Einen Tag nach der Landtagswahl in Niedersachsen hat die Bundesregierung ihr Modell für eine „Gaspreisbremse“ vorgestellt, erarbeitet von einem Expertengremium, das von der Wirtschaftswissenschaftlerin Veronika Grimm von den „Wirtschaftsweisen“, dem Vorsitzende der Energiegewerkschaft IG BCE, Michael Vassiliadis, sowie dem Präsidenten des Bundesverbandes der deutschen Industrie, Siegfried Russwurm geleitet wird.
Zweistufiges Modell
Die Gaspreis-Kommission der Bundesregierung schlägt ein zweistufiges Modell zur Entlastung bei den Gaspreisen vor: Im ersten Schritt soll der Bund im Dezember einmalig die jeweilige Abschlagszahlung der Gas- und Fernwärmekunden übernehmen. Diese einmalige Übernahme der Abschlagszahlung entspricht in der Höhe der Abschlagszahlung, die im September 2022 angesetzt war. Im zweiten Schritt soll ab Anfang März 2023 bis mindestens Ende April 2024 dann eine Gas- und Wärmepreisbremse greifen. Diese sieht für eine Grundmenge an Gas einen staatlich garantierten Bruttopreis inklusive aller auch staatlich veranlassten Preisbestandteile von 12 Cent pro Kilowattstunde vor. Oberhalb des subventionierten Grundkontingents an Gas sollen Marktpreise gelten. Das Grundkontingent soll bei 80 Prozent des Verbrauchs liegen.
Sonderregel für die Industrie
Für Großindustriekunden soll die Gaspreisbremse bereits ab Januar 2023 wirksam werden. Zudem subventioniert der Staat für die industriellen Verbraucher den Beschaffungspreis für ein Kontingent von 70 Prozent des Verbrauch von 2021 auf eine Höhe von 7 Cent herunter. Wobei Unternehmen noch stärker bevorzugt werden, da sie weitere Einsparungen für viel Geld im Markt weiterverkaufen und den Ertrag behalten dürfen – Bürger:innen jedoch nicht.
Schuldenbremse soll bleiben
Die von der Gas-Kommission vorgeschlagenen Entlastungen bedeutet enorme Kosten für die Staatskasse, sie summieren sich nach Angaben des Expertengremiums auf etwa 96 Milliarden Euro bis Ende April 2024. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) möchte aber an der Schuldenbremse festhalten. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte deshalb ein milliardenschweres „Sondervermögen“ – in Realität Schulden durch Kreditaufnahme - wie das für die Bundeswehr angeregt. Die für ein 200-Milliarden-Hilfspaket nötigen Kredite sollen dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) zufließen, der 2020 zur Bewältigung wirtschaftlicher Folgen der Corona-Pandemie eingerichtet worden war. Dafür muss der Bundestag erneut eine Ausnahme der Schuldenbremse beschließen. Die Kredite werden dem laufenden Jahr zugerechnet, im kommenden Jahr soll die Schuldenbremse dann wieder eingehalten werden.
Soziale Krise wird nicht gestoppt. Obere Einkommensklassen profitieren.
Obwohl sehr viel Geld ausgegeben wird, wird das „die soziale Krise nicht stoppen“, kritisiert der Präsident des Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher. Die größte Last werde nach wie vor auf den Menschen liegt, die wenig Einkommen, einen geringen Verbrauch und keinen Schutzmechanismus haben. So werde die Gaspreisbremse die soziale Schieflage verschärfen. Wirtschaftsminister Habeck (Grüne) gesteht ein, dass diese Gaspreisbremse „in dem Sinne ungerecht [ist], als dass große Verbräuche - die meistens einhergehen mit hohen Einkommen (...) - die gleiche Entlastung bekommen wie kleinere Einkommen und geringere Verbräuche“. Aber es könne nicht „jede Gerechtigkeitsnuance“ berücksichtigt werden.
Somit bedeutet der Gaspreisdeckel, dass Menschen mit hohen Einkommen circa viermal mehr Geld bekommen als Menschen mit geringen Einkommen. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)
Im Unterschied dazu hält Sebastian Dullien, Direktor des gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), den Vorschlag der Gas-Kommission für „eine gute Vorlage, auf deren Basis jetzt gearbeitet werden kann“. Aber auch er schränkt ein: „Es gibt bei dem Modell allerdings auch Schwächen: Der vorgeschlagene pauschale 80-Prozent-Rabatt entlastet Haushalte mit hohem Gasverbrauch deutlich stärker als jene mit geringem Gasverbrauch. Das ist besonders problematisch bei den Hocheinkommenshaushalten mit hohem Gasverbrauch, etwa den Bewohnern von Villen aus den 1970er Jahren mit Schwimmbad. Im Durchschnitt dürften Haushalte aus den oberen Einkommensdezilen hier etwa anderthalb mal so große Rabatte bekommen wie Haushalte in den unteren Einkommensdezilen. Bei den Spitzenverbrauchern dürfte dieses Verhältnis noch einmal ein Mehrfaches höher ausfallen.“ Das Mitglied des Expertengremiums Frank Werneke, Vorsitzender der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi), gab öffentlich ein Sondervotum zu Protokoll. „Das vorgeschlagene Modell der Gaspreisbremse ist nicht ausreichend sozial ausbalanciert. Durch das Modell wird eine Zwei-Zimmer-Wohnung genauso behandelt wie eine Villa mit Pool“, so der Verdi-Vorsitzende. Ein wenig „Gießkanne“ seien die geplanten Entlastungen schon, räumte auch die Expertenkommission ein. Für detailliertere und gezieltere Ansätze sei jedoch keine Zeit gewesen. Wie nicht anders bei dieser Zusammensetzung der „Expert:innen“ zu erwarten war, setzt ihr Modell auf Markt und primär den Preis sowie die besondere Berücksichtigung der Großindustrie – Stamokap lässt grüßen. Aber in diesen Krisenzeiten und angesichts eine hochmonopolisierten Anbieterstruktur bei Gas- und Ölkonzernen kann der Preismechanismus alleine nicht funktionieren, um finanziell schlechter gestellte Gruppen vor dem Absturz zu bewahren und Solidarität zu sichern.
Die Kosten der Energiekrise gehen vor allem zulasten der einkommensschwächsten und verletzlichsten Menschen und Unternehmen. Der Gaspreisdeckel ändert nichts an dieser Tatsache, sondern verteilt deutlich mehr Geld an Menschen mit hohen Einkommen und Unternehmen als an Menschen mit mittleren und geringen Einkommen. Das Resultat wird unweigerlich eine Zunahme der sozialen Schieflage in Deutschland sein. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)
DIW-Präsident Marcel Fratzscher schreibt:
Das bedeutet in der Praxis, dass Menschen mit mittleren und geringen Einkommen den größten Beitrag für Einsparungen werden leisten müssen – obwohl sie am wenigsten verbrauchen, relativ wenig einsparen können und kaum Möglichkeiten des Schutzes haben. Um dies zu sehen, sind vier Fakten hilfreich. Erstens verbraucht eine Person, die zu den zehn Prozent mit höchsten Einkommen zählt, circa viermal mehr Energie als jemand, der zu den 40 Prozent mit den geringsten Einkommen gehört. Zweitens sind die Einsparpotenziale für Menschen mit hohen Einkommen deutlich höher, wie eine interessante Analyse für die Süddeutsche Zeitung zeigt. Drittens haben fast 40 Prozent der Menschen in Deutschland praktisch keine Ersparnisse – und zudem meist geringe Einkommen –, um höhere Kosten für Gas oder Strom stemmen zu können. Und viertens erfahren Menschen mit geringen Einkommen eine drei- bis viermal höhere Belastung durch höhere Energiekosten relativ zum eigenen Einkommen als Menschen mit hohen Einkommen. Somit bedeutet der Gaspreisdeckel, dass Menschen mit hohen Einkommen circa viermal mehr Geld bekommen als Menschen mit geringen Einkommen (das allerdings für Menschen mit hohen Einkommen steuerlich geltend gemacht werden muss). Und fehlende Einkommen und Rücklagen bedeuten, dass hohe Preise Menschen mit geringen Einkommen zu viel stärkeren Einschränkungen des Verbrauchs zwingen werden.
Linksfraktion: Die Bundesregierung verschaukelt die Menschen
„Die Bundesregierung verschaukelt die Menschen und vertagt die Gaspreisbremse auf März 2023“, erklärt die Linksfraktion im Bundestag. „Bis dahin werden Zigtausende im Winter von Mondpreisen erdrückt.“ Der Ko-Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch warnt: „Für Mieter ist die Übernahme einer Monatsrechnung viel zu wenig. Für den Villenbesitzer, der null Hilfe braucht, dagegen ein toller Deal. Prinzip sozial ungerechte Gießkasse par excellence! Setzt die Ampel diesen Ansatz durch, verbrennt sie Milliarden der Steuerzahler mit nur geringem Rettungseffekt.“ „Das reichste ein Prozent der deutschen Haushalte verbraucht so viel Energie wie die ärmsten 16 Prozent. Besser wäre es gewesen, 8000 kWh zu subventionieren, sowie 4000 kWh für jeden weiteren Menschen im Haushalt - so wären die Bedürftigen unter dem Schirm und Luxuskonsum würde nicht subventioniert“, empfiehlt der Abgeordnete Christian Leye. Die Linksfraktion bringt einen eigenen Antrag für eine Gaspreisbremse in den Bundestag ein.
Linksfraktion: Gas- und Stromsperren verbieten
Anlässlich steigender Gas- und Stromsperren - 12 Prozent mehr Gassperren, 2 Prozent mehr Stromsperren laut Bundesnetzagentur – fordert die Linksfraktion ein Verbot von Strom- und Gassperren, wenn Menschen ihre Rechnungen nicht bezahlen können. „Es ist empörend, dass es in Deutschland immer noch erlaubt ist, Menschen in kalten und dunklen Wohnungen zurückzulassen, weil sie ihre Rechnungen nicht bezahlen können. Wir werden den Bundestag unverzüglich über ein Verbot der Energiesperren abstimmen lassen“, erklärt die Ko-Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag Amira Mohamed Ali.
Ablehnung bei europäischen Nachbarn
Die deutschen Pläne für eine Gaspreisbremse stoßen in den europäischen Nachbarländern auf Skepsis und Ablehnung. Österreichs Kanzler Karl Nehammer sagte, er sei „im Prinzip“ für einen solchen Mechanismus, „aber diese Gaspreisbremse kann nur europäisch organisiert sein.“ Nationale Alleingänge würden sich verbieten, weil diese die Wettbewerbsfähigkeit im europäischen Binnenmarkt verzerren könnten, so Nehammer. Nehammer sieht die EU-Kommission in der Pflicht: „Wir warten seit Monaten auf Vorschläge aus Brüssel“, beklagte er. „Die EU muss gemeinsam einen bestimmten Preis für Gas, das für die Stromerzeugung verwendet wird, schultern und diesen an die Verbraucher weitergeben“, verlangt Nehammer. „Nur so können endlich die hohen Gaspreise von den Strompreisen entkoppelt werden.“ Dabei müssten für das Gas Marktpreise bezahlt werden, „sonst erhielte die EU ja kein Gas“, räumte Nehammer ein. „Die Differenz zwischen dem marktüblichen Kaufpreis und dem Preis für die Verbraucher müssten dabei von der öffentlichen Hand getragen werden.“ Viele Regierungen der EU-Mitgliedsländer kritisieren, dass Deutschland mit seinem Gashunger und der Bereitschaft und finanziellen Fähigkeit, jeden Preis zu zahlen, in erster Linie für die exorbitanten Preise verantwortlich ist. Ihre Forderung nach einem Gaspreisdeckel auf EU-Ebene wird daher auch als Aufforderung an die Kommission gesehen, die deutschen Gaskäufer an die Leine zu legen. 15 Mitgliedstaaten haben in einem gemeinsamen Brief die EU-Kommission aufgefordert, einen Vorschlag auf den Tisch zu legen, wie die EU den Preis für ihre Gaseinkäufe deckeln kann. Unterschrieben haben den Brief Mitgliedstaaten wie Belgien, Frankreich, Italien, Polen und Spanien. Gegen eine Deckelung der Gas-Importpreise wenden sich unter anderem die skandinavischen Länder, das Gasförderland Holland und Deutschland. Das wichtigste Argument der Bundesregierung: Wenn die EU nicht mehr bereit ist, extrem hohe Preise zu zahlen, dann könnten die LNG-Tanker aus dem Mittleren Osten oder den USA künftig eher Häfen in Asien anlaufen. Wie die Nachrichtenagentur Reuters am 10. Oktober berichtete, liefern die USA erstmals mehr Erdgas in die EU als Russland. So machten im September LNG-Lieferungen des extrem umweltschädlichen Frackinggases aus den USA fast 70 Prozent der europäischen Importe aus. Europa hat damit Asien als wichtigstes LNG-Zielland der USA verdrängt. Da einige EU-Länder jeden Preis überbietet, um an Gas zu kommen, können US-Unternehmen 150 Millionen Dollar Gewinn pro Flüssiggas-Schiff einstreichen. Von deutscher Seite wird den EU-Partnern immerhin signalisiert, dass man gemeinsame Gaseinkäufe mit dem Ziel, durch die geballte Marktmacht die Einkaufspreise zu senken, durchaus für sinnvoll halten könnte.