Zwölf Ebenen des Versagens von Politik und Bahn – Zwölf Ebenen der Konkretion der Klimabahn
Die Zahl der Gleisanschlüsse wurde nochmals um zwölf gekappt – in jedem Monat einer. Damit wurde das Schienennetz, das vor allem in Westdeutschland bereits seit den 1960er Jahren und bis 1994 deutlich reduziert wurde[1], seit der Bahnreform nochmals dramatisch gekappt – in den neuen Bundesländern stärker als im alten Bundesgebiet. KlimaBahn heißt: Die Wiederherstellung einer Flächenbahn[2] – unter anderem durch die Reaktivierung von mehr als hundert zuvor stillgelegte Strecken[3]. Ziel soll ein Eisenbahnnetz sein, wie es dies nach dem Zweiten Weltkriegund bis Mitte der 1950er Jahre noch gab. Das sind 10.000km mehr bei der Betriebslänge. Als kurzfristiges Ziel (bis ca. 2035) sollte die Wiederherstellung des Zustandes vonvor der Bahnreform vorgegeben werden, was ein Plus von7500 Kilometern ausmacht: ein Gesamtnetz mit 41.300 kmBetriebslänge anstelle von aktuell 33.401 Kilometern.
Ebene 2: Hundert Prozent Ökostrom. Hundert Prozent Elektrifizierung des Netzes. Ende der Dieseltraktion.
Die Anforderung einer Elektrifizierung des Netzes besteht seit Jahrzehnten. Die Schweiz hat dies bereits 1960 realisiert. Die österreichische Regierung beschloss 2021, bis 2030 das gesamte Schienennetz zu elektrifizieren. Mehrere EU-Länder haben einen deutlich höheren Elektrifizierungsgrad als Deutschland. Die aktuelle Klimakrise hat diese Zielsetzung dringender denn je gemacht. Doch in der Realität gibt es in Deutschland keinen überzeugenden Plan zur Netzelektrifizierung. Mitte 2022 sind nur 61,1 Prozent des deutschen Schienennetzes elektrifiziert. Wir haben vorgerechnet, dass es beim aktuellen Tempo der Elektrifizierung noch 93 Jahre dauern wird, bis das Netz hierzulande komplett elektrifiziert ist; das heißt, erst im Jahr 2115 würde diesbezüglich Vollzug vermeldet[4]. Dabei sind die Angaben der Deutschen Bahn durch einen statistischen Trick geschönt. Indem der beschriebene Netzabbau vor allem Strecken ohne Oberleitung betraf und teilweise weiter betrifft, stieg der Anteil der elektrifizierten Strecken nur statistisch relativ stetig an. Gemessen am Netz, das es Anfang der 1990er Jahre gab, liegt der Elektrifizierungsgrad nur bei 49,5 Prozent. KlimaBahn heißt: Notwendig ist ein Masterplan Elektrifizierung 100 Prozent. Das sollte in zwölf Jahren zu schaffen sein.
Ebene 3: Wir benötigen einen engmaschigen, einfachen und transparenten und alle Schienenverkehre vernetzenden Fahrplan; einen Takt-Fahrplan. Dabei verfolgen wir den Grundsatz „Takt vor Tempo“.
Die Realität sieht hier erneut völlig anders aus. Es herrscht eine wilde Mischung aus Hochgeschwindigkeitsstrecken gepaart mit Tausenden Langsamfahrstellen und Engstellen, ja sogar mit Eingleisigkeit auf hochfrequentierten Strecken. Geht es nach dem Willen und den Vorgaben des Bundesverkehrsministeriums und der Bahn-Oberen, soll es auch in Zukunft in dieser Weise weitergehen. Der wohlklingende Begriff „Deutschlandtakt“ dient dabei als Green Washing einer grundsätzlich problematischen, das Klima belastenden Bahnpolitik. Der größte Teil der Gelder, die in den nächsten 15 Jahren in die Schieneninfrastruktur fließen soll, ist für sündhaft teure, unnötige, wenn nicht zerstörerische Großprojekte mit insgesamt nochmals mehr als 150 Kilometern an neuen Tunnelstrecken vorgesehen[5]. KlimaBahn heißt: Notwendig ist die Revision der Zielfahrpläne des Projektes Deutschlandtakt. Erforderlich sind Hunderte kleinerer Maßnahmen zur Beseitigung von Engpässen, von Eingleisigkeit, von „Diesellöchern“. Alle Großprojekte müssen auf den Prüfstand; einige von ihnen, so Stuttgart 21, sind zu stoppen. Notwendig ist ein Ausbau des Schienennetzes mit Augenmaß.
Ebene 4: Der Volksmund-Devise „Pünktlich wie die Eisenbahn“ muss wieder Geltung verschafft werden.
Seit 25 Jahren bemühen sich die Bahn-Oberen[6] redlich darum, dass der Spruch „Pünktlich wie die Eisenbahn“, der rund 100 Jahre Gültigkeit hatte, als bitterer Sarkasmus empfunden wird. Trotz einer inakzeptabel „großzügigen“ Definition von Pünktlichkeit – nur Züge, die sechs Minuten und mehr verspätet sind, gelten als unpünktlich – liegt die entsprechende Quote fast immer unter 85 Prozent, und oft unter 80 Prozent. Die Entwicklung in jüngerer Zeit ist aufschlussreich: 2019 lag die Pünktlichkeitsquote bei 75,9 Prozent. Im ersten Corona-Jahr 2020 verbesserte sie sich auf 81,8 Prozent. Das veranlasste den Bahnvorstand zu einer Jubelarie, was jedoch angesichts einer Halbierung der Zahl der Reisenden absurd wirkte[7]. Kaum stieg die Zahl der Fahrgäste im nächsten Jahr leicht an, fiel die Pünktlichkeitsquote 2021 erneut auf 75,1 Prozent. Und als im ersten Vierteljahr 2022 die Fahrgast-Zahlen wieder nahe an die 2019er Ergebnisse herankamen, wurde im Juli 2022 der Negativrekord von 59,9 Prozent Pünktlichkeitsquote erreicht. Dabei hält der Bahnkonzern an dem Kuriosum fest, dass komplett ausgefallene Züge in die Statistik nicht eingehen und damit die Statistik erheblich schönen. In jedem Jahr fallen inzwischen mehr als 100.000 Züge komplett aus; das sind rund 2000 ausgefallene Züge pro Woche oder 275 an jedem Tag[8]. Hinzu kommen verspätete Züge, die, um erneut auf eine akzeptable Pünktlichkeitsquote zu kommen, die „Pofalla-Wende“ vollziehen und Anfangs- und Endhaltepunkte schlicht ausfallen lassen[9]. Die Pünktlichkeits-Misere der Deutschen Bahn wird inzwischen „philosophisch“ gerechtfertigt. In einer von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Zeitschrift wird ernsthaft argumentiert, man möge 9-10 „Verspätungsminuten“ nicht mehr „als Hochverrat an den Idealen der Moderne auslegen“ und prüfen, ob man nicht stattdessen „Serviceeinrichtungen im Zug und am Bahnhof Anreize für eine allgemein erhöhte Zeittoleranz im Bahnverkehr schaffen und (damit) den Beschleunigungskreislauf durchbrechen“ könne[10]. In diesem umfangreichen, pseudo-wissenschaftlichen Beitrag wird so getan, als könne eine moderne Eisenbahn aus objektiven Gründen gar nicht pünktlich unterwegs sein. Dabei verkehren die Eisenbahnen in Japan mit einer Pünktlichkeit, die nach Sekunden bemessen ist. In der Schweiz erreicht die Bahn eine Quote von 93 Prozent Pünktlichkeit – bei einer wesentlich engeren Definition von Pünktlichkeit. Im Übrigen ist es umgekehrt wie im zitierten Artikel behauptet: Unpünktliche Züge erzeugen Stress; sie sind Teil eines Zeitdiktats. Pünktliche Züge hingegen sind die Voraussetzung für entschleunigtes und genussvolles Reisen. KlimaBahn heißt: Notwendig ist ein glaubwürdiges Programm zur Wiederherstellung der sprichwörtlichen Eisenbahn-Pünktlichkeit.
Ebene 5: Ziel ist eine einheitliche und öffentliche Bahn – und ein europaweiter Bahnverkehr
Seit Ende der 1990er Jahre erleben wir das Gegenteil: eine immer buntere Zusammensetzung des rollenden Materials, vor allem im Schienenpersonennahverkehr mit immer neuen Umlackierungen, einen zunehmend uneinheitlichen Schienenpersonennahverkehr mit einem Flickenteppich bei den Tarifen und Fahrplänen – bei geringer Bereitschaft zur Kooperation. Ausschreibungen mit einem Unterbietungswettlauf – was immer wieder dazu führt, dass Wettbewerbs-Sieger dann die zugesagte Leistung nicht erbringen können oder dass es an qualifiziertem Personal fehlt. Ernüchternde Pleiten von privaten oder scheinprivaten Betreibern, bei denen die DB oder Landesbahnen – und immer der Steuerzahler – einspringen muss. Siehe die Abellio-Pleiten 2021/22, die rund eine Milliarde Euro an Steuergeld erforderten. Hier ist nicht der Raum für einen Exkurs zum Thema Wettbewerb auf der Schiene. Auch sei unterstrichen, dass die Regionalisierung und das Auftreten von Bahnbetreibern, die nicht zum DB-Konzern gehören, im Zeitraum 1999-2015 dazu beitrug, dass die Leistung im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) sich verdoppelte und dass sich das Angebot bei der Fahrplandichte und beim rollenden Material qualitativ verbesserte. Allerdings treten inzwischen auch die Nachteile dieser Fragmentierung auf. In einigen Bundesländern, so in Niedersachsen und in Baden-Württemberg, wird das rollende Material teilweise vom Land vorgehalten beziehungsweise kofinanziert. Das gestattet die Perspektive eines jeweiligen SPNVs mit Landesbahnen, teilweise ergänzt um andere regionale Bahnen in öffentlichem Eigentum. KlimaBahn heißt: Vorbild ist und bleibt die Schweiz. Dort existiert ein integriertes System Schiene, das sich zu 95 Prozent in öffentlichem Eigentum befindet und in dem es eine gelungene Kombination von Zentralisierung (SBB) und Bahnen in kantonalem Eigentum gibt. Wie in Deutschland der Weg dorthin aussähe, kann hier nicht entwickelt werden[11].
Ebene 6: Einheitliches und transparentes Ticketing und die Einlösung des Systemvorteils, den der Schienenverkehr rund 100 Jahre lang hatte: einfach einsteigen und losfahren. Das heißt: Zugbindung ist dann die Ausnahme.
Seit Jahren erleben wir den Prozess eines immer intransparenteren Ticketsystems mit vielen Billigtickets, die jedoch Zugbindung haben, womit ein Systemvorteil der Schiene aufgegeben wird. 2002/2003 wurde vom damaligen Bahnchef Hartmut Mehdorn und von drei aus dem Lufthansa-Konzern zur DB AG importierten Top-Managern ein neues Bahnpreissystem mit der Bezeichnung PEP etabliert. Zentraler Bestandteil war erklärtermaßen die komplette Abschaffung der seit Anfang der 1990er Jahre bewährten Bahncard (und ihr behaupteter Ersatz durch eine BC25, die aber faktisch eine Art Rabattkarte ist). Die klassische Bahncard – nunmehr als BC50 bezeichnet – wurde erst nach knapp einem Jahr (und als Resultat massiver Proteste) wieder eingeführt – allerdings verbunden mit der krassen Verteuerung von 140 Euro auf nun 200 Euro (in der 2. Klasse). Auf diese Weise wurde die Zahl derjenigen, die über eine BC50 verfügten, bis heute halbiert[12]. Seither hat sich das Tarifsystem immer mehr in einer kontraproduktiven Richtung entwickelt. Es gibt eine Mischung von hohen „Flexpreisen“ mit Billig- und Billigstangeboten. Es gibt die hohen Kosten für eine Reservierung (wobei eine Sitzplatzreservierung immer notwendiger wurde). Allgemein gilt das Tarifsystem als absolut intransparent und willkürlich. Vergleichbares findet europaweit statt. Während Europa angeblich zusammenwächst, zerfällt die europäische Schienenwelt in immer kleinere Einheiten. Rund 100 Jahre lang, von Ende des 18. Jahrhunderts bis 1990 war es möglich, an einem x-beliebigen Bahnhofsschalter in Europa Tickets für eine europaweite Bahnreise zu erstehen – selbst bei Strecken über viele hundert und manchmal tausend und mehr Bahnkilometer war dies meist ein Ticket. Die enge Kooperation der Staatseisenbahnen – ergänzt um Privatbahnen und um ein fast flächendeckendes Nachtzugsystem – machte das möglich[13]. Heute scheitern europaweite Bahnreisen oft bereits auf der Ebene der Informationen zu Fahrplänen und Ticketpreisen. Einheitliche und durchgehende Tickets gibt es längst nicht mehr. Vor allem wurde in Deutschland – und in vielen europäischen Ländern – ein spezifischer, wichtiger Systemvorteil, den es bei der Eisenbahn mehr als einhundert Jahre lang gab, aufgegeben. Dieser Vorteil bestand darin, dass der durchschnittliche Bahnbenutzer mit einem Ticket in einem gewissen Zeitraum mit jedem Zug die Reise antreten beziehungsweise die Rückreise vornehmen konnte. Das System einer Zugbindung gab es bis 2002 nicht – es wurde von der Luftfahrt, wo es seine Berechtigung hat, systemwidrig auf die Eisenbahn übertragen. Mobilitätskarten wie die Netzkarte, später BC100, und die BC50, die weitgehend mit Flexpreisen (ohne Zugbindung) kombiniert eingesetzt werden, widersprechen dieser Philosophie. Im Unterschied zu Deutschland wurde in der Schweiz mit den vorherrschenden Mobilitätskarten „Halbtax“ und „Generalabonnement“ erreicht, dass mehr als ein Drittel aller erwachsenen Bürgerinnen und Bürger über eine dieser beiden Mobilitätskarten verfügt. Damit wurde eine enorm hohe Kundenbindung erreicht. In Österreich wurde am 1. Oktober 2021 das Klimaticket eingeführt – für 3 Euro am Tag oder 1095 Euro im Jahr kann man mit dieser Mobilitätskarte alle öffentlichen Verkehrsmittel in ganz Österreich ohne Aufpreis benutzen. Klimabahn heißt: Notwendig ist ein Klimaticket Deutschland. Der Erfolg des 9-Euro-Tickets hat hier allerdings die Erwartung geschaffen, dass dies im Preis deutlich niedriger ausfallen sollte als die Pendants in Österreich oder der Schweiz. (Siehe dazu den getrennten Artikel). Ein solches Klimaticket müsste also einerseits subventioniert werden. Es würde sich jedoch andererseits umgehend für die öffentliche Hand rechnen, da es – bei begleitenden Maßnahmen – mit einem Rückgang des motorisierten Straßenverkehrs verbunden sein würde, womit Dutzende Milliarden Euro an direkten Kosten und an externen Kosten im Jahr eingespart werden könnten.
Ebene 7: KlimaBahn meint die Umsetzung der alten Forderung „Güter gehören auf die Schiene“ (und auf das Binnenschiff). KlimaBahn meint auch, dass besonders auf diesem Gebiet Transportvermeidung und ein Zurück zum regionalen Wirtschaften notwendig sind.
Tatsächlich wurde die Vernetzung von Wirtschaft und Schiene seit der Bahnreform systematisch abgebaut. Mehr als 80 Prozent aller Gleisanschlüsse wurden aufgegeben; 1991 gab es noch 13.185 Gleisanschlüsse, 1994 waren es noch 11.742. Ende 2021 waren es noch 2314. Das deutliche Wachstum des Schienengüterverkehrs seit 1994[14] basiert im Wesentlichen auf einem Wachstum von Ganzzügen und den immer größeren Transportweiten – was eine Folge einer äußerst problematischen, klimafeindlichen Globalisierung und der EU-weiten wirtschaftlichen Vernetzung, damit aber auch eine Folge der Reduktion regionaler Wirtschaftskreisläufe, ist. Wie verheerend Liberalisierung und Verkehrsverlagerung auf die Straße sind, wird am Beispiel der Post deutlich. Aktuell wirbt die Deutsche-Post-Tochter DHL damit, dass man umweltbewusst und klimagerecht dann versenden könne, wenn man die Schiene als Transportform wählt – und dafür eine längere Laufzeit der Sendung in Kauf nimmt. Dabei gab es bis Ende der 1990er Jahre eine ganze Flotte mit grauen Postzügen; fast 100 Prozent der fernlaufenden Brief- und Paketzustellungen fanden auf der Schiene statt. Und „E plus 1“, die Zustellung am ersten Tag nach der Einlieferung, war lange Zeit bundesweit gewährleistet (selbst im wesentlich größeren Deutschen Reich der 1920er Jahre war das Standard). Heute findet der Postverkehr überwiegend auf der Straße und in der Luft statt. Anstelle eines Logistik-Unternehmens gibt es mehr als ein Dutzend – mit entsprechend inflationär gesteigertem Brief-, Päckchen- und Pakettransport. Klimabahn heißt: Notwendig ist ein flächendeckender Anschluss der großen Unternehmen an die Schiene, insbesondere indem die Zahl der Gleisanschlüsse wieder auf das Niveau von 1994 gebracht wird. Notwendig ist die Entwicklung beziehungsweise die Nutzung von kleineren Containersystemen. Zusammen mit einer deutlichen Transportvermeidung und der Umsetzung der Maxime „Takt vor Tempo“, was den Schienengüterverkehr einschließt, sollte die Verlagerung des größten Teils des Lkw-Verkehrs auf Binnenschiff und Schiene gelingen.
Ebene 8: Bei einer KlimaBahn sind die Bahnhöfe, also die Zugangs- und Ausgangsstellen des Schienennetzes, wieder die Visitenkarten des Systems Schiene und zugleich Visitenkarten für die jeweiligen Städte und Orte. Eine KlimaBahn bedeutet die Wiederherstellung einer hochentwickelten, anspruchsvollen Bahnhofskultur.
Tatsächlich wurde die große Mehrheit der Bahnhöfe in den letzten dreißig Jahren immer mehr abgewertet und abgewirtschaftet; mehr als zwei Drittel von ihnen wurden geschlossen oder an Firmen und Private verkauft, die sie für andere Zwecke nutzen. Um dies zu rechtfertigen, wurde nach Orwell‘scher Art von der Deutschen Bahn AG ein neuer Begriff erfunden: der des „Empfangsgebäudes“. Bahnhof steht damit nur noch für einen Haltepunkt der Bahn, für den eine Minimalausstattung ausreichend ist; dass „Empfangsgebäude“ dagegen ist für die DB AG und deren für Bahnhöfe zuständige Tochter DB Station & Service eine primär verkehrshistorisch bestimmte Immobilie, für die die moderne Bahn vielfach keinen Verwendungszweck mehr sieht. Richtig ist, dass einige typische Funktionen eines Bahnhofs des vergangenen Jahrhunderts heute eine geringere Bedeutung haben. Andererseits gäbe es noch klassische Funktionen wie Aufenthaltsräume und Wartesäle; doch diese wurden zu 90 Prozent abgeschafft bzw. „stattdessen“ gibt es in großen Bahnhöfen Lounges für wenige Vielfahrer. Und es sind wichtige neue Funktionen wie die Vernetzung der Bahn mit anderen Verkehrsarten oder die notwendige Unterstützung für Menschen mit eingeschränkter Mobilität hinzugekommen. Doch auch diesen Funktionen wird die „neue Bahn“ nur in wenigen Fällen gerecht. KlimaBahn heißt: Bahnhöfe müssen wieder elementare Bestandteile des Systems Schiene sein. Notwendig ist ein Programm zur Wiederbelebung einer Bahnhofskultur, in der Service, Mobilitätsvermittlung („Mobilitätszentralen“), Fahrradverleih und gesicherte Fahrrad-Abstellplätze nebst Reparaturservice, Aufenthaltsräume und Restaurants eine wesentliche Rolle spielen.
Ebene 9: KlimaBahn meint: maximaler Respekt vor dem höchsten Gut innerhalb des Systems Schiene: den Beschäftigten im produktiven Bereich.
Tatsächlich findet das Gegenteil statt. Seit Anfang der 1990er Jahre wurde im Bereich Schiene die Zahl der Beschäftigten im produktiven Bereich mehr als halbiert, während die Leistungen erheblich gesteigert wurden. Gleichzeitig kam es im Zuge der fortgesetzten Aufteilung des Bahnkonzerns und der vielen einzelnen Eisenbahnverkehrsunternehmen zu einem Aufbau und Ausbau des „Overheads“, der Beschäftigten im Verwaltungsbereich und im Management. Schließlich hat die vorletzte CDU/ CSU-SPD-Bundesregierung 2015 ein sogenanntes Tarifeinheitsgesetz beschlossen, das sich speziell gegen eine kämpferische Bahngewerkschaft, die GDL, richtet, womit die Spaltung unter den Bahnbeschäftigten verstärkt wurde. Erfreulicherweise gibt es im DGB-Bereich mit Verdi, GEW und NGG drei Einzelgewerkschaften, die sich gegen dieses Gesetz wandten und die sich weiterhin gegen dessen Anwendung aussprechen. Eine KlimaBahn macht den Ausbau der Zahl der Bahnbeschäftigten im produktiven Bereich notwendig. Damit verbunden sein sollte ein Abbau des Wasserkopfes. Erforderlich ist eine optimal wertschätzende Beziehung des Eigentümers gegenüber den Bahnbeschäftigten und den im Bereich Bahn aktiven Gewerkschaften.
Ebene 10: Wo Deutsche Bahn drauf steht, muss Deutsche Bahn drin sein.
Bei Gründung der Deutschen Bahn AG 1994 wurden mehr als 90 Prozent des Umsatzes innerhalb von Deutschland abgewickelt; mehr als 85 Prozent der Aktivitäten waren Bahnaktivitäten. Mitte 2022 entfallen nur noch rund 50 Prozent des Umsatzes auf das Inland; mehr als 50 Prozent des Umsatzes werden in Nicht-Bahn-Bereichen getätigt. Hier erfolgte 2021 sogar eine deutliche Steigerung: Es gab ein Umsatzplus mit 18 Prozent, das in erheblichem Umfang verstärkten Aktivitäten in den Bereichen Schifffahrt, Flugverkehr und Logistik zu verdanken war. Im März 2022 wurde vermeldet, dass eine Tochter der Deutschen Bahn AG für „einen zweistelligen Milliardenbetrag“ einen Vertrag mit einer Laufzeit von 25 Jahren unterzeichnete zum Betreiben des Nahverkehrs … in Toronto, Kanada. Dies findet zu einem Zeitpunkt statt, wo bei der S-Bahn in der deutschen Hauptstadt Berlin, die die Bahn (Reichsbahn bzw. Deutsche Bahn AG) seit mehr als hundert Jahren betreibt, eine Aufspaltung und Teilprivatisierung droht. Und im Juni 2022 meldete die DB AG den Kauf einer Spedition in den USA mit knapp 2000 Lastkraftwagen. KlimaBahn heißt: Notwendig ist die Konzentration auf das Kerngeschäft – den Schienenverkehr in Deutschland. Die Auslandstöchter der Deutschen Bahn sollten verkauft und der Erlös in eine Sanierung der Infrastruktur gesteckt werden. Das ist auch erforderlich, um in den Führungsebenen des Unternehmens die vorherrschende Mentalität, man sei in erster Linie „Global Player“, zu korrigieren und sich ausschließlich dem Bereich Schiene zu widmen.
Ebene 11: Schaffung der Rahmenbedingungen
Der Schienenverkehr in Deutschland findet seit Jahrzehnten unter Bedingungen statt, bei denen die klimaschädlichen und in Konkurrenz zur Bahn stehenden Verkehrsarten massiv subventioniert werden. Allein das Dienstwagenprivileg, die Diesel-Subventionierung, die Steuerfreiheit für Kerosin, die Entfernungspauschale und die Förderung der Elektro-Pkw summieren sich auf einen Betrag von mehr als 25 Milliarden Euro – pro Jahr. Obgleich wir uns im Klimanotstand befinden und obgleich der Ukraine-Krieg die Notwendigkeit des Ausstiegs aus fossilen Energieträgern unterstreicht, gibt es bei der Ampel-Regierung keinerlei Pläne, diese massive Wettbewerbsverzerrung zuungunsten der Schiene zu beenden. Selbst ein Tempolimit auf Autobahnen, was SPD und Grüne in ihren jeweiligen Wahlprogrammen 2021 noch forderten, ist nicht geplant. Dabei würden allein Geschwindigkeitsbeschränkungen 30-80-120 eine erhebliche Einsparung von fossiler Energie mit sich bringen – und dies kostenfrei und umgehend nach einem entsprechenden Beschluss. KlimaBahn heißt: Notwendig ist eine Verkehrsmarktordnung, in der jegliche Subventionierung derjenigen Verkehrsarten, die das Klima in besonderer Weise schädigen, beendet und der Schienenverkehr grundsätzlich gefördert wird.
Ebene 12: Menschen machen Verkehrspolitik. Ein überzeugender Schienenverkehr erfordert glaubwürdige Vorbilder
Der Konzern Deutsche Bahn AG ist ein Spiegelbild der Verkehrsorganisation, in der das Auto und das Flugzeug vorherrschen. Heinz Dürr, Hartmut Mehdorn und Rüdiger Grube, die von 1990 bis 2017 als Bahnchefs fungierten, kamen alle drei vom Daimler-Konzern. Mehdorn holte mehrere Lufthansa-Manager zur Bahn, die dann dort das beschriebene kontraproduktive Tarifsystem umsetzten. Im Aufsichtsrat der DB AG saßen mehr als zwei Jahrzehnte lang Personen, deren wirtschaftliche Interessen in direkten Gegensatz zur Schiene standen[15]. Hartmut Mehdorn setzte sich noch als Bahnchef für den Erhalt des Berliner Flughafens Tempelhof ein; nach seiner Zeit als Bahnchef ging er zu Air Berlin und danach zum Flughafen BER. Rüdiger Grube ging nach seiner Zeit als Bahnchef zum Tunnelbauer Herrenknecht – dem er vorher, unter anderem mit Stuttgart 21, fette Aufträge zugeschanzt hatte. Ronald Pofalla, bis April Infrastrukturvorstand bei der DB, heuerte nach seinem Abgang umgehend beim Immobilienkonzern Gröner an – wo er wiederum auf die Gröner-Berater Rüdiger Grube und den ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten und Ex-EU-Kommissar Oettinger stößt. Gröner, Chef des erwähnten Immobilienunternehmens, erklärte jüngst in einem Interview, man wolle sich der Entwicklung „von 5700 Bahnhöfen“ widmen[16]. KlimaBahn meint: Das Top-Personal muss den Zielen einer Klima- und Bürgerbahn gerecht werden. Jede Interessenskollision ist zu vermeiden. Der spekulative Umgang mit Bahngelände, der die gesamte 28-jährige Geschichte der Deutschen Bahn AG durchzieht, ist umgehend zu unterbinden. Ein großer Teil der zerstörerischen Großprojekte im Bahnbereich sind von Immobilienspekulation getrieben. Stuttgart 21 ist hier „nur“ das schlimmste dieser Beispiele. Wer KlimaBahn will, muss Eisenbahn leben und für die Schiene in Wort und vor allem Tat – was heißt: auch bei der eigenen, persönlichen Mobilität – stehen. In diesem Sinn meint KlimaBahn: Notwendig ist ein Neuanfang bei der Bahn. Es gilt, Schwellennägel mit Köpfchen machen – und klimabahn-initiativ werden.
[1] Korrekterweise ist zu ergänzen, dass 2021 die Betriebslänge des Netzes um zwei Kilometer verlängert wurde. [2] Grundgesetz Artikel 87e, Absatz 4 lautet: „Der Bund gewährleistet, daß dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz, soweit diese nicht den Schienenpersonennahverkehr betreffen, Rechnung getragen wird. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt.“ Hervorgehoben vom Autor. [3] Andreas Kleber stellte 2014 eine detaillierte Liste des Abbaus von Strecken und des jeweiligen Zustandes derselben zusammen. Siehe Bernhard Knierim / Winfried Wolf, Bitte umsteigen! 20 Jahre Bahnreform, Schmetterling-Verlag, Stuttgart 2014; Anhang. [4] Siehe Michael Jung im 14. Alternativen Geschäftsbericht 2021/22, herausgegeben von Bürgerbahn statt Börsenbahn vom 30. März 2022, S.43ff. [5] Siehe hierzu im 14. Alternativen Geschäftsbericht Deutsche Bahn AG 2021/22 die Beiträge von Wolfgang Hesse zum Deutschlandtakt (dort Seiten 40ff), Ernst Delle und Werner Sauerborn zu Stuttgart 21 (Seiten 45ff), Michael Jung zu HH-Altona/ Diebsteich (S.47ff), Klaus Gietinger zum Fernbahntunnel in Frankfurt/Main (S. 50ff) und von Thomas Riedrich zum Brenner-Nordzulauf (S. 54ff). [6] Eine Ausnahme bildete der zweite Vorstandsvorsitzende der DB AG. Johannes Ludewig war von 1997 bis 1999 Bahnchef. Er startete ein Programm mit der Zielsetzung der Wiederherstellung einer sehr hohen Pünktlichkeitsquote. Die jeweiligen Ergebnisse mit den Quoten für einzelne Tage und auf einzelnen Strecken wurden auf großen Tafeln in den Hauptbahnhöfen kundgetan. Das brachte ihm im Top-Management keine Freunde, zumal er die Boni an das Erreichen dieser Ziele knüpfte. Ende 1999 wurde er vom Autokanzler Gerhard Schröder in die Wüste geschickt. Der von Rot-Grün neu eingesetzte Bahnchef Hartmut Mehdorn ließ als eine seiner ersten Amtshandlungen die Pünktlichkeits-Tafeln in den großen Bahnhöfen abmontieren. Die nun einsetzende Global-Player-Orientierung und die Absicht, die Bahn an die Börse zu bringen, waren verbunden mit einer neuerlichen Verschlechterung des Pünktlichkeitsniveaus, was wiederum im Wesentlichen der systematischen Unterinvestition bei der Infrastruktur und dem drastischen Abbau der Belegschaft geschuldet war. [7] In einer Presserklärung der DB vom 17. Januar 2021 heißt es: „Die Fernverkehrszüge der Deutschen Bahn (DB) sind so pünktlich wie seit 15 Jahren nicht mehr. Im Jahr 2020 waren 81,8 Prozent aller ICE- und IC/EC-Züge pünktlich unterwegs. Das ist eine Steigerung von 5,9 Prozentpunkten gegenüber dem Vorjahr (2019: 75,9 Prozent).“ [8] 2017 waren es 140.000. Siehe Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion Die Grünen; hier nach: Die Zeit vom 7. Mai 2018. [9] Eine detaillierte Untersuchung ergab, dass immer öfter „die Anfangs- und Endhalte bei ICEs“ ausfallen. Das ergibt dann „einen zeitlich verkürzten Zuglauf“ und kann „aus einem verspäteten Zug auf der Rückfahrt wieder einen pünktlichen machen. Diese Methode werde bahnintern als sogenannte ›Scheuer-‹ oder auch ›Pofallawende‹ bezeichnet nach ihren angeblichen Schöpfern.“ Nach: Eurailpress vom 6. Januar 2020; „DB Pünktlichkeit: Datenexperte findet Verblüffendes zur Pofalla-Wende“. [10] Robin Kellermann, Warten auf die Bahn – eine Bau und Kulturgeschichte, in: Aus Politik und Gesellschaft – Die Bahn, Beilage der Wochenzeitung „Das Parlament“, herausgegeben von der Bundeszentrale für Politische Bildung, 8-9/2022, 21. Februar 2022. [11] Die im Ampel-Koalitionsvertrag vorgeschlagene Veränderung der Struktur des Bahnkonzerns – Zusammenfassung von DB Netz und DB Station und Service bei gleichzeitiger Gemeinwohlorientierung der neuen Gesellschaft und Unterbindung einer Gewinnabfuhr an die Holding, weist grundsätzlich in die richtige Richtung. Der Teufel kann hier allerdings am Ende im Detail stecken. [12] 2002 gab es 3 Millionen BC50-Inhaber; 2019 waren es noch rund 1,5 Millionen (inzwischen sind es nochmals deutlich weniger, was allerdings weitgehend noch pandemie-bedingt ist). Wie massiv das DB-Management versuchte, die BC50 abzuwerten, sieht man auch daran, dass die BC50 bei vielen Angeboten nicht oder nur in unbedeutendem Maß zur Reduktion der normalen oder Billigfahrpreise eingesetzt werden kann. [13] Zu dem wichtigen Element der Nachtzüge, auf die dieser Text nicht ausführlich eingeht, siehe der Beitrag von Joachim Holstein im Alternativen Geschäftsbericht Deutsche Bahn 2021/22. [14] Im Grunde gibt es dieses Wachstum nur zu einem kleineren Teil. 1987 gab es auf dem Gebiet von BRD und DDR insgesamt mehr als 125 Milliarden tkm Schienengüterverkehr. Dieser schnurrte nach der Wende auf 65 Milliarden Tonnenkilometer im Jahr 1993 zusammen, um 2019 wieder bei gut 130 Milliarden tkm zu liegen. Angaben nach: Verkehr in Zahlen 1994 und 2021/22. (Die Einbrüche 2020/21 waren Corona- respektive krisen-bedingt). [15] Siehe dazu ausführlich Bernhard Knierim/Winfried Wolf, Abgefahren. Warum wir eine neue Bahnpolitik brauchen, Seiten 262ff. [16] Thiemo Heeg, der Politiker-Sammler, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Mai 2022. Pofalla soll als Geschäftsführer bei Gröner ein Gehalt beziehen, das „in etwa dem entspricht, wie es im Bahntower war“. Das wären einschließlich der Boni rund eine Million im Jahr – und das wäre eine fürstliche und gleichzeitig ungewöhnlich hohe Entlohnung. Da muss Pofalla schon etwas „mitbringen“ – eben etwas von der Bahn. Genau zu prüfen ist, wie das Bundesverkehrsministerium unter dem FDP-Mann Wissing die zitierte Ampel-Koalitionsvertragsregelung in Sachen Schieneninfrastruktur umsetzt. Sollten an der geplanten neuen Infrastrukturgesellschaft private Gesellschaften – Gröner etwas? – direkt oder indirekt (public-private-partnership?) beteiligt werden, wäre das kontraproduktiv und das Gegenteil von „gemeinwohlorientiert“, wie im Ampel-Koalitionsvertrag formuliert.