In den vergangenen Monaten schien es fast so, als hätte das Corona-Virus die Wirtschaftspolitik grundlegend verändert. Von der „schwarzen Null“ war kaum noch die Rede. Stattdessen wurden milliardenschwere Investitions- und Hilfsprogramme beschlossen und praktisch unbegrenzt, neue Kredite dafür aufgenommen. Plötzlich ging vieles, was vorher völlig undenkbar war. Doch seit November, zum Ende dieses Corona-Jahres, kommen sie wie Zombies wieder aus der Gruft - die „schwarze Null“ und ihre Schwester, die Schuldenphobie. In den Debatten um den Bundeshaushalt 2021 war die Schuldenbremse unvermittelt wieder ein Thema. Auch Frau Merkel kündigt an, dass es mit dem Geldausgeben nicht mehr lange so weitergehen könne. Friedrich Merz und die Junge Union verlangen die möglichst schnelle Rückkehr zur schwarzen Null. Die Süddeutsche Zeitung stellt die bange Frage: „Kann Deutschland pleitegehen?“ und prognostiziert, dass im kommenden Bundestagswahlkampf die Schuldentilgung ein zentrales Thema sein wird (SZ 28./29.11.). Und so diskutieren wieder alle in den alten Denkmustern: Versinken wir in einem Meer von Schulden? Und: Wer soll das bezahlen? Wir haben in einem Artikel im Juni dieses Jahres kurz beschrieben, was es dazu zu sagen gibt. Aber aus dem gegebenen Anlass heraus wollen wir hier, mit einigen Aktualisierungen, diesen Text noch einmal veröffentlichen:
Bedarf
Zunächst einmal ist die Diskussion um die Ausgabensteigerung ohnehin ein wenig realitätsfremd: Wenn man die Coronahilfen nicht leisten würde, hätten wir in Deutschland und Europa einen nie dagewesenen Zusammenbruch der Ökonomie und eine explodierende Massenarbeitslosigkeit. Dass die europäischen Staaten und die EU dagegen Geld in die Wirtschaft pumpen, muss sein. Die ökonomischen Corona-Probleme resultieren hauptsächlich aus durchaus notwendigen, staatlich verordneten Produktionseinschränkungen. Wenn Menschen aufgrund staatlicher Anordnung ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen können, ist es nur logisch, dass eben derselbe Staat einspringen und den Verdienstausfall kompensieren muss. Demzufolge sind im Prinzip alle Zahlungen sinnvoll, die einen Ausgleich der Einkommens- und Ertragseinbußen sicherstellen („monetäre Brücke“). Sinnvoll sind auch Investitionen, die dazu dienen, die in der Coronakrise sichtbar gewordenen Defizite im Gesundheitswesen, in der Pflege und in den Schulen zu beseitigen. Und notwendig wären auch Fördergelder für den ökologischen Umbau, wie sie von der EU zumindest theoretisch vorgeschlagen werden. (Kontraproduktiv sind dagegen lobbygetriebene Subventionen für Konzerne, beispielsweise Kaufprämien für Autos.)
Woher kommt das Geld?
Aber natürlich stellt sich die Frage, woher das Geld für all diese Programme kommen soll. Anders als oftmals suggeriert, stammt es nur geringfügig aus Steuergeldern. Womit auch die beispielsweise bei der AfD beliebte Behauptung unsinnig ist, “wir“ würden in den EU-Hilfsprogrammen mit unseren Steuern Italiener oder Griechen dafür bezahlen, dass sie früher in Rente gehen oder sich teure Wohnungen kaufen können. Letztlich werden die Mittel überwiegend durch Kreditaufnahme erbracht. Zu einem Teil werden diese Gelder von den Staaten auch nicht einmal direkt aufgenommen, sondern, wie etwa im Fall der KfW-Hilfen für den Mittelstand, nur verbürgt. Die Kredite an die Unternehmen selbst werden von den Banken vergeben und stehen in den Büchern der Kreditinstitute. Doch natürlich erhöhen die vom Staat direkt finanzierten Maßnahmen die Staatsschulden. So nimmt die Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2020 neue Schulden in Höhe von 218 Milliarden auf, für das kommende Jahr sollen es 180 Mrd. € werden. Entscheidend für die Beurteilung dieser Verbindlichkeiten ist aber, wer sie hält, wer also die Gläubiger sind. Nun sollte es sich herumgesprochen haben, dass die Finanzierung der EWU-Länder bereits seit Ausgang der „Eurokrise“ größtenteilss durch die EZB erfolgt. Die EZB hat in den vergangen Jahren Staatsschulden von etwas über 2.000 Milliarden € aufgekauft (Insgesamt bis Ende 2019 rund 2.600 Mrd. €, darunter aber auch Bank- und Unternehmensanleihen.) Ein neues, coronabedingtes 1.350 Milliarden € schweres Ankaufprogramm wurde bereits im Sommer 2020 beschlossen und läuft seit einigen Monaten. Der Mechanismus ist einfach: Staaten emittieren Schuldverschreibungen, die von einigen Großbanken aufgekauft werden. Diese Banken verkaufen die Staatspapiere dann mit einem lukrativen Kursaufschlag an die EZB weiter. Damit landen die Schulden bei der Zentralbank. Zwar ist der EZB, anders als anderen Zentralbanken, die direkte Staatsfinanzierung verboten- aber durch die Aufkäufe ist eine indirekte Finanzierung an der Tagesordnung. Durch die bisherigen Kaufprogramme stieg beispielsweise der Anteil der EZB an den gesamten ausstehenden deutschen Staatspapieren zwischen 2013 und 2019 von Null auf 27,6 %. Ein Betrag von nicht ganz 530 Milliarden €, der zeigt, dass in den letzten Jahren große Teile der neu aufgenommenen öffentlichen Kredite bei der EZB gelandet sind. Für alle anderen Euroländer gilt ähnliches: So hat die Zentralbank derzeit französische Staatspapiere über 425 Mrd. € und italienische über 364 Mrd. € im Portfolio. Das Geld für diese Aufkäufe produziert die EZB selbst. Zentralbanken haben die Kompetenz und die Aufgabe der Geldschöpfung. Sie schaffen Geld und Kredit aus dem Nichts. Und damit ist die Frage „Wer soll das bezahlen“ im Prinzip bereits gelöst: Die Zentralbank, aufgrund ihrer Geldschöpfungskompetenz!
Was ändert das?
Aber halt, kommt da der Einwand: Was ändert das? – wir alle müssen dann die Schulden eben an die Zentralbank zurückzahlen. Verschuldung bleibt doch Verschuldung, der Schuldenberg muss abgetragen werden! Eben nicht! Die Zentralbank gehört letztlich den Staaten. Die „Schulden“ an die Zentralbank sind Schulden der Staaten an sich selber – und damit keine. Und schon gar nicht müssen sie zurückgezahlt werden. Die EZB kann die Staatspapiere auf unbegrenzte Zeit in der Bilanz halten, sie könnte sie formell auch ausbuchen oder langfristig abschreiben, ohne dass irgendetwas passieren würde. Die gerade in Deutschland verbreitete Schuldenphobie ist damit weitgehend grundlos. Dass neoliberale Wirtschaftspolitiker und Regierungen, Wirtschaftsforschungsinstitute und Ökonomieprofessoren immer wieder den Abbau von Staatschulden fordern, Schuldengrenzen definieren oder die „schwarze Null“ erfinden, hat ganz andere Gründe. Sie wollen die Staatsfinanzierung durch die Zentralbank verhindern, um die Staaten „marktkonform“ den Finanzmärkten und deren Profitmaximierung zu unterwerfen.
Müssen Staaten ihre Schulden abbauen?
Aber natürlich ist die Wirklichkeit etwas komplizierter. Die EZB kauft ja nun nicht alle Staatschulden auf. Es bleibt also ein Teil, der über die Geschäftsbanken und die Kapitalmärkte finanziert wird. Und die Kredite von Geschäftsbanken müssen natürlich irgendwann zurückgezahlt werden. Allerdings bedeutet auch das nicht, dass die Staaten zwingend ihre Verschuldung insgesamt reduzieren müssen. Sie können revolvieren, das heißt einen Kredit dadurch zurückzahlen, dass sie einen neuen in selber Höhe aufnehmen. Der Schuldenstand bleibt damit unverändert. Nun wird vor allem in Deutschland seit Jahren das Mantra von den stetes zu hohen Staatschulden ständig wiederholt und „Schuldenabbau“ ist ein zentraler Bestandteil allen konservativen wirtschaftspolitischen Denkens. Wenn man reale ökonomische Zusammenhänge betrachtet, muss man sich allerdings fragen, wie man derartige Positionen ernsthaft vertreten kann. Stellen wir uns vor, alle Euroländer würde ihre Staatsschulden abbauen, jedes Jahr also Milliarden an die Sparer und Investoren zurückzahlen. Was macht der „deutsche Sparer“, wenn er sein Geld zurückbekommt und es nicht mehr neu in Bundespapieren oder in all den Fonds anlegen kann, die auf Staatspapieren beruhen? Was machen Versicherungen oder Rentenkassen, wenn sie keine Anlagemöglichkeiten mehr haben, weil die Staaten kein Geld mehr annehmen? Kurzum: Würden alle Länder ihre Schulden abbauen, würde vermutlich das gesamte Geld- und Finanzsystem zusammenbrechen. Dazu kommt außerdem noch, dass dieser Abbau eine massive Reduzierung der Staatsausgaben voraussetzt. Damit würde ein Teil der staatlichen Nachfrage wegbrechen und die Wirtschaft in eine Dauerkrise verfallen. Letztlich gilt: Jedem Sparer muss ein Kreditnehmer gegenüberstehen, sonst funktioniert das System nicht. Dass sich niemand mehr verschulden darf, aber alle sparen sollen, ist ein merkwürdiger Gedanke. Fazit: Die Coronalasten lassen sich durch die EZB finanzieren, ohne dass dadurch eine reale Verschuldung der Staaten entstehen muss. Ein (rascher) Abbau von Staatsschulden nach der Coronakrise würde die Wirtschaft und das Geldsystem in eine existenzielle Krise führen.
Alles kein Problem?
Aber noch ein Hinweis für Skeptiker: Natürlich sind Verschuldung und EZB-Finanzierung nicht problemfrei.
- Die Höhe der Staatsschulden wird dann zu einem Problem, wenn die Zinsen auf kapitalmarktfinanzierte Anleihen wieder steigen und damit höhere Zinsbelastungen der Haushalte entstehen würden.
- Permanente Staatsfinanzierung über die Notenbank kann inflationär wirken. Allerdings: Diese Wirkung ist an den Gütermärkten derzeit eher ausgeschlossen. Inflation entsteht entweder durch einen Nachfrageüberhang oder kostengetrieben durch steigende Rohstoffpreise oder durch Lohnkosten, die deutlich stärker als die Produktivität steigen. Die Eurozone leidet seit 2009 an Arbeitslosigkeit, niedrigen Investitionen und Nachfrageschwäche. Das alles wird durch Corona gerade drastisch verstärkt. Die Einkommensrückgänge und damit die Nachfrageeinbrüche sind massiv. Die aktuelle Situation ist demzufolge das glatte Gegenteil eines Inflationsszenarios bei den Waren- und Dienstleistungspreisen.
- Staatsfinanzierung durch die Zentralbank kann gegenwärtig aber durchaus zu einer Inflation der Vermögenswerte führen, also zu Blasen an den Finanzmärkten. Ob und in welchem Umfang sich solche Blasen bereits gebildet haben, kann der Autor dieser Zeilen nicht seriös einschätzen. Jedenfalls waren die Finanzmärkte in den vergangenen Monaten der Coronakrise erstaunlich robust. Allerdings dürfte hier trotzdem die Hauptgefahr der Zentralbankfinanzierung liegen: Aufgeblähte Aktien- und Immobilienmärkte oder auch Kredite für unrentable Firmen könnten sich als künftige Krisenpotentiale herausbilden.
- Die mit den Aufkaufprogrammen der EZB zusammenhängende Nullzinspolitik hat massive negative Auswirkungen für die private Vermögenssicherung.
- Auch verteilungspolitisch ist die Geldschöpfung negativ zu bewerten, weil sie tendenziell Vermögensunterschiede vergrößert. Notwendig wäre eine ergänzende „Millionärssteuer“.
- Staatsfinanzierung durch die Notenbank ändert wenig an den grundlegenden ökonomischen Problemen der Eurozone, die sich beispielsweise in einer steigenden Divergenz der Mitgliedsländer, also im Auseinanderfallen in Verlierer und Gewinner der Wirtschafts- und Währungsunion ausdrücken. Und sie ändert erst recht nichts am ständigen Marktversagen marktwirtschaftlich-kapitalistischer Ökonomien.
Aber trotz dieser „Warnhinweise“: Die ständige Behauptung, die Coronahilfen kämen „uns“ irgendwann furchtbar teuer zu stehen und das ökonomische Hauptproblem unserer Zeit seien explodierende Schulden, ist meistens Propaganda von Leuten, die unbeirrbar längst widerlegten Geldtheorien anhängen, den Staat schwächen und die Länder Europas völlig den Kapitalmärkten unterwerfen wollen. Kurzum: Die Coronahilfen sind durch die EZB finanzierbar, die weitverbreitete Schuldenfurcht ist unangebracht. Die gegenwärtige Geld- und Finanzpolitik ist nicht problemfrei, sicher ist aber eins: Viel mehr als die Verschuldung selbst wäre eine Rückkehr zur Sparpolitik das eigentliche Problem - wenn also eine neoliberale Wirtschaftspolitik erneut den Abbau von Schulden erzwingen würde, die gar nicht abgebaut werden müssen und die auch nicht abgebaut werden dürfen, weil weder die Staaten noch die europäischen Volkswirtschaften neue Sparprogramme vertragen können.