Die meisten Menschen in Deutschland konnten sich trotz Lohnerhöhungen 2022 von ihrem Gehalt weniger leisten als im Jahr zuvor. Zwar hatten sie mehr Geld auf dem Konto – aber weniger Kaufkraft: Die Gehälter haben 2022 wegen der Inflation deutlich an Wert verloren.
So sind die Löhne auf dem Papier (Nominallöhne[1]) im Schnitt um 2,6 % gegenüber dem Vorjahr gestiegen, doch die Inflation von 6,9 Prozent [2] im Jahr 2022 fraß mehr als die Zuwächse auf. Die Reallöhne, also die Gehälter gemessen an der Kaufkraft, sanken um 4,0 Prozent, wie das Statistische Bundesamt mitteilte.[3]
Günstigere Prognosen waren zuvor lediglich von einem Minus von 3,1 Prozent ausgegangen. Grund für die Korrektur ist, dass in der aktuellen Berechnung auch kleinere Betriebe in der Landwirtschaft, im Produzierenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich ab einer sozialversicherungspflichtig beschäftigten Person einbezogen werden, so das Statistische Bundesamt erläuternd.
Der Reallohnrückgang ist der stärkste seit Beginn dieser Statistik im Jahr 2008 und ist zugleich das dritte Minus in Folge. "Während im Jahr 2020 insbesondere der vermehrte Einsatz von Kurzarbeit zur negativen Nominal- und Reallohnentwicklung beigetragen hatte, zehrte 2021 und besonders 2022 die hohe Inflation das Nominallohnwachstum auf", erklären die Statistiker. Im Jahr 2022 wurde der stärkste Reallohnrückgang in Deutschland seit Beginn der Zeitreihe des Nominallohnindex im Jahr 2008 gemessen.
Quelle: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/04/PD23_166_62321.html
Die Inflation in Deutschland war mit 8,7 Prozent im Februar unverändert sehr hoch. Für das laufende Jahr wird mit einer Steigerung zwischen gut 5 und 8 Prozent gerechnet.
Teure Nahrungsmittel
Nach dem Beginn des Wirtschaftskrieges des kollektiven Imperialismus gegen Russland als Antwort auf den russischen Angriff auf die Ukraine waren die Energiepreise stark gestiegen. Inzwischen belasten neben den stark gestiegenen Preise für Haushaltsenergie die weiter steigenden Nahrungsmittelpreise die Haushalte. Insbesondere einkommensschwächere Haushalte sind davon betroffen. Bei ihnen fällt die Inflationsrate 2,5 Prozentpunkte höher aus als bei reichen Singles.
Nach dem Inflationsmonitor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) wurden Familien und Alleinlebende mit niedrigen Einkommen im Februar mit je 9,9 Prozent am stärksten durch die Inflation belastet, Alleinlebende mit sehr hohen Einkommen hatten mit 7,4 Prozent die mit Abstand niedrigste Belastung. "Die stark gestiegenen Preise für Nahrungsmittel und Haushaltsenergie stellen insbesondere für einkommensschwächere Haushalte eine Belastung dar, weil dort der Anteil dieser Güter des Grundbedarfs an den Konsumausgaben überdurchschnittlich hoch ist", sagt die IMK-Inflationsexpertin Silke Tober. [4]
Das Problem, dass die Inflation Haushalte mit niedrigem bis mittlerem Einkommen stärker belastet, wird dadurch verschärft, dass viele von ihnen nur geringe finanzielle Rücklagen haben und vor allem Ärmere grundsätzlich besonders unter starker Teuerung leiden. Denn bei Alltagsgütern, auf die der größte Teil ihrer Ausgaben entfällt, lässt sich kaum sparen.
Einkommensarmut wächst
Laut dem Verteilungsbericht 2022 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Instituts (WSI) erreichte die Armutsquote im Jahr 2019 ihren bisherigen Höchstwert mit 17,3 Prozent in Westdeutschland und 15,6 Prozent in Ostdeutschland. [5]
"Zwei Millionen Menschen in Deutschland mussten im vergangenen Jahr zur Tafel gehen, weil sie sich die hohen Lebensmittelpreise nicht mehr leisten konnten. Das waren 50 Prozent mehr als 2021. Mittlerweile reicht vielerorts die Essensausgabe nicht mehr für alle Bedürftigen. Für endlose Waffenlieferungen in die Ukraine statt zielführender Diplomatie zu einer Waffenruhe und Verhandlungslösung, für die massive Aufrüstung der Bundeswehr zur ausgabenstärksten Militärmacht in Europa oder für sinnlose Militäreinsätze wie in Mali und jetzt auch noch in Niger werden von der Ampel-Regierung viele Milliarden Euro verschleudert. Gleichzeitig fehlt hier im Land das Geld an jeder Ecke – in NRW musste das Abitur ausfallen, weil die Computer-Technik zu lahm ist, viele Schulen haben nicht einmal einen Farbkopierer. Milliarden für neue Waffen, Interventionen und Kriege sowie marode Schulen, fehlende Lehrer und mangelhafte Infrastruktur – das sind nur zwei Seiten ein und derselben Medaille." Sevim Dagdelen, MdB, DIE LINKE
Wie entwickeln sich die Gehälter 2023 weiter?
2021 und vor allem 2022 blieb die Entwicklung der Löhne hinter der Preisentwicklung zurück. Die künftige Lohnentwicklung hängt von zwei Faktoren ab: Wie hoch ist die Inflation? Und: Was setzen die Gewerkschaften durch?
Trotz der gesunkenen Reallöhne hat sich die Zahl der Arbeitskämpfe in Deutschland im vergangenen Jahr kaum erhöht. Insgesamt seien 225 Arbeitskämpfe geführt worden, an denen 930.000 Streikende teilgenommen hätten, wie das gewerkschaftsnahe Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung mitteilte. Zum Vergleich: 2021 waren es 221 Arbeitskämpfe mit 909.000 Streikenden. Für 2023 deuten allerdings bereits in den ersten Monaten hohe Warnstreik-Beteiligungen bei Post, Bahn und Öffentlichem Dienst darauf hin, dass das Arbeitskampfvolumen "erheblich zunehmen könnte".
Trotzdem rechnen viele Experten auch für das laufende Jahr mit einem erneuten Rückgang der Reallöhne. Denn nach wie vor ist die Inflation in Deutschland hoch. Ein Lohnplus, das derzeit für viele Tarifbeschäftigte ausgehandelt wird oder schon beschlossen ist, dürfte erneut von der Inflation aufgezehrt werden.
Tarifabschluss im öffentlichen Dienst
"Das ist die größte Tarifsteigerung in der Nachkriegsgeschichte im öffentlichen Dienst." Frank Werneke, ver.di-Vorsitzender zum Tarifabschluss. Zwar ist der Abschluss für den öffentlichen Dienst "die größte Tarifsteigerung in der Nachkriegsgeschichte im öffentlichen Dienst", wie ver.di-Chef Frank Werneke sagte, aber er bedeutet für die 2,4 Millionen Tarifbeschäftigten der kommunalen Arbeitgeber und 134.000 des Bundes trotzdem einen Kaufkraft- und Wohlstandsverlust.
Vereinbart wurde: Inflationsausgleich in Höhe von 1.240 Euro in diesem Juni sowie von 220 Euro monatlich von Juli bis Februar 2024 – insgesamt also 3.000 Euro, die steuerfrei sind. Ab März 2024 folgt ein Sockelbetrag von 200 Euro, verbunden mit einer linearen Erhöhung von 5,5 Prozent – mindestens aber 340 Euro brutto. Die Laufzeit beträgt 24 Monate, rückwirkend ab Januar 2023.
Die Einigung bedeutet durchschnittliche Lohnerhöhungen von rund elf Prozent. Positiv ist, dass Menschen mit geringen Löhnen prozentual sogar ein höheres Lohnplus bekommen – sie erfahren im Alltag allerdings auch eine deutlich höhere Inflation als Menschen mit hohen Löhnen.
"Die Kaufkraft der Löhne im öffentlichen Dienst wird durchschnittlich um sechs Prozent sinken." Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)
Dennoch bedeutet dieser Tarifabschluss einen weiteren Kaufkraft- und Wohlstandsverlust für die Beschäftigten. Denn nach einer Inflationsrate von rund sieben Prozent im Jahr 2022, voraussichtlich sechs Prozent im Jahr 2023 und wohl noch einmal etwa drei Prozent im Jahr 2024 werden die Löhne im öffentlichen Dienst am Ende der Laufzeit rund sechs Prozent weniger Kaufkraft haben.
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), entgegnet den Kritikern des Tarifabschlusses, für die die Lohnerhöhungen zu hoch sind:
"… Ein zweiter Einwand der Kritiker des Tarifabschlusses ist es, wir sähen nun den Beginn einer Lohn-Preis-Spirale, durch die sich Lohnforderungen und Preissteigerungen gegenseitig hochschaukeln. Auch dieser Einwand ist falsch. Von Anfang 2021 bis Ende 2024 werden die Preise voraussichtlich um knapp 20 Prozent steigen, die Löhne im öffentlichen Dienst jedoch lediglich durchschnittlich um 14 Prozent (drei Prozent 2021 bis 2022, um elf Prozent 2024). Das bedeutet, dass die Kaufkraft der Löhne im öffentlichen Dienst durchschnittlich um sechs Prozent sinken wird. Daher kann keine Rede von einer solchen Spirale sein, zumal in Deutschland nur knapp die Hälfte aller Beschäftigten über Tarifverträge abgedeckt sind. Vor allem im Niedriglohnbereich sind die meisten Beschäftigten nicht über Tarifverträge abgesichert. …"[6]
Tarifabschluss wird zu "empfindlichen Einschränkungen der Daseinsvorsorge führen"
Gleichzeitig ist Fratzscher überzeugt, dass sich der Tarifabschluss "katastrophal auf viele Kommunen in Deutschland auswirken und zu empfindlichen Einschränkungen der Daseinsvorsorge führen" könnte. Denn, so Fratzscher, "30 Prozent der Kommunen in Deutschland sind überschuldet, und viele weitere haben keinerlei finanziellen Spielraum, um die enormen Kosten von zusätzlichen 17 Milliarden Euro der Lohnsteigerungen von durchschnittlich elf Prozent stemmen zu können. Die katastrophale Finanzsituation wird viele Kommunen zwingen, Leistungen zu kürzen und Gebühren und Abgaben zu erhöhen."
Die Hauptverantwortung für diese finanzielle Misere liege in der Konstruktion des deutschen Föderalismus, bei dem die Kommunen von Bund und Ländern finanziell häufig zu schlecht ausgestattet werden und durch Sozialausgaben belastet werden, so der Chef des DIW. "Das Resultat ist ein zunehmendes Süd-Nord-Gefälle und immer ungleichere Lebensverhältnisse und Wirtschaftsbedingungen in Deutschland."
Fratzscher fordert eine Stärkung der Kommunen: "Dies erfordert eine grundlegende Reform des Bund-Länder-Finanzausgleichs, sodass finanz- und strukturschwache Kommunen systematisch bessergestellt werden und mehr Autonomie über ihre Finanzen erhalten. Dies erfordert auch eine Entschuldung der knapp 30 Prozent der Kommunen, denen heute fast jegliche Flexibilität fehlt. Immer wieder hat die Politik über solche Pläne diskutiert und sie letztlich verworfen. Natürlich hat der Staat ein knappes Budget. Aber wenn die Bundesregierung lieber 18 Milliarden Euro im Jahr durch den Ausgleich der kalten Progression vor allem an Spitzenverdiener zurückgibt, anstelle die Kommunen finanziell zu kompensieren, dann zeigt dies die falschen Prioritäten."
Fratzscher resümiert: "Deutliche Lohnsteigerungen im öffentlichen Dienst sind nicht nur gerechtfertigt, sondern schaffen einen erheblichen Nutzen für die Daseinsvorsorge und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Die Politik sollte also nicht Beschäftigte gegen Kommunen ausspielen, sondern betonen, dass ihre Stärkung die zwei Seiten einer Medaille sind. Die Politik sollte eine Kehrtwende vollziehen, die Kommunen deutlich stärken und gleichzeitig auch deutliche Lohnerhöhungen möglich machen. Nur so kann die Politik einen wichtigen Beitrag für gleichwertige und gute Lebensbedingungen in Deutschland leisten und gleichzeitig künftige Arbeitskämpfe vermeiden helfen."[6]
EVG im Tarifkampf
In der Tarifauseinandersetzung befindet sich noch die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) mit der Deutschen Bahn für die rund 180.000 Konzernbeschäftigten und 50 kleineren Eisenbahn-Unternehmen. Parallel zum Bahnsektor verhandelt ver.di über Zuschläge für die Sicherheits- und Servicekräfte an Flughäfen.
Ende März hatten die EVG und ver.di in einem 24-stündigen, umfassenden Warnstreik fast sämtliche Flughäfen sowie den Bahn- und Schiffsverkehr lahmgelegt. (siehe "Megastreik" in Deutschland)
Für die EVG ist der Abschluss im Öffentlichen Dienst keine Verhandlungsgrundlage. Insbesondere die steuerfreie Einmalzahlung, die nicht in die Lohntabelle eingehen, will die EVG nicht. Die EVG fordert eine Lohnerhöhung von 12 Prozent, mindestens aber 650 Euro mehr im Monat.
Die Deutsche Bahn hat die offiziell zweite Verhandlungsrunde mit der EVG am vergangenen Mittwoch (26.4.) abgebrochen. "Ein solches Verhalten ist ein bisher noch nicht da gewesener Affront und macht ein weiteres Mal deutlich, dass die DB AG den Tarifkonflikt weiter anheizen will, statt nach Lösungen zu suchen", empört sich EVG-Verhandlungsführer Kristian Loroch.
Klar ist, wenn die EVG ein gutes Ergebnis erzielt, strahlt das auf andere Bereiche aus. Der Abschluss wird das Maß für weitere Tarifverhandlungen dieses Jahres setzen.
Anmerkungen:
[1] Unter Nominallohn ist das in Geldeinheiten gezahlte Entgelt für geleistete Arbeit zu verstehen, das keine Aussagen über die Kaufkraft des Geldes zulässt, da – im Gegensatz zum Reallohn – die Veränderungen des Preisniveaus in Form von Inflation oder Deflation nicht berücksichtigt werden.
[2] Im Januar hatte das Statistische Bundesamt die Teuerung noch mit 7,9 Prozent angegeben. In einer Neuberechnung des Verbraucherpreisindex, aus dem sich die Inflationsrate ergibt, kommt das Statistikamt nun auf 6,9 Prozent Inflation. Als neues Basisjahr - also das Jahr, das als Ausgangspunkt der Kalkulation herangezogen wird - ist nun das Jahr 2020. Zuvor hatten sich sämtliche Berechnungen auf das Basisjahr 2015 bezogen.
[3] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung 27.4.2023
https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Verdienste/Realloehne-Nettoverdienste/_inhalt.html
[4] IMK, Ausgabe 06/2023: Teure Nahrungsmittel
https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-teure-nahrungsmittel-48104.htm
[5] WSI Verteilungsbericht 2022
https://www.wsi.de/de/verteilungsbericht-2022-30037-einkommensarmut-30068.htm
[6] Spiegel, 1.5.2023: Marcel Fratzscher: Die Politik darf die Bürger nicht gegen die Streikenden ausspielen
https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/tarifverhandlungen-der-staat-darf-nicht-zur-ursache-des-arbeitskampfes-werden-kommentar-a-8419895d-15ea-466b-9373-99b282a9f734