hoch ist wie Bidens Anfangsgrenze für die „Reichensteuer“. Die Erhöhung der Einkommensteuer für Kapitalgewinne von 20 auf 39,6 % trifft auf dem Papier die Super-Reichen, die den Großteil ihrer Einkommen nicht für ihre Arbeitsleistung, sondern per Rendite ihrer Kapitalanlagen beziehen. Weiter oben sind die Wege der Steuervermeidung beschrieben, die dazu führen, dass die Super-Reichen, wenn sie überhaupt Einkommensteuer bezahlen, dann zu beträchtlich niedrigeren Sätzen als die Durchschnittsverdiener. Bidens Steuertiger hat keine Zähne, wie auch die Erhöhung der Unternehmensteuer von 21 auf 28 % zeigt. Bei Obama lag die Unternehmensteuer bei 35 % und dennoch ist die Spreizung von Einkommen und Vermögen rasant weitergegangen. Trump erst hatte die Körperschaftssteuer auf 21 % heruntergesetzt und damit den Super-Reichen laut Biden eine Billion Dollar mehr zugeschoben. Warum scheut Biden davor zurück, die Steuer mindestens auf das Vor-Trump-Niveau hochzusetzen? Roosevelt hatte seinerzeit die Unternehmensteuer auf 45 % gesetzt.

Grenzsteuersätze bei Roosevelt, Trump, Biden

Bundeseinkommensteuer, höchste Grenzsteuersätze
Roosevelt Trump Biden
ab 100.000 $ ab 207.350  
62% 35%  
ab 1 Million ab 518.400 ab 400.000
72% 37% 39,60%
Steuersätze für Unternehmensgewinne
Roosevelt Trump Biden
45% 21% 28%
Quellen: Lehndorff / Congressional Research Service – 1 $ 1935 = 19,79 $ 2021 – die Dollarbeträge beziehen sich auf das Steuerjahr 2020. In den Trump-Jahren waren sie inflationsbereinigt etwas niedriger. 2021 gelten unverändert die Steuersätze der Trump-Jahre.

Fazit: Biden ist auch von den Steuersätzen her kein Roosevelt – näher bei Trump als bei FDR. Pew Research hat die Einkommensbezieher auch in fünf Quintile (je 20 %) eingeteilt. Das oberste Quintil hat seinen Anteil am Gesamteinkommen von 1968 bis 2018 von 43 auf 53 % erhöht, alle übrigen haben verloren, am meisten die unteren drei Fünftel. Seit 2007 hat folgerichtig nur das oberste Fünftel an Vermögen zu gelegt. Das unterste Fünftel hatte mangels Masse nichts an Vermögen zu verlieren. Die Verluste waren bei den übrigen dort am größten, wo die Fünftel am ärmsten waren. Die USA haben das höchste Niveau an Einkommensungleichheit unter den großen Industrienationen. Der Gini-Index der Einkommensunterschiede (0 = alle haben dasselbe Einkommen, 1 = einer hat alles) liegt in den USA bei 0,434, für Japan bei 0,363, für Deutschland bei 0,351. (Pew Research, a.a.O.) In den USA wird eine wachsende Unterschicht bis hin zur Mittelschicht am Boden der Gesellschaft festgestampft. Biden erhöht weder signifikant die Spitzensteuersätze für hohe Einkommen noch wird seine Steuer auf Kapitalgewinne greifen. Damit garantiert Biden die Fortsetzung der Spaltung. Er spricht nicht für die 40 % Arme und Geringverdiener. Seite Definition der Mittelklasse – Obergrenze 400.000 Dollar Jahreseinkommen – schließt den großen Teil der oberen Mittelschicht und Teile der Oberschicht mit ein, die sich als Gewinner der neoliberalen Kapitalismusentwicklung fühlen können. Unter diesen Gewinnerschichten hat sich eine Gruppe gebildet, der Nancy Fraser den Begriff „progressiver Neoliberalismus zugeschrieben hat. Sie funktionieren an den wichtigen Stellen des neoliberalen Systems, verlangen aber eine Respektierung der diskriminierten Gruppen wie Schwarze, Latinos, Frauen, Flüchtlinge, Schwule, ohne dass sie an die Struktur des Diskriminierungssystems rühren wollen: die Eigentums- und Einkommensverhältnisse. Dies ist eine große Gruppe der Biden-Wählern. Unter den Wählern der unteren Mittelschicht schwindet die Zustimmung zu Biden. Der untere, größer werdende Teil der Bevölkerung ist zum Teil politisch ermattet. Er realisiert, dass auch die Teilhabe und Durchsetzungskraft im politischen Kampf vom Reichtum und den damit verbundenen Lebens- und Eingriffschancen abhängt. Er bleibt dem politischen Leben – noch – eher fern, da er seine Gestaltungsmöglichkeiten gering einschätzt.

Der Text ist der zweite von zwei Teilen und basiert auf dem Buch von Conrad Schuhler: Das Neue Amerika des Joseph R. Biden. Es soll im September 2021 beim Verlag papyrossa, Köln erscheinen.