2428 Millionen Euro überweist die Regierung den vier Atomkonzernen. Warum? Dazu muss ich etwas ausholen. Mit Abschluss des sogenannten rot-grünen Atomausstieges 2000/2002 verstummte die gesellschaftliche Atomstromdiskussion und die vier Atomkonzerne EON, RWE, Vattenfall, EnBW sollten unbehelligt über Jahrzehnte Atomstrom erzeugen können (der Ausstieg ist ja festgelegt), perspektivisch bis tief in die 2020er und sogar 2030er Jahre. Das reichte ihnen bald nicht mehr, sie wollten mehr. Also beschloss die Merkel-Westerwelle-Regierung im Herbst 2010, getreu nach dem Konzept der marktkonformen Demokratie, eine Laufzeitverlängerung der AKWs um durchschnittlich 12 Jahre. Man beachte: Bei der Konstruktion der AKWs in den 1960er bis 1980er Jahren war man von einer Standzeit der Meiler von bis zu 25 Jahren ausgegangen – jetzt sollten sie bis in die 2040er Jahre Volllast laufen. Aber die Regierung hatte richtig Pech: einige Monate später, am 11.03.2011, explodierte Fukushima, und Atomstrom war politisch plötzlich ziemlich out. Die Laufzeitverlängerung wurde zurückgenommen, und wurden zwei Zugeständnisse an den vorherrschenden AKW-Widerstand gemacht:

  • Die acht ältesten und gefährlichsten AKWs wurden sofort endgültig abgeschaltet (darunter Krümmel, das in den Jahren vorher andauernd Brände und Schnellabschaltungen lieferte),
  • Stilllegungstermine wurden für jedes der verbleibenden AKWs festgelegt: Ende 2022 schalten die letzten ab (hoffentlich).

Eine gute Sache, aber: Der ursprüngliche Vertrag garantierte den Konzernen nicht 32 Jahre AKW-Standzeit, sondern Strommengen, die sie in 32 mal 365 mal 24 Stunden erzeugen könnten (mit frei gewähltem Erzeugungszeitraum). Das konnten sie jetzt aber nicht mehr voll ausschöpfen, wo doch die ganz alten AKWs weg waren (aber mit ihnen immer noch das Recht auf einige noch unausgeschöpfte Reststrommengen vorhanden war) und die anderen AKWs einen definierten relativ frühen Endzeitpunkt hatten. Insbesondere Vattenfall war gekniffen: Sie hatte nur alte, jetzt abgeschaltete AKWs und konnte daher ihr Recht auf die Produktion verbleibender Atomstrommengen selber gar nicht mehr wahrnehmen. Vattenfall hätte ihre Restmengen an die anderen drei Konzerne verkaufen können (es gab vor 2011 ein reges Schachern dieser Rechte auf Atomstrom, so wie auch die CO2-Zertifikate fleißig hin- und hergeschoben werden, alles bewährtes marktwirtschaftliches Handeln). Aber die anderen drei Konzerne hatten keinen Bedarf, sondern hatten selber einen Reststrom-Überschuss – sie wollten ja eigentlich bis in die 2030er Jahre Atomstrom machen. Bis zum definierten Ausstieg Ende 2022 sind die ursprünglich zugesicherten Atomstrommengen nicht mehr alle erzeugbar.

Was tun? Die Konzerne kamen zum Schluss, dass der Staat sie ausgetrickst und schamlos enteignet, sie ihrer zugesicherten Produktionsrechte beraubt habe. Also gingen sie, gemeinsam, vor das Verfassungsgericht und klagten gegen all diese Ausstiegsmaßnahmen von 2011 (auch gegen die Brennelementesteuer; aber das ist ein anderer Punkt). Das Gericht urteilte 2016, dass der Staat frei sein müsse, einen Atomausstieg zu erzwingen, wenn der Betrieb von AKWs als zu gefährlich eingeschätzt werde. Allerdings müsse er den Betreibern Entschädigung zahlen für die nicht mehr erzeugbaren Atomstrommengen.

Vattenfall hatte noch einen besonderen Vorteil: Sie ist die Tochter eines ausländischen, schwedischen Konzerns. In den internationalen Handelsverträgen – man erinnere sich an TTIP – ist vereinbart, dass ausländische Konzerne bzw. deren Töchter im Gastland gegen profitmindernde Maßnahmen der Regierung des Gastlandes vor einem internationalen Schiedsgericht klagen können. Vattenfall nutzte den Energy Charter Treaty (der derzeit von diversen Initiativen mit Recht an den Pranger gestellt wird) und klagte 2012 – zusätzlich zur inländischen Gerichtsklage – in Washington gegen die Bundesregierung auf einen Schadensersatz von 4,7 Milliarden Euro zuzüglich Zinsen, aufsummiert bis heute etwa 6 Mrd. Euro. Dutzende Verhandlungstage liefen seither. Sechs Fachleute des Wirtschaftsministeriums sind dafür abgestellt; die Anwalts- und Gerichtskosten für die Regierung belaufen sich mittlerweile auf 22 Mio. Euro – was allerdings ein Schnäppchen ist im Vergleich zu einem vermittelnden Anruf für ein FFP2-Maskengeschäft, der allein schon einige Hunderttausende wert ist, wie man jetzt weiß. Vor ein paar Tagen nun die Verhandlungslösung nach einem jahrelangen Poker: Die Regierung, also wir Steuerzahler*innen, zahlt 2428 Millionen Euro; der Hauptteil geht mit 1425 Mio. Euro an die Vattenfall, RWE bekommt 880 Mio. Euro, EnBW 80 Mio. Euro und EON noch 43 Mio. Euro. Damit sind alle Streitpunkte aus der Reststrommengen-Frage abgegolten. Vattenfall zieht die Washingtoner Klage zurück, alle vier Konzerne stellen in dieser Frage keine weiteren Forderungen. Ist das teuer? Die 2,4 Mrd. Euro bedeuten, dass jede kWh nicht erzeugter Atomstrom von den Steuerzahler*innen mit 3,3 Cent bezahlt wird. Das entspricht in etwa dem aktuellen Börsenpreis für Strom auf der Erzeugungsebene. Pro Jahr nicht mehr möglicher Laufzeit eines AKWs zahlen wir den Atomkonzernen etwa eine Viertel-Milliarde Euro.

Schon ein Haufen Geld, möchte man meinen, aber im Vergleich zu dem, was uns insgesamt der billige Atomstrom und vor allem Ausstieg, Rückbau und Endlagerung kostet: eigentlich nicht groß der Rede wert. Die Stromkonzerne verdienen derzeit ihre Profite wesentlich mit der Nicht-Produktion von Strom: Nicht nur für Nicht-Atomstrom, sondern auch für Nicht-Kohlestrom kriegen sie ordentlich Steuergeld. Das ist doch auch mal ein interessanter Ansatz: Die Konzerne dafür bezahlen, dass sie die Welt nicht zerstören. BMW dafür bezahlen, dass sie keine SUV bauen. Die Pharmakonzerne dafür, dass sie keine Neonikotinoide produzieren. Die Rüstungskonzerne dafür, dass sie keine Bomben, Flugzeuge und G36 produzieren. Träumen am Fukushima-Jahrestag. Zum Kohlestromausstieg und den damit verbundenen Zahlungen an die Konzerne: wirtschaftsinfo 58, erscheint in Kürze.