Wenn es um die heutige Neugestaltung der nah- und mittelöstlichen Regionalordnung geht, so bildet Syrien aktuell dafür einen der Hauptschauplätze. Mit dem Sturz von Baschar Al-Assad im Dezember 2024 ist dieses durch die Stellvertreterkriege arg gebeutelte Land nunmehr zu einem Schlüsselglied dabei geworden, auf welcher Grundlage die künftige Ordnung in der Region verfasst sein wird. 

Während es für die USA und Israel, namentlich für US-Präsident Donald Trump und Israels Premier Benjamin Netanjahu, anscheinend nahezu selbstverständlich ist, dass die neuen Machtverhältnisse in Syrien dem von ihnen unter beider Ägide angestrebten Neuen Nahen und Mittleren Osten in die Karten spielen; versuchen andere Staaten der Region hingegen, diese Entwicklungen zu nutzen, um eine Regionalordnung zu begründen, die auf fairem Interessenausgleich sowie auf dem Prinzip von Dialog und Diplomatie statt auf einseitigen Sicherheits- und Hegemonieansprüchen basiert. 

USA und Israel auf vermeintlichem Siegeszug 

Aus Sicht der USA scheint klar zu sein, dass sie in Syrien gewonnen haben. Der Regime-Change, auf den sie fast ein Jahrzehnt lang gezielt hingearbeitet hatte, (1) ist nunmehr Realität. Das bedeutet für die USA, nach fast sechs Jahrzehnten dezidiert antiwestlicher Ausrichtung syrischer Politik jetzt wieder unmittelbaren Einfluss auf die Politikgestaltung in Damaskus nehmen zu können – zumal die neuen Machthaber sichtlich in ihrer Schuld stehen und sich dementsprechend offen zeigen müssen. Denn sowohl ihre Machtübernahme als auch ihre nachfolgende Anerkennung auf der internationalen Bühne verdanken sie in hohem Maße den USA. Wie sonst wäre es vorstellbar gewesen, dass Personen, die zuvor auf US-Terrorlisten gestanden und auf deren Ergreifung sogar Kopfgelder in Millionenhöhe ausgesetzt worden waren – wie beispielsweise Interimspräsident Ahmed Al-Scharaa noch unter seinem Kampfnamen Al-Julani – sich, ohne je zur Rechenschaft gezogen worden zu sein, als die neuen Hoffnungsträger vor der UNO präsentieren? Ganz abgesehen davon hängt es hauptsächlich von den USA ab, inwieweit die noch gegen Syrien bestehenden, und das Land knechtenden Sanktionen in Gänze aufgehoben werden. Nicht umsonst bemühten sich sowohl Interimspräsident Al-Scharaa als auch Außenminister Asaad Hassan Al-Shaibani während ihres Besuches in den USA und den dabei geführten Gesprächen auf offizieller Ebene – darunter auch im Senat (2) – um eine Aufhebung aller dieser Sanktionen.

Ein wichtiges Anliegen der US-Politik gegenüber Syrien besteht erklärtermaßen darin, dass Syrien die Normalisierung der Beziehungen zu Israel vorantreibt – offenkundig unabhängig davon, welche Politik Israel gegenüber Syrien verfolgt. Weil es letzten Endes um das gemeinsame Ziel geht, die Hegemonie in der Region zu sichern.

Offenbar beabsichtigt Israel, basierend auf seinen Erfolgen auf dem Schlachtfeld und dem darauf gegründeten Dominanzanspruch in der Region, die politische Landkarte Syriens völlig neu zeichnen. Ziel scheint zu sein, die bestehende territoriale Struktur des Landes zu verändern, um – gemäß seinem einseitigen Sicherheitsverständnis – sicherzustellen, dass Syrien künftig keine Bedrohung mehr für Israel darstellt. Statt weiterhin als einheitlicher Staat zu existieren, soll Syrien möglichst in mehrere Entitäten auf der Basis religiöser bzw. ethnischer Merkmale - eine drusische, eine alawitische, eine sunnitische sowie eine kurdische – aufgespaltet werden. 

Sicherlich nicht zufällig kursieren neuerdings im israelischen Regierungs-Diskurs frühere zionistische Pläne eines Groß-Israel – wie beispielsweise der Yinon Plan, (3) der in seiner Grundstruktur jener Teilung Syriens in mehrere separate Provinzverwaltungen zu Zeiten der französischen Kolonialherrschaft ähnelt. So ließe sich auch erklären, warum sich Israel ausgerechnet zur Schutzmacht der syrischen Drusen ausgerufen hat. Nach Berichten von Haaretz und Reuters (Mitte September) unterstützt es inzwischen drusische bewaffnete Kämpfer mit Geld, Munition und anderem Kriegsgerät. Ebenso werden die Kurden auch weiterhin dazu ermuntert, ihre Eigenständigkeit gegen Damaskus zu behaupten.

Nicht zuletzt scheint es für Israel darum zu gehen, weiteres syrisches Territorium – mehr oder weniger offiziell – kontrollieren zu können, nachdem es bereits die Kontrolle über die gesamten Golan-Höhen und den Berg Hermon völkerrechtswidrig  an sich gerissen hat. Umso mehr wird abzuwarten sein, wie das Sicherheitsabkommen dann tatsächlich aussieht, über welches seit einigen Monaten zwischen beiden Seiten verhandelt wird. Bislang bekannte Eckpunkte lassen darauf schließen, dass Israel seinen Anspruch auf die von ihm 1967 besetzten und 1981 annektierten syrischen Golan-Höhen künftig vertraglich absichern könnte. (4) Bereits während seiner ersten Amtszeit hatte US-Präsident Donald Trump – unter Bruch allen Völkerrechts – die syrischen Golan-Höhen als israelisches Staatsgebiet anerkannt. Ein Verzicht auf dieses Territorium dürfte von der syrischen Gesellschaft allerdings kaum widerspruchslos hingenommen werden. 

In seiner Rede vor der UNO verurteilte der syrische Interimspräsident die auch noch nach dem Assad-Sturz am 8. Dezember 2024 beständigen  israelischen Angriffe auf Syrien als Bedrohung – nicht nur für sein Land, sondern für die gesamte Region. 

Regionalmächte als immer entschlossenerer Gegenpart

Insbesondere die beiden Regionalmächte Türkei und Saudi-Arabien, die – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – zu den Gewinnern des Assad-Sturzes zählen, versuchen, ihre Positionen hinsichtlich der Syrien-Frage zu nutzen, um Israels Streben nach uneingeschränkter Machtdominanz in der Region entgegenzuwirken. Dies geschieht allerdings jeweils entlang ihrer eigenen Interessen und unter Beibehaltung enger Beziehungen zu den USA, was durchaus teilweise erhebliche politische Spannungen impliziert. Immerhin ist die Türkei NATO-Mitglied, während Saudi-Arabien seit Jahrzehnten in einer strategischen Partnerschaft mit den USA steht. 

Für die Türkei, deren Beziehungen zu den neuen Machthabern besonders eng sind – manche Beobachter sprechen von Syrien bereits als einem türkischen Protektorat – steht die Kurdenfrage mit an vorderster Stelle. Die Türkei widersetzt sich jeglicher Abtrennung jener hauptsächlich von Kurden getragenen Autonomen Administration in Nord- und Ost-Syrien (AANES). Ebenso drängt sie auf die Integration der dortigen Kampfeinheiten, der Syrian Democratic Forces (SDF), in die reguläre syrische Armee und fordert eine zügige Umsetzung des am 10. März zwischen der SDF und Damaszener Machthabern unterzeichneten Abkommens. Umso herausfordernder stellt sich dementsprechend für sie das Bestreben Israels dar, die Kurden für die mögliche Realisierung des von Netanjahu bereits positiv goutierten Groß-Israel-Konzepts zu instrumentalisieren zu suchen. 

Um dem zu begegnen, intensiviert die Türkei ihre Beziehungen mit Damaskus in allen Bereichen, darunter insbesondere auch auf nachrichtendienstlichem und militärischem Gebiet. Auf der Grundlage des im August zwischen beiden Ländern vereinbarten Militärabkommens will die Türkei insbesondere daran mitwirken, eine einheitliche, reguläre syrische Armee aufzubauen – was gleichfalls Israels Ambitionen auf ein verteidigungsunfähiges Syrien als Nachbarn entgegensteht. 

Für Saudi-Arabien, das eine zentrale Rolle als regionale Führungsmacht mit globaler Ausstrahlung anstrebt, ist Syrien schon aufgrund seiner geografischen Lage in der Levante von besonderer strategischer Bedeutung. 

Im Mittelpunkt der saudischen Syrien-Politik steht vor allem, das Land politisch und ökonomisch nach Kräften stabilisieren zu helfen. Nicht ohne Eigennutz hat sich Saudi-Arabien vehement für die Anerkennung der neuen Damaszener Machthaber und deren Aufnahme in die arabische Staatenfamilie eingesetzt. Zudem vermittelte es die Kontaktaufnahme zwischen Trump und Al-Scharaa und trug damit wesentlich zu dessen internationaler Reputation bei. Auch auf wirtschaftlichem Gebiet engagiert sich Riad vielfältig für Syrien. Nicht nur hat es zusammen mit Qatar für die syrischen Weltbank-Kredite gebürgt; überdies wurden verschiedene Abkommen im Umfang von Milliarden USD zur Entwicklung wirtschaftlicher Schlüsselindustrien wie zur Trümmerbeseitigung vereinbart. 

Ungeachtet aller Interessenunterschiede zwischen der Türkei und Saudi-Arabien auf syrischem Boden besteht indessen ausdrückliches Einvernehmen darüber, die Einheit und territoriale Integrität Syriens in seinem bisherigen Bestand zu bewahren und jeglicher Aufgliederung des Landes in einzelne Entitäten entschieden entgegenzutreten. Ebenso verurteilen beide Staaten das gegenwärtige militärische Vorgehen Israels in der Region.

Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass Ankara und Riad – im Kontext der politischen Umbrüche in Syrien sowie des immer aggressiveren Vorgehens Israels  – ihre Zusammenarbeit zunehmend auch auf den Sicherheitsbereich ausdehnen. So erhob unlängst der türkische Außenminister, Hakan Fidan, die Forderung nach einem gemeinsamen Sicherheitsmechanismus, der der neben ihnen insbesondere auch Ägypten sowie weitere Staaten der Region einbeziehen soll. Ziel ist es offenbar, eine größere strategische Autonomie zu erreichen und so die entstehende Regionalordnung im Sinne der Prinzipien friedlicher Koexistenz zwischen den Staaten und Völkern des Nahen Ostens aktiv mitzugestalten 

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(1) Bis dann dahin, wie der US-Botschafter zu Assads Zeiten, Robert Ford, Mitte Mai in einem Gespräch mit dem Baltimore Council on Foreign Affairs ausgeplaudert hat, von einer britischen, mit dem MI6 in Zusammenhang gebrachten NGO angesprochen worden zu sein, aus Al-Julani einen Politiker von staatsmännischem Format machen zu sollen. Ihn also – im Zuge eines Regime-Change der besonderen Art – zu dem heutigen Al-Scharaa werden zu lassen.

(2) So traf sich Al-Shaibani am 19. Mai mit Mitgliedern des Komitees für Internationale Beziehungen beim US-Senat, zum Gespräch über die Dringlichkeit eines stabilen, wirtschaftlich prosperierenden Syriens sowie die daraus resultierende Notwendigkeit der Sanktionsaufhebung. Vgl. dazu https://sana.sy/en/politics/2268352/  

(3) Ein Plan, der in den 1980er Jahren vom israelischen Journalisten Oded Yinon entwickelt worden sein soll und der auf die Errichtung zweier sunnitischer Staaten – einen um Aleppo und einen um Damaskus gruppiert –, eines alawitischen Staates entlang der syrischen Mittelmeerküste sowie eines drusischen Staates im Süd-Südwesten Syriens optiert hat und bei dem die Kurden als befreundet ausgewiesen sind

(4) Was unter der Assad-Herrschaft für Israel nicht zu erreichen gewesen ist. So waren gerade daran die einst noch unter der Präsidentschaft von Hafez Al-Assad geführten Verhandlungen über ein Friedensabkommen mit Israel gescheitert.