Unter diesem Titel hatte das isw für den 11./12. Oktober zu einer wissenschaftlichen Konferenz nach München eingeladen. Vor dem Hintergrund des 70. Jahrestages der Gründung der Volksrepublik China und einer Zuspitzung des Handelskriegs zwischen USA und China beleuchteten zahlreiche Referenten die historischen und wirtschaftlichen Meilensteine des seit sieben Dekaden anhaltenden Aufstiegs Chinas. Mehr als 150 Teilnehmer bekamen einen Überblick vermittelt über die Aufbauphase einer modernen Gesellschaftsformation mit sozialistischen Charaktereigenschaften, die sich im Spannungsfeld der Besonderheiten eines Vielvölkerstaates als ehemalige besetzte Kolonie, als ein verarmtes großes Land mit bäuerlichen Strukturen zu einer global führenden Industrienation entwickelte.

Die vielfältigen zu überwindenden politischen und wirtschaftlichen Hürden erforderten für China den Aufbau von Ländergrenzen überschreitende Produktions- und Geschäfts-beziehungen. Diese sind inzwischen zu einer wachsenden Normalität für den sich weiter intensivierenden Weltmarkt geworden.

Walter Baier, Politischer Koordinator des Netzwerks transform!

Mit dem aus Wien angereisten Walter Baier, dem Politischen Koordinator des Netzwerks transform! erfolgte der Einstieg in die komplexe Thematik einer sich vollziehenden Polarisierung der Menschheit. Er gab zu bedenken, dass die gegenwärtige weltpolitische Entwicklung eine Gabelung erkennen läßt, zum einen hin zu einem autoritären Nationalismus mit wachsendem Einfluss der extremen, rassistischen Rechten und gefährlichen Konflikten zwischen den Staaten. Andererseits sei allerdings auch die Herausbildung einer multipolaren Weltordnung mit einer kosmopolitischen Orientierung im Interesse der übergroßen Mehrheit der Menschen erkennbar. Um diesen Strang der Gabelung zu fördern sei der Dialog und die Anerkennung unterschiedlicher Sichtweisen und Standpunkte unabdingbar. Für ihn spiele China dabei eine wichtige Rolle.

Werner Rügemer: Der neue Systemkonflikt zwischen dem US-geführten Westen und der Volksrepublik China. Entwicklungslogiken und ihre globale Bedeutung

Werner Rügemer, Publizist und China Experte, stellte den „neuen Systemkonflikt zwischen dem US-geführten Westen und der Volksrepublik China, die Entwicklungslogiken und ihre globale Bedeutung“ in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Seiner Einschätzung nach muß der Aufstieg Chinas zur erfolgreichsten Volkswirtschaft insbesondere für die US-Regierung zutiefst provozierend sein. Doch habe die USA in interessegeleiteter Selbsterblindung ungewollt zu dieser Entwicklung beigetragen. Der US-geführte Westen befinde sich dagegen in ökonomischen, politischen und moralischen Krisen. Konfrontiert mit dem nachhaltigen Aufstieg Chinas würden die USA auch ihre militärische Aggressivität verschärfen – ein durchaus gefährlicher neuer Systemkonflikt. Und dies sei nicht nur für die direkt beteiligten Staaten bedeutsam, sondern für alle Teile der gesamten Menschheit.

Ding Xiaoqin: Die Risiken von Sozialistischer Marktwirtschaft, Staatskapitalismus und Neoliberalen Kapitalismus

Den Einstieg in den chinesischen Präsentationsblock der eigens aus China angereisten Referenten bildete Ding Xiaoqin, Prof. an der Universität für Finanzen und Wirtschaft, Shanghai. Ding, gleichzeitig Präsident der Shanghai Academy of New Silk Road Economic Development China referierte über die historischen Erfolge der Volksrepublik China. Die zumeist aus westlicher Sichtweise dargestellte chinesische Entwicklung einer kriegsfreien Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaftsformation bei gleichzeitiger Nutzung marktwirtschaftlicher Akkumulations- und Verwertungszwängen erfülle aus seiner wissenschaftlichen Sichtweise nicht den Tatbestand von Staatskapitalismus. Der springende Punkt sei für ihn die Eigentumsfrage, wem der Staat gehöre, wem gegenüber der Staat seine führende Rolle in der Steuerung der marktwirtschaftlicher Wirtschaftsentwicklung wahrnehme. Die Einordnung der Interessenskonflikte, denen der Staat zwischen staatlicher Wirtschaftssteuerung bei gleichzeitiger Förderung privatkapitalistischer Akkumulation ausgesetzt sei, spiele dabei die entscheidende Rolle.

Marktwirtschaftliche Entwicklung, die Nachfrage bedienende Erzeugung eines Angebotes zur Befriedigung von Lebensbedürfnissen der breiten Mehrheit der Bevölkerung sei in seinen Augen der kardinale Unterschied zwischen einer rein privatwirtschaftlich organisierten Marktwirtschaft und einer sozialistischen Marktwirtschaft. In dieser sei auch der Schutz des Privateigentums verfassungsmäßig verankert. Eine Übernahme der wirtschaftlichen Führung durch private Kapitaleigener als Klasse werde seiner Einschätzung nach allerdings nicht erfolgen. Das vor allem aus dem Grunde nicht, weil die Kapitalisten nicht als eigenständige Klasse existieren und die staatliche Steuerung nach dem Vermächtnis der bisherigen Entwicklung der sozialistischen Marktwirtschaft erfolge.

Yang Hutao: Das chinesische Modell aus Perspektive staatlicher Handlungsfähigkeit

Yang Hutao von der Chinese Academy of Social Sciences, Shanghai widmete sich in seinen Ausführungen der Darstellung des chinesischen Modells aus der Perspektive staatlicher Handlungsfähigkeit. Er verwies dabei auf die vielfältigen wissenschaftlichen Studien der Akademie über Länder und Regionen in Ostasien, Lateinamerika und Afrika, die belegen, dass es in der Tat die Stärke oder Schwäche staatlicher Handlungsfähigkeiten sei, die den Unterschied zwischen dem „ostasiatischen Wunder“ und der Entwicklung latein-amerikanischen Staaten und Afrikanischen failed states (fragile Staaten) ausmachen. Demnach müsse ein starker Staat nicht zwangsläufig zu einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung führen. Aber sicher sei, so die wissenschaftliche Erkenntnis, dass ein schwacher Staat kaum ein Garant für sozialen Fortschritt und Entwicklung bedeute. Dieser Erkenntnis folgend stellte Yang Hutao den Charakter der staatlichen Handlungsfähigkeit im chinesischen Entwicklungsprozess dar. Er bezog sich dabei auf die drei Dimensionen „Durchdringung“, „Absorbierung“ und „Verhandlung“, welche die institutionelle Handlungsfähigkeit eines Staates in seiner Steuerungsfunktion bei politischen Entscheidungen umfassen. Die bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten über staatliche Handlungsfähigkeit lieferten seiner Ansicht nach keine ausreichende Erklärung für den Prozess der Transformation der staatlichen Handlungsfähigkeiten, innerhalb dessen sich Chinas seit Beginn der Reform und Öffnung bewege. Deshalb sei in den Untersuchungen der Akademie der „Grad der Anerkennung gemeinsamer Werte“ als zusätzlicher Begriff in eine „Konzeption der Transformation staatlicher Handlungsfähigkeiten“ aufgenommen worden. Bei einem höheren Anerkennungsgrad von „gemeinsamen Werten“ sei eine geringere Abneigung bei der Erläuterung der staatlichen Handlungsfähigkeit durch die o.g. Begriffe Durchdringung (Ausgaben für Sozialversicherung, Gesundheit und Bildung), Absorbierung ( Steuereinnahmen, Gewinne staatlicher Unternehmen, Sozialversicherungseinnahmen) und Verhandlung (staatliche Vermögenswerte, staatliche Investitionen, Integration von wirtschaftlichen Ressourcen und wirtschaftlichen Eliten) zu erwarten.

Hu Leming: Chinesische Erfahrungen bei Reform und Entwicklung

Prof. Hu Leming von der Chinese Academy of Social Sciences, Shanghai nahm Bezug auf den im Jahre 1978 in China begonnenen Transformationsprozess von einer klassischen sozialistischen Planwirtschaft hin zu einer sozialistischen Marktwirtschaft. Im Vergleich mit anderen ehemaligen sozialistischen Staaten seien für ihn die Erfolge in den seit 1978 erfolgten 40 Jahren chinesischer Wirtschaftstransformation in ihrer klaren und stabilen Richtung zu sehen. Er widersprach der Popularmeinung, dass „die Ereignisfolge, die China zu einer modernen Marktwirtschaft führten, nicht geplant wurden“ und so der Erfolg der chinesischen Wirtschaftstransformation eine klassische Hayeksche „nicht-intendierte Folge menschlicher Handlung“ (Hayek, Nationalökonom, Verständnis der wesentlichen Elemente des Wirtschaftens, z.B. die spontane Ordnung als Essenz der Marktwirtschaft) wäre.

Die chinesische Wirtschaftstransformation habe sich immer an der Entwicklungsrichtung der sozialistischen Marktwirtschaft orientiert. Er zitierte die Aussage von Deng Xiaoping vom November, 1979 beim Empfang einer ausländischen Delegation: „Während wir der Planwirtschaft größte Bedeutung schenken, verbinden wir sie mit einer Marktwirtschaft – aber dies ist eine sozialistische Marktwirtschaft“. Seit Beginn der „Reform und Öffnung“- habe Chinas Politik eine marktorientierte sozialistische Reformrichtung praktiziert, deren Zielsetzungen trotz vieler theoretischer und praktischer Herausforderungen sich nicht grundlegend geändert hätten.

Zurückgegriffen werden konnte dabei auf tiefgehende Erfahrungen und Überarbeitungen der Nachteile eines traditionell geplanten Wirtschaftssystems einerseits, und der Anerkennung der Existenz der ersten Stufe des Sozialismus chinesischer Prägung. Darüber hinaus wurde die oben erwähnte Richtung in klaren Handlungsideen und tagtäglichen Sprachgebrauch konkretisiert („Lasst einige Leute zuerst reich werden.“). Hierdurch entstand und entsteht weiterhin ein kontinuierlicher Sozialzusammenhang, der unterschiedliche Kräfte dazu bringe, aktiv an der Transformation und Entwicklung teilzunehmen. Auf diese Weise gibt die Transformation und Entwicklung der chinesischen Wirtschaft nicht nur konsequente Handlungsrichtlinien auf praktischer Ebene vor, sondern unterstützt auch die Entwicklung eines stabilen und flexiblen gesellschaftlichen Mainstream-Bewusstseins. Die Wirtschafts-geschichte zeige, dass sämtliche gesellschaftlichen Transformationen, sofern sie erfolgreich waren, die logischen Konsequenzen von verändertem Massenbewusstsein und wirtschaftlicher Entwicklung durchlaufen mussten. So sei unter den Menschen kontinuierlich eine weitreichende Anerkennung für erwartbare (Mehr)-erträge aus Transformation und Entwicklung zu erbringen. Und es sei möglich, einen sozialen Konsens zu formen, der allgemein integrativ ist und Transformation und Entwicklung fördere.

Wolfgang Müller: Der Aufstieg Chinas, der US-Wirtschaftskrieg und die EU-Politik

Der China-Experte und gewerkschaftlich orientierte Publizist Wolfgang Müller konstatierte in seinen Ausführungen, dass die Weltmarkt-orientierte Wirtschaftspolitik der Volksrepublik China nicht zu der im Westen erhoffte Annäherung der Systeme geführt hat. Insofern sei eine Neuorientierung der westlichen China-Politik nach sehr unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Interessenlagen zu beobachten: für die politischen Eliten in den USA, von den Republikanern und Demokraten in gleicher Weise bis hin zu den Gewerkschaften würde China die Weltherrschaft anstreben, und dieses müsse durch einen Gegenschlag verhindert werden. Für Wolfgang Müller sind nicht die Landwirtschafts- und Konsumgüter das Kampffeld, sondern die Zukunfts-Technologien. Die schwindende bis bereits verloren gegangene „Pace Maker“- Rolle der USA in der Entwicklung von innovativen Technologien und der Festlegung von High Tech-Standards veranlassen die USA, vor allem Chips (Konflikt um Huawei, ZTE), als Hebel im Wirtschaftskrieg einzusetzen. Die USA nutzten dabei eine (Noch)-Schwachstelle der chinesischen Wirtschaft aus, die auf diesem Gebiet einen Nachholbedarf in der Technologie-Entwicklung hätten. China importiert mehr Halbleiter als Erdöl. Mit dem Ansatz des De-Coupling versuche die US-Administration, die in den letzten 30 Jahren entstandenen globalen Lieferketten mit China im Zentrum in regionalisierte Lieferketten zu zerlegen.

Die Europäischen Mittelmächte, vor allem Deutschland, sehen seiner Einschätzung nach in China ebenfalls einen systemischen Rivalen. Dabei seien die Herausforderungen in Chinas Industriepolitik („Made in China 2025“) und seiner künftigen Vormachtstellung bei Schlüssel-industrien wie z.B. Automotive, elementare Komponenten in der Elektromobilität und Mobilfunktechnologie zu sehen. Bei Zukunftstechnologien sind sowohl die USA als auch China den Europäern vorausgeeilt. Für Deutschland sei aber ein De-coupling von China keine strategische Alternative. Seine Intention sei im Umgang mit China eher auf eine intensivere wirtschaftliche Verflechtung gerichtet. Deutschland und auch Europa wollen deshalb Einfluss und Mitsprache bei Chinas Zukunftsprojekten erwirken, nachdem es für Deutschland bereits der Wirtschaftspartner Nummer 1 sei. Mit gleicher Intension verschärft sich daher auch der politische und ideologische Druck gegenüber China für mehr Konzessionen, wie etwa bei der Novellierung des Außenwirtschaftsgesetzes („Lex China“), der Menschenrechte-Diskussion (Xinjiang, Hongkong), oder etwa beim EU-Angebot an USA für eine Einheitsfront bei Standards und Patenten, und auch bei Datenschutz. Deutschland und Europa wollen vom Aufstieg Chinas weiter profitieren. Gleichzeitig garantiere aber die Verankerung im westlichen Bündnis, dass daraus keine Abhängigkeit von China entsteht. Auf die Schwächung Chinas ziele auch die Initiative Frankreichs, die EU-Beziehungen mit Russland wiederaufzubauen.

Ingar Solty: Die organische Krise des Kapitalismus und die Zukunft der Linken – Szenarien einer Welt im Umbruch

Der Politikwissenschaftler Ingar Solty, Referent bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung bezog sich in seinem Beitrag auf ein in 2011 entstandenes Kollektivpapier mit Zukunftsszenarien, das auf dem Höhepunkt der globalen Finanzkrise vom Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht wurde. Sinn und Zweck dieses Papiers war es, herauszuarbeiten, welche Szenarien vor dem Hintergrund der globalen, regionalen, nationalen und lokalen Konstellation möglich seien, um so politisch besser in sozialer und emanzipatorischer Richtung in dieser geschichtsoffenen Situation intervenieren zu können. Dabei wurden vier mögliche Szenarien angenommen:

  1. ein verschärfter autoritärer Neoliberalismus,
  2. das Projekt der „Neuen Rechten“,
  3. ein grüner Kapitalismus und
  4. ein (Social) Green New Deal.

Acht Jahre später stellen sich nach seinen Erkenntnissen verschiedene Fragen: Wie zutreffend war die damalige Zeitdiagnose? Hat sich eines der Projekte oder eine Amalgamierung von zwei oder sogar drei Projekten durchsetzen können? Ist aus der Krise bereits ein neuer Kapitalismustyp auf der Grundlage einer spezifischen internationalen Konstellation und nationaler gesellschaftlicher (Klassen-)Bündnisse hervorgegangen? Oder befinden wir uns heute weiterhin in einer Übergangsphase und damit geschichtsoffenen Situation? Haben sich die Möglichkeitsfenster für Teile dieser Projekte geschlossen oder andere, neue Projekte geöffnet? Und wie müsste ein alternatives Linksprojekt unter den neuen Bedingungen am Übergang in die 2020er Jahre aussehen?

Die realen und potenziellen Überdeterminierungen der einzelnen Krisendimensionen erschwerten die Skizzierung von Zukunftsszenarien, weil sich die im Jahre 2011 skizzierten Szenarien heute in eine Vielzahl von möglichen Szenarien aufzulösen scheinen. Seiner Einschätzung nach zeichnen sich dennoch gewisse Entwicklungspfade und zeitgeschichtliche Tendenzen ab, die möglicherweise idealtypische Bewertungspole und Orientierungspfeiler für die Beobachtung und die Intervention in die politischen Entwicklungen sein könnten. Die in von Ingar Solty aufgezeigten Szenarien, die von autoritären Kapitalismus-Strukturen bis hin zu Szenarien von führenden Industrienationen mit entsprechenden ökonomischen, finanziellen und politischen Spielräumen reichten, sollen hier nicht erörtert werden. Eine umfassende Darstellung der vorgetragenen Szenarien ist einer Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung vorenthalten.

Die knapp gehaltene Zusammenfassung der vorgetragenen Beiträge erfüllt selbstredend nicht den Anspruch einer kompletten Darstellung der isw-Konferenz. Die Referate der Konferenz werden als isw-Report 119, der Mitte Dezember 2019 erscheint, veröffentlicht.