Dass der Konzern Deutsche Bahn AG ein trauriges Bild abgibt, dürfte unbestritten sein. Das sollte in diesen Tagen der heftigen Bahn-Debatten erneut klargestellt werden: Der Konzern ist überschuldet. Er muss in immer stärkerem Maß mit Steuergeld alimentiert werden. Der Service lässt zu wünschen übrig. Geschlossene Schalter, vernagelte Bahnhöfe und verpisste Unterführungen prägen vielerorts das Infrastruktur-Bild. Der Konzern agiert als Gewerkschaftsfeind und kassiert damit Streiks, die er sich erneut mit Steuergeld bezahlen lässt. An seiner Spitze werkelt mit Richard Lutz und Ronald Pofalla eine Chaos-Truppe. Dass bei diesen Voraussetzungen die vier Feinde der Schiene – Frühling, Sommer, Herbst und Winter – immer wieder aufs Neue zuschlagen können, liegt nahe. Vor diesem Hintergrund sollten alle, die die Bahn lieben, für radikale Vorschläge offen sein. Mit einem „Weiter so“ spielt man Daimler, VW, BMW, Tesla und Lufthansa neue Argumente zu; die miese Performance der Schiene bestärkt die klimazerstörerischen Verkehrsarten. Wer auf die Forderung der Monopolkommission nach „Zerschlagung“ des Bahnkonzerns mit der Forderung nach einer integrierten Bahn nach Vorbild Schweiz antwortet, wird leicht wahrgenommen als im Lager der Verteidiger des Status quo stehend. Die Forderung nach einer Zusammenführung der Infrastrukturgesellschaften und des Aufbaus einer gemeinnützigen Infrastrukturgesellschaft in öffentlichem Eigentum ist, grundsätzlich nicht falsch. In Verbindung mit Konkretisierungen bietet sie Chancen auf einen Neuanfang im Bereich Schiene.

Das Ideal des integrierten Systems Schiene

Unbestritten ist: Das ideale System Schiene ist ein integriertes Gesamtsystem in öffentlichem Eigentum. Die Schweiz macht es vor. Wobei es dort eine Vernetzung des „integrierten Konzerns“ der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), der knapp 60 Prozent des Schienennetzes kontrolliert, mit Dutzenden „Privatbahnen“ gibt. Letztere kontrollieren ihrerseits Teile des Schienennetzes; sie befinden sich weitgehend in kantonalem, also ebenfalls in öffentlichem Eigentum. Auf dieser Basis und mit dieser Struktur ist es der Schweiz gelungen, über das dichteste Schienennetz der Welt zu verfügen, den im internationalen Vergleich dichtesten Taktverkehr und die erneut weltweit höchste Eisenbahn-Kilometerzahl pro Kopf zu realisieren. Dieses Ziel müssen sich alle, die eine konsequente Verkehrswende wollen, immer wieder vor Augen halten und sich ein solches Ziel für den deutschen Schienenverkehr setzen. Und hier gibt es in diesem Kreis keine Meinungsverschiedenheit. Differenzen gibt es bei dem Weg, wie man in Deutschland bei der inzwischen herausgebildeten Schienenverkehrslandschaft zu diesem Ziel gelangt.

Realität heute – Entwicklung 1995 bis 2021

Nach der Wende und im Zeitraum 1990 bis 1994 gab es die Chance, das Schweizer Modell auf deutschem Boden umzusetzen. Diese Chance wurde mit der sogenannten Bahnreform von 1994 – der Bildung der Deutschen Bahn AG – grandios verspielt. Dafür ist auf der politischen Ebene eine große Privatisierer-Koalition aus CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen – unterstützt von der Mehrheit der Umweltverbände – verantwortlich. Wirtschaftspolitisch waren es die Autolobby und die Luftbranche, die diese Option zerstörten. Das wurde dann nochmals gesteigert, als 1999 die SPD-Grünen-Regierung mit Autokanzler Gerhard Schröder an der Spitze einen gewissen Hartmut Mehdorn zum Bahnchef machten. In der Folge wurde der Bahnbörsengang unter Rot-Grün und ab 2015 unter Schwarz-Rot systematisch vorangetrieben. Übrigens hat Mehdorn damals die sachlich nicht zutreffende Behauptung von der „nicht auflösbaren Einheit Rad und Schiene“ aufgebracht. Und warum wohl? Er wollte den Bahnbetrieb UND das Schienennetz an die Börse bringen. Zwar scheiterte dieses Projekt erfreulicherweise im September 2008; Anteil daran hatten Peter Conradi mit seiner Rede auf dem SPD-Parteitag im Oktober 2007, der das SPD-Nein zu dieser Art Bahn-Börsengang brachte, ein GDL-Streik 2007/2008, ein ICE-Radbruch im Juli 2008 in Köln, die Kampagne von Bahn für Alle und der Finanzcrash im Sommer dieses Jahres. Der Prozess von erstens Segmentierung der Bahngesellschaften, zweitens Teilprivatisierung im Betrieb und drittens Pervertierung des Konzerns Deutsche Bahn AG setzte sich auch nach 2008 fort. Im Resultat haben wir heute im Nahverkehr einen Anteil der Nicht-DB-AG-Bahnen (private und öffentliche) von mehr als 40 Prozent. Im Schienengüterverkehr sind es um die 50 Prozent. Und diese Nicht-DB-AG-Betreiber fahren alle auf einem Netz, das weiterhin zu rund 100 Prozent dem Konzern Deutsche Bahn AG gehört. Selbst wenn am 26. September 2021 Rot-Grün-Rot gewählt worden wäre, selbst wenn ein Verkehrsminister Toni Hofreiter dann seine Leidenschaft für spurtstarke E-Pkw zurückgestellt und eine Bahnwende nach dem Modell Schweiz eingeleitet hätte und selbst wenn Dietmar Bartsch freiwillig auf seinen Audi 8 mit 250 PS und eigenem Chauffeur verzichtet und einen Schnellkurs in Bahn- und Öffi-Fahren belegt hätte, hätte das einen Prozess von rund einer Dekade bedeutet. Wobei selbst unter solchen politischen Prämissen eine Ausgliederung der Infrastruktur aus dem Konzern DB AG eine sinnvolle Option gewesen wäre. Hätte, hätte, Schienenfette … So kam es nicht. Umso weiter entfernt sind wir derzeit von einem SBB-Modell.

Innere Struktur des Konzerns Deutsche Bahn AG – Profitmaschine Netzgesellschaften

Der Konzern DB AG ist intern faktisch in drei große Gruppen unterteilt: Erstens in die drei Eisenbahnverkehrs-Unternehmen (EVUs) der DB AG; alle drei sind Konzerntöchter und alle drei sind als eigenständige Aktiengesellschaften aufgestellt. Es handelt sich dabei um DB Regio AG (Nahverkehr), DB Fernverkehr AG (mit den Zuggattungen ICE, IC/EC) und DB Cargo AG (Schienengüterverkehr). Zweites gibt es die überwiegend außerhalb des Bereichs Schiene aktiven Gesellschaften Schenker AG (Logistik; Lkw-Speditionsgeschäft) und Arriva plc (Bus und Bahn), wobei Schenker überwiegend und Arriva ganz im Ausland tätig sind. Schließlich gibt es die drei Infrastrukturgesellschaften DB Netz AG (Trassen), DB Station und Service AG (Bahnhöfe) und DB Energie GmbH (Strom und Diesel). Die drei DB-AG-Betreibergesellschaften verlieren von Jahr zu Jahr Anteile an die „Privaten“. Di[1]e „Privaten“ – die Nicht-DB-AG-EVUs – sind jedoch weiter komplett von den drei Infrastrukturgesellschaften der DB AG abhängig. Sie müssen also für die Trassennutzung, für Bahnhofshalte und für Energie hohe Summen an den Bahnkonzern – der zugleich ihr Konkurrent ist – bezahlen. Diese Struktur führte einigermaßen logisch dazu, dass der Bahnkonzern mit ständig höheren Entgelten für Trassen und Bahnhofsnutzung und mit überhöhten Energiepreisen eine Gewinnmaximierungsmaschine angeworfen hat – und dass er im Grunde dann besonders viel verdient, wenn er dabei die hohen Entgelte von NICHT-DB-AG-EVUs erhält. Wenn überhöhte Trassengebühren z.B. von DB Fernverkehr oder DB Cargo bezogen werden, dann gilt „linke Tasche – rechte Tasche“: den höheren Gewinnen bei DB Netz stehen meist geringere Gewinne oder gar Verluste bei DB Fernverkehr oder DB Cargo gegenüber[2]. Wenn jedoch Nicht-DB-AG-EVUs diese hohen Infrastrukturentgelte bezahlen, dann sind das ungeschmälerte Gewinne des Konzerns DB AG. Für den Bahnkonzern gibt es somit eine widersprüchliche Interessenslage; hohe Anteile der eigenen Konzerntöchter DB Regio, DB Fernverkehr und DB Cargo im jeweiligen Verkehrsmarkt sind eher sekundär. Die Gewinne sprudeln genauso gut und oft besser, wenn die „Privaten“ – die Nicht-DB-AG-EVUs – wachsende Marktanteile haben. Dann gilt: linke Tasche und rechte Tasche füllen sich. Und so kommt es zu einer verstörenden Gesamtbilanz im Bahnkonzern. Seit mehr als 15 Jahren sind die Infrastrukturgesellschaften die entscheidenden Gewinnbringer. Die von ihnen den EVUs abverlangten Entgelte sind oft so hoch, dass sie als Schienenverkehr behindernd oder sogar als Schienenverkehr verhindernd bezeichnet werden müssen. Konkret: 2019, im Jahr vor Corona, machten die drei EVUs der DB insgesamt 585 Millionen Euro Gewinn. Die drei Netzgesellschaften jedoch brachten es auf 1060 Millionen. Im Corona-Jahr 2020 häuften dann die drei DB-AG-EVUs Verluste in einer Höhe von 2860 Millionen Euro auf. Doch die drei Infrastrukturgesellschaften machten selbst in diesem Jahr noch 438 Millionen Euro Gewinne[3]. Dass 2020 diese Gewinne im Infrastrukturbereich zustande kamen, indem in starkem Maß von minimal ausgelasteten Personenzügen die Trassengelder, die Bahnhofsentgelte und die Energierechnungen ohne Abzüge kassiert wurden, lässt die Vorstände der DB-Infrastruktur-Gesellschaften kalt. Gewinn ist Gewinn – und für die Verluste bei den DB-Betreibergesellschaften kommt gegebenenfalls erneut der Steuerzahler über Sonderzuwendungen wegen Pandemie auf.

Plädoyer für eine differenzierte Sicht

In der inneren Logik des Bahnkonzerns gibt es keine relevanten Stimuli für den Erhalt, die Pflege und den Ausbau des Netzes. Im Gegenteil. Infrastrukturkosten sind Sand im Getriebe der beschriebenen Gewinnmaschine. Es ist daher vor allem die beschriebene Struktur des DB-Konzerns, die dazu beiträgt, dass das Schienennetz systematisch zerstört wird. Die Tatsache, dass seit 1994 die Betriebslänge des Netzes von 41.300 auf (am 31.12.2020 ) 33.399 Kilometer und damit um 7901 Kilometer, was wiederum 19,1 Prozent entspricht, abgebaut wurde, ist bereits Europa-Rekord. Bei den wichtigeren Indikatoren wie Zahl der Weichen (minus 50,2 Prozent) und Zahl der Gleisanschlüsse (minus 80,2 Prozent) könnte es sich um Weltrekorde handeln[4]. Diese Zerstörung von Schieneninfrastruktur ist auch in der deutschen Eisenbahngeschichte – die Kriegszeiten ausgenommen – einmalig. Ein Beibehalten dieses Status quo wird logisch dazu führen, dass dieser Prozess der Selbstzerstörung sich fortsetzt. Es gab seit 1994 buchstäblich kein einziges Jahr, in dem diese Schieneninfrastruktur nicht abgebaut worden wäre[5]. Integriert und Trennung von Netz und Betrieb - ein internationaler Vergleich Es ist mit Fakten nicht belegbar, dass ein integriertes System Schiene prinzipiell vorteilhaft sei im Vergleich zu einem System, in dem Netz und Betrieb in getrennten Gesellschaften organisiert sind. Das zeigt ein Vergleich zwischen fünf europäischen Ländern mit „integrierten“ Eisenbahngesellschaften (Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und Schweiz) und fünf Ländern, in denen es eine staatliche Infrastrukturgesellschaft und davon getrennte EVUs gibt (Spanien, Großbritannien, Niederlande, Schweden und Dänemark). Personenverkehr in Millionen Personenkilometern[6] in zehn europäischen Ländern – fünf mit „integrierten“ Bahnkonzernen und fünf mit einer Trennung von Netz und Betrieb[7]

  1995 2000 2010 2017 Wachstum 2017 gegenüber 1995 Wachstum 2017 gegenüber 2000
  in Mio Pkm Wachstum in Prozent
Länder mit integrierten Eisenbahnen
Deutschland 71,0 75,4 83,9 95,8 34,9% 27,1%
Frankreich 46,8 74,9 92,4 100,1 113,8% 33,6%
Italien 46,7 49,6 47,2 53,2 13,9% 7,2%
Österreich 10,1 8,7 10,3 12,7 25,7% 45,9%
Schweiz 11,7 12,6 19,2 20,9 78,6% 65,8%
Länder mit unabhängiger, staatlicher Infrastrukturgesellschaft
Spanien* 16,6 20,1 22,5 27,5 65,7% 38,6%
Großbritannien* 30,3 38,4 55,8 68,6 127,4% 79,4%
Niederlande* 16,1 14,7 16,9 18,4 14,2% 25,2%
Schweden* 6,8 8,2 11,2 13,3 95,6% 62,2%
Dänemark* 4,9 5,5 6,3 6,3 28,6% 14,5%

* Die Trennung in einen teilprivatisierten Betrieb und in ein staatliches Netz erfolgte jeweils wie folgt: in Spanien 2005, in Großbritannien 2001 (1996 bis 2001 = auch Netz privat); Niederlande 2003; Schweden 1988 und Dänemark 1996. Bei dem Vergleich schneidet die zweite Gruppe – jene mit einer staatlichen, unabhängigen Infrastrukturgesellschaft – nicht schlechter ab als diejenige, in denen es einen führenden Bahnkonzern mit integriertem Netz gibt. Bezieht man Eisenbahn-Unfälle mit ein, so ergibt dies ein ähnliches Bild – und keinerlei Vorteil für die „integrierten“ Eisenbahnen. Nimmt man gar die Entwicklung der Infrastruktur als entscheidenden Indikator, so gab es ausgerechnet in den Ländern Deutschland, Frankreich und Österreich den größten Netzabbau; und auch im Vergleich beider Gruppen miteinander in Gänze ist bei diesem Indikator die Bilanz für die Schienensysteme mit Trennung von Netz und Betrieb die bessere[8]. Schließlich lohnt ein Blick auf die zerstörerischen und unnützen Großprojekte, von unseren italienischen Freundinnen und Freunde als „grandi opere inutili e imposte“ bezeichnet: Solche gibt es vor allem in Ländern mit integrierten Eisenbahnen – siehe Stuttgart 21, Val di Susa, Brenner-Basis-Tunnel, möglicherweise weil es hier weit weniger Transparenz und damit die Möglichkeiten gibt, gigantische Summen an Steuermilliarden in Beton zu gießen. Übrigens: Sieht man von dem Sonderfall Großbritannien ab[9], so erfolgte die Trennung von Netz und Betrieb in den aufgeführten Ländern ohne größere Probleme und jeweils binnen weniger Monate. Die Behauptung, ein solcher Trennungsprozess würde viele Jahre dauern, lässt sich nicht belegen. Das sind, wohlgemerkt, keine grundsätzlichen Argumente für die Trennung. Beschrieben wird mit diesen Fakten der unterschiedliche Weg der Zerstörung integrierter Eisenbahnen, wie es diesen in Europa spätestens seit Mitte der 1990er Jahre gibt. Und in diesem Segmentierungsprozess gibt es – vorsichtig ausgedrückt – keine Vorteile für diejenigen Systeme, in denen der integrierte Bahnkonzern erhalten und Monopolist der gesamten Infrastruktur blieb.

Welche Art Infrastrukturgesellschaft macht Sinn?

Wer in der gegebenen Lage, in der sich in Deutschland das System Schiene im Allgemeinen und der Konzern Deutsche Bahn AG befinden, grundsätzlich an der „Integration“ der Infrastrukturgesellschaften im Konzern Deutsche Bahn AG und an einem umfassend integrierten System Schiene als Sofortziel festhält, wird mit einiger Berechtigung identifiziert mit der Verteidigung des katastrophalen Status quo. Wenn die FDP die Trennung fordert, so hat sie dafür spezifische Gründe. Es geht um „maximalen Wettbewerb“ und um Privatisierungen. Wenn CDU/CSU, SPD, AfD, Bundesverband der Arbeitgeber (BdA), Bundesverband der Industrie (BDI) und der Vorstand der Deutschen Bahn AG den „integrierten Konzern“ verteidigen, dann verbinden diese damit wiederum spezifische Interessen. Es geht dann meist um Global Player-Politik, wobei die Vergangenheit gezeigt hat, dass die Privatisierungstendenzen im Inland sich ja auch bei Existenz eines integrierten Konzerns verstärken können. In Italien ist es sogar ausgerechnet der integrierte Konzern FS, der das Entstehen der privaten Konkurrenz NTV mit deren Hochgeschwindigkeitszügen „Italo“ gefördert hat. Aus fortschrittlicher Sicht macht die Herauslösung der Infrastruktur aus dem Konzern DB AG Sinn, wenn dies an konkrete Bedingungen geknüpft wird. Solche Bedingungen sind:

  • Die Zusammenfassung der drei Infrastrukturgesellschaften Netz, Bahnhöfe und Energie in einer einheitlichen Gesellschaft, die umfassend für alle Infrastruktur-Aspekte (Netz, Bahnhöfe, Fahrplan, Ticketing usw.) verantwortlich ist und die damit sich in Deutschland zum entscheidenden „Unternehmen Zukunft Schiene“ entwickelt.
  • Diese neue Infrastrukturgesellschaft muss eine gemeinnützige Unternehmensform erhalten (z.B. Anstalt des öffentlichen Rechts) und sich in Gänze in öffentlichem Eigentum befinden. Sie darf nicht einem Ministerium oder der Bundesregierung unterstellt und damit Spielball der Launen und der spezifischer Parteiinteressen ausgesetzt werden.
  • Die neue Infrastrukturgesellschaft muss ein Unternehmensstatut aufweisen mit der klaren, primären Zielsetzung „Verlagerung von Verkehren auf die Schiene“ – was etwas anderes ist als die abstrakte und unter bestimmten Bedingungen das Klima schädigende Forderung nach „Verdopplung“ der Fahrgast-Zahlen. Dies erfordert eine massive Reduktion der Entgelte für Trassen und Bahnhofsnutzung und niedrigere Preise für den Bezug von Energie.
  • Notwendig ist ein grundsätzliches Verbot des Verkaufs von Bahnimmobilien und von Bahngelände; ergänzt um ein Programm zur Reaktivierung von Bahnhöfen beziehungsweise zum Rückkauf privatisierter Bahnhöfe und deren Wiederbelebung.
  • Die neue Infrastrukturgesellschaft muss alle Großprojekte auf den Prüfstand stellen und für umfassende Transparenz sorgen. Bahnzerstörerische oder kontraproduktive Projekte wie Stuttgart 21, die Verlegung des Bahnhofs Altona nach Diebsteich, der Bau eines 40 Meter tiefen Frankfurter Fernbahntunnel, die 300-km/h-Hochgeschwindigkeitsstrecke Hannover – Bielefeld oder der Bau einer Zweiten S-Bahn-Stammstrecke müssen aufgegeben und die hier vorliegenden Alternativen geprüft werden.
  • Jede Orientierung auf „mehr Wettbewerb auf der Schiene“ ist abzulehnen. Dies gilt dabei insbesondere für eine entsprechende Öffnung im Schienenpersonenfernverkehr. Stattdessen muss der Bund als Eigentümer der DB AG, die dann ein reines Eisenbahnverkehrsunternehmen ist, für einen optimalen, einheitlichen Schienenfernverkehr Sorge tragen und unter anderem das im Grundgesetz Artikel 87e, Absatz 4, seit 1993 geforderte Schienenpersonenfernverkehrs-Gesetz auf den Weg bringen. Gift im System Schiene ist nicht eine getrennte Infrastrukturgesellschaft, sondern der sogenannte Wettbewerb und der buntscheckige Flickenteppich mit einzelnen Privatbahnen.
  • Ein konkreter, ehrgeiziger Zeitplan zur 100-Prozent-Elektrifizierung des gesamten Schienennetzes muss erarbeitet und umgesetzt werden.
  • Die Deutsche Bahn muss alle Auslandsbeteiligungen, insoweit sie nicht dem direkt grenzüberschreitendem Verkehr dienen, verkaufen und sich auf den Kernbereich Bahnverkehr im eigenen Land konzentrieren.
  • Der Erhalt der Arbeitsplätze und die Schaffung neuer Arbeitsplätze in Bereich Schiene sind zu gewährleisten; Infrastrukturgesellschaft und Betreibergesellschaften sind auf eine gedeihliche Zusammenarbeit mit den Bahngewerkschaften und auf die Einhaltung hoher Standards zu verpflichten.

Mit solchen präzisen Positionen müsste in die aktuelle Debatte zur Zukunft der Schiene eingegriffen werden. Bestehende Bündnisse wie Bahn für Alle, die Bahngewerkschaften EVG und GDL, Umwelt- und fortschrittliche Verkehrsverbände wie VCD, PRO BAHN und BUND und bahnfreundliche Parteien wie Grüne, LINKE und SPD wären gefordert, sich mit einem solchen Modell im Schienenverkehr auseinanderzusetzen beziehungsweise dafür zu werben. Ein solches Modell wiederum wäre eine neue Startbasis, um ein zukünftig wieder einheitliches Schienensystem komplett in öffentlichem Eigentum und nach dem Vorbild Schweiz konkret anzugehen. Die Herausbildung von Länderbahnen bzw. die Stärkung derselben mit Übernahme privater EVUs (Stichwort: Abellio-Pleite) weisen in diese Richtung.

Unrealistisch? Aber klar doch!

Sind solche Forderungen und Perspektiven ein Wunschkonzert? Natürlich! Konsequente Politik besteht immer auch aus einem Katalog von Forderungen und Wünschen. Es ist auch nicht realistisch, dass die neoliberale FDP und wettbewerbs-orientierte Grüne diesen Forderungen von sich aus zustimmen würden. Dieses Wunschkonzert hat jedoch einen guten Klang – und es kann die Basis dafür sein, alle Menschen guten Willens in Sachen Klima und Verkehrswende zu versammeln und laut und mit Aktionen für eine Klimabahn zu werben. Umgekehrt birgt die Forderung, jetzt in Richtung eines SBB-Modells zu schreiten, so richtig sie grundsätzlich ist, das Risiko in sich, als überfordernd zu wirken. Damit trägt man eine richtige, aber in der gegebenen Situation abstrakte Forderung vor sich her und begibt sich der Chance, die Realitäten im Schienennetz wahrzunehmen, auf diese konkret zu reagieren und sich in die konkrete Politik einzuklinken. Im Grunde steht auf der Tagesordnung eine breit angelegte Konferenz zur Notwendigkeit einer Verkehrswende mit der Schiene im Zentrum, auf der die unterschiedlichen Positionen – natürlich einschließlich des Modells SBB – diskutiert werden und mit der Druck auf die Ampel ausgeübt wird.


[1] Diese „Privaten“ sind oft Töchter von Staatsbahnen der Nachbarländer: Abellio als Tochter der niederländischen Staatsbahn, SBB Cargo als SBB-Tochter und Netinera ist als Tochter der italienischen Tren Italia (die wiederum Tochter der Holding FS ist. Netinera ist u.a. beteiligt an den EVUs Metronom und erixx). [2] Im Regionalverkehr ist es dann nochmals komplexer: Kassiert DB Netz hohe und wachsende Trassengebühren bei DB Regio, dann führt das mittelfristig dazu, dass ein Druck ausgeübt wird zur Erhöhung der Regionalisierungsgelder des Bundes, mit denen der Schienenpersonennahverkehr der Länder finanziert wird. Damit kann der DB-Konzern mittelfristig die geringeren Gewinne bei DB Regio durch mehr Steuergelder kofinanzieren. [3] Erneut nach Daten und Fakten, hier Ausgabe 2020. Basis: EBIT bereinigt (EBIT = earnings before interest and taxes, Gewinn vor Zinsen und Steuern). [4] 1994 gab es im Schienennetz (DB AG) noch 131.968 Weichen; 2020 waren es 65.732. 1994 gab es noch 11.742 Gleisanschlüsse (das sind Gleise, mit den Unternehmen oder Gewerbeparks einen direkten Anschluss an den Schienengüterverkehr haben), 2020 waren es noch 2.329. Ähnlich drastisch wie bei der Entwicklung der Weichen ist der Rückgang der Ausweichgleise. Angaben nach den jeweiligen Heften von „Daten und Fakten der Deutschen Bahn AG“, letzte Ausgabe 2020. [5] Nehmen wir nur das Jahr 2020 gegenüber dem Vorjahr: Betriebslänge: minus 24 Kilometer; Länge aller Gleise: minus 78 km; Weichen und Kreuzungen: minus 339; Infrastrukturanschlüsse (identisch mit Gleisanschlüssen oder Industriegleisen): minus 8. „Fortschritte“ gibt es jedoch von Jahr zu Jahr bei der Länge der Tunnels (2020 plus 2,6 km mit nunmehr einem Rekord von insgesamt 595,5 Tunnelkilometern. Während das Eisenbahnnetz von Jahr zu Jahr schrumpft, nehmen die Tunnelkilometer zu – und zwar in absoluten Werten und natürlich noch wesentlich stärker als Anteile am Gesamtnetz. [6] Personenkilometer = die Multiplikation von Fahrgästen mit der Zahl der zurückgelegten Kilometer. Es handelt sich um den aussagekräftigen Indikator für die Verkehrsleistung. [7] Basis: EU Transport in Figures, Statistical Pocket Book 2018. [8] Konkret: Die Entwicklung der „Betriebslänge“ der Netze wie folgt, jeweils für den Zeitraum 1995 bis 2017: Gruppe 1: Deutschland -19,9%; Frankreich -10,5%; Italien + 5,6%; Österreich -12,7%; Schweiz + 26,3%. Gruppe 2: Spanien - 10,8%; UK -4,3%; Niederlande + 9,0%; Schweden -1,5%; Dänemark -10,8%. Erneut nach: EU-Transport in Figures, Statistical Pocket Book 2018. [9] Die Besonderheit in Großbritannien war, dass 1996 nicht nur der Betrieb, sondern auch die gesamte Infrastruktur privatisiert – also direkt in die Hände privater Investoren gegeben – wurde. Das war ein absolutes – aber auch absehbares – Desaster. 2001 wurde die Schieneninfrastruktur in eine staatliche Gesellschaft überführt. Im Mai 2021 legte die Tory-Regierung den Plan für „Great British Railways“ vor, mit dem Friktionen in dieser Struktur beseitigt werden sollen. Im Gegensatz zu übereilten Kommentaren hierzulande, wonach damit in Großbritannien ein integriertes System Schiene wieder etabliert werden würde, soll es mit „Great British Railways“ bei der Trennung von Netz und Betrieb bleiben – was bei einer neoliberalen Regierung Johnson ja auch naheliegt: „Great British Railways will run and plan the network, as well as providing online tickets, information and compensation for passengers nationwide […] The RMT (National Union of Railway Maritime and Transport Workers; W.W.] general secretary, Mick Lynch, said it was ´a missed opp0rtunity to make a clear break´, adding: ´The governement talk about ending a generation of fragmentation but then leave the same private companies in place to extract fees that could be invested in building a truly integrated national rail network.“ Gwyn Topham, Great British Railways plan aims to simplify privatised system, in: Guardian vom 19. Mai 2021.