In wenigen Jahrzehnten hat die Volksrepublik China im Aufbau eines sozialistischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems Operationen bewältigt, die ein außergewöhnlich erfolgreiches, international agierendes Wirtschaftssystem entstehen ließen. Die chinesische Wirtschaft mit ihrer systematischen staatlichen Steuerung hat sich in der Phase seiner Transformationspolitik von 1978 bis zum heutigen Tage zu einer sozialistischen Marktwirtschaft chinesischer Prägung entwickelt: Die chinesische Regierung ist in der Lage, auf der Grundlage der menschenzentrierten Entwicklungstheorie in die wirtschaftliche Entwicklung einzugreifen, sie bewusst zu gestalten, um das Wohlergehen seiner Menschen zu fördern und stetig in Richtung eines gemeinsamen Wohlstands voranzukommen[1]. Die in den vergangenen drei Planungsperioden beschlossenen und umgesetzten 5-Jahrespläne des Nationalen Chinesischen Volkskongresses belegen, dass der Fokus der Regierung besonders auf Sozialprogramme, auf Ausbildung, Gesundheit, Umbau und Modernisierung der Industrien ausgelegt war. Und dies geschieht in dem sozialistisch-marktwirtschaftlich geprägten Gesellschaftsmodell, made in China, mit einem äußerst dynamischen Privatsektor, der zu über 60% zu Chinas Wirtschaftsleistung beiträgt und etwa 80% zur Beschäftigung in den Städten beiträgt. Die Zentralregierung ist in der Lage, in ihrem Bemühen der graduellen Transformation eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums vorzunehmen, indem sie einen genügend großen Teil der Wirtschaftsleistung beeinflusst und reguliert. Die chinesische Zentralregierung kann systemisch mit ihren nachgeordneten Provinzbehörden ihre wirtschaftliche Macht bewusst einsetzen, um die gesellschaftliche Entwicklung zu gestalten: Staatliche Unternehmen dominieren den Energiesektor, die Finanzindustrie, die Telekommunikation und die Eisenbahnen. Trotzdem der Grund und Boden auf Zeit an Privathaushalte und Unternehmen verpachtet wird, kontrolliert der chinesische sozialistische Staat einen großen Teil der Produktionsmittel[2]. Das versetzte ihn schon in der Vergangenheit in die Lage, in den Märkten wie Börsen und Immobilienmarkt zu intervenieren, wenn es gesellschaftlich geboten erschien, Korrekturen im Sinne einer sozialistischen Gesellschaftsentwicklung vorzunehmen.
Neue Geister sind nicht gerufen
Derzeit dreht sich die in China öffentlich ausgetragene Debatte von Politikern und Wissenschaftlern um die weitere Modernisierung des chinesischen Gesellschaftsmodells. Im Zentrum der Debatte steht die hinlänglich dokumentierte Zielsetzung eines gemeinsamen Wohlstands, d. h. Güter und Lasten gleicher zu verteilen, indem die Einkommen der Gruppen mit niedrigerem Einkommen erhöht, der Anteil der Gruppen mit mittlerem Einkommen vergrößert und hohe Einkommen vernünftig angepasst und, wenn erforderlich, die letztgenannten auch eingeschränkt werden. Die Bedeutung des gemeinsamen Wohlstands benennt der chinesische Staatspräsident und Generalsekretär der KPCh, Xi Jinping mit den Worten, dass die absolute Armut in China beseitigt und damit das Ziel des Aufbaus einer gemäßigt wohlhabenden Gesellschaft erreicht sei. Bis 2049, dem hundertsten Jahrestag der Volksrepublik, solle ein modernes sozialistisches Land aufgebaut werden, das wohlhabend, stark, demokratisch, kulturell fortgeschritten und harmonisch sei. Dabei solle die sozialistische Marktwirtschaft weiterhin genutzt werden, um das Wirtschaftswachstum zu fördern und gleichzeitig den Reichtum so umzuverteilen, dass China nicht in die Zeiten der Armut unter Mao Zedong zurückfällt. China hat Fortschritte bei der Verringerung der Einkommensunterschiede und der Förderung einer gerechteren Verteilung gemacht, etwa durch den Ausbau des Sozialversicherungs-systems, um den Lebensstandard von Menschen mit mittlerem und niedrigem Einkommen zu verbessern. Die durchschnittlichen Stundenlöhne chinesischer Arbeiter haben sich beispielsweise im Zeitraum von 2006 und 2016 inflationsbereinigt verdreifacht, von 1,2 auf 3,6 US- Dollar (andere Schwellenländer zum Vergleich: Mexiko 2,10, Brasilien 2,7, Indien 0,7 US-Dollar. Die Lohn- und Gehaltsentwicklung erfolgt seit diesem Zeitraum mindestens in Höhe des Produktivitätsfortschritts[3]. Das Entwicklungsgefälle zwischen den städtischen und ländlichen Gebieten Chinas sowie zwischen verschiedenen Regionen und Branchen ist weiterhin festzustellen. Mit einem Gini-Koeffizienten von 0,46 gehört China zu den 20 Prozent der Länder mit den größten Einkommensunterschieden. Der Gini-Koeffizient ist ein statistisches Standardmaß zur Messung der Ungleichheit einer Verteilung. ... Ein Gini-Koeffizient von 0 bedeutet, dass alle verglichenen Personen genau das gleiche Einkommen oder Vermögen haben. Nach Angaben des Nationalen Statistikamtes war das Pro-Kopf-Einkommen der Stadtbewohner im Jahr 2020 etwa 2,6 Mal so hoch wie das der Landbewohner, und das höchste Pro-Kopf-BIP der Provinzen, autonomen Regionen und Kommunen war etwa 4,6Mal so hoch wie das niedrigste. Außerdem war 2019 das Durchschnittsgehalt der Beschäftigten im nicht-privaten Sektor in städtischen Gebieten fast 1,7Mal so hoch wie das ihrer Kollegen im privaten Sektor. Diese Angaben können als ein statistisch belegbarer Indikator für die anstehenden Modernisierungen und Reformansätze eines nach wie vor definierten Entwicklungslandes angeführt werden. Und hier greift die Art und Weise der „graduellen Transformation“ der Wirtschaftsentwicklung Chinas, Reibungsverluste und Verzögerungen eingeschlossen[4]. Im Frühjahr 2021 verabschiedeten die Gesetzgeber des Nationalen Volkskongresses den Entwurf des 14. Fünfjahresplans (2021-2025) für die nationale wirtschaftliche und soziale Entwicklung und die langfristigen Ziele bis zum Jahr 2035. Die vier Schwerpunkte des aktuellen Fünfjahresplans bilden gewissermaßen die Grundlage für die festgelegte entwicklungsdynamische Kurskorrektur: Die Versorgung der Bevölkerung durch die Fortsetzung des Wirtschaftswachstums, ein Umbau der Schlüsselindustrien zur Erlangung höherer nationaler Eigenständigkeit, die Förderung der technologischen Innovation und der Umweltschutz und Kohlenstoff-Neutralität. Zunächst ist diese Festschreibung des langfristigen Entwicklungspfades als eine Reaktion auf den anhaltenden Wirtschaftskrieg (Schutzzölle, Ausfuhrbeschränkungen von High Tech Vor-Produkten) der USA zu werten, um die Wirtschaftsentwicklung Chinas zu behindern. China setzt im Gegenzug auf die Strategie der »zwei Kreisläufe« (»dual circulation«) Der »äußere Kreislauf«, das Auslandsgeschäft, soll die Abhängigkeit besonders von USA-Technologie durch Eigeninitiativen von Technologieentwicklung und Forschung reduzieren und die nationale Eigenständigkeit vorantreiben. Parallel soll der »innere Kreislauf« als eine Maßnahme zur Stärkung des Inlandskonsums vorangetrieben werden.
Marktregulierung
Eine weitere, zu erwartende und jetzt greifende Maßnahme ist das Vorgehen gegen die riesigen Tech-Konzerne. Zu benennen sind u.a. Alibaba und dessen Finanzarm Ant Group sowie Tencent mit seinen Geschäftsfeldern Sofortnachrichtendienste, Soziale Netzwerke, Onlinemedien (Webportale), Internet-Mehrwertdienste (stationär und im Mobilfunk), interaktive Unterhaltung (insbesondere Mehrspieler-Onlinespiele, elektronischer Netzhandel und Onlinewerbung. Die Ant Group agiert mit höchst riskanten Finanzinstrumenten, die schwere Finanzkrisen auslösen können. Tencent war mit finanzieller Hilfe US-amerikanischer Risikokapitalgeber gegründet worden. Die allzu mächtig gewordenen Tech-Konzerne mit ihren fast nicht mehr kontrollierbaren Einflüssen auf die Wirtschaftsentwicklung des Landes erfahren im Zuge der wirtschaftlichen Erholung und erforderlichen Konsolidierung der Wirtschaft, nach den negativen Auswirkungen der COVID-19-Ausbrüche, Naturkatastrophen und der hegemonialen US-Wirtschaftssanktionen, Einschränkungen ihres Spielraumes. Und sie sind aufgefordert, der Gesellschaft einen Teil ihres Reichtums zu übertragen. So spricht die Global Times denn auch nicht von einer „neuen Kulturrevolution“, sondern von normalen Regulierungen des Marktes zur Förderung von Gerechtigkeit und Wohlstand. Das harte Durchgreifen in Sektoren von der Technologie bis zur Nachhilfe sei auch laut der Investmentbank dazu gedacht, die Wirtschaft langfristig gerechter und produktiver zu machen, und nicht, um Privatunternehmen auf breiter Front zu treffen. In Wirtschaftskreisen wird erwartet, dass die Zentralregierung die Besteuerung von Eigentum, Erbschaften und Kapitalerträgen einführen könnte, um das Spielfeld in einer Gesellschaft zu ebnen, in der die obersten 1 % laut Credit Suisse heute 31 % des Vermögens kontrollieren - vor zwei Jahrzehnten waren es noch 21 %. Es wird erwartet, dass auch der Vorzugssteuersatz von 10 %, den Internetunternehmen genießen, zugunsten des Standardsteuersatzes von 25 % für Unternehmen zurückgenommen wird.
Die Förderung hochwertiger Entwicklung für Alle
Währenddessen wirbt die Zentralregierung um Verständnis dafür, dass die Erlangung allgemeinen Wohlstands eine langfristige, harte und komplexe Aufgabe sei, zu deren Realisierung ein beständiges Bemühen erforderlich sei. Das Streben nach allgemeinem Wohlstand würde nicht bedeuten, „die Reichen zu bestehlen.“ Han Wenxiu, stellvertretender Leiter des Büros für Finanz- und Wirtschaftsfragen des Zentralkomitees, betonte auf einer Pressekonferenz, August, 2021, dass allgemeiner Wohlstand nicht Wohlstand für wenige bedeute, sondern Wohlstand für alle. „Dies heißt, dass die Menschen sowohl in materieller wie auch in spiritueller Hinsicht reich sind, und nicht etwa materiell reich, spirituell aber arm. Auch unter dem allgemeinen Wohlstand wird es noch manches Wohlstandsgefälle geben, aber es wird kein Wohlstand unter der Prämisse einer säuberlichen und uniformen Gleichmacherei sein.“ Wang Qiang, außerordentlicher Professor an der Business School der Renmin University of China, betont, dass „Internetunternehmen … die Führung im Cloud Computing übernommen haben ... und sollten mit ihren fortschrittlichen digitalen Technologien verschiedene Branchen im ganzen Land unterstützen, darunter das Gesundheitswesen, das Bildungswesen und die Landwirtschaft“. Er fügte hinzu, dass sie auch eine wichtige Rolle bei der Entwicklung einer neuen Art von Konsum sowie bei der Förderung einer hochwertigen Entwicklung und des allgemeinen Wohlstands spielen sollten. Ein verantwortungsbewusstes Internetunternehmen sollte nicht nur Big Data, künstliche Intelligenz, 5G, Cloud Computing, Blockchain und andere neue Technologien nutzen, um ein neues Wirtschaftsmodell anzuführen, sondern auch einen Geist der humanistischen Fürsorge und des guten Willens verkörpern, sagte Tian Feng, ein Forscher am Nationalen Institut für soziale Entwicklung der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften. Tencent Holdings Ltd. kündigte im August 2021 an, zu den zugesagten Reichtums-Übertragungen von 100 Mrd. Renminbi weitere 50 Milliarden Yuan in die Unterstützung der Lebensbedingungen der Menschen zu investieren, einschließlich der Wiederbelebung des ländlichen Raums, der Erhöhung der Einkommen von Arbeitern mit niedrigem Einkommen, der Verbesserung des primären Gesundheitssystems und der Förderung einer ausgewogenen Entwicklung des Bildungswesens. Der E-Commerce-Riese Alibaba von Jack Ma hat die Bereitstellung von 100 Milliarden Renminbi (15,5 Milliarden US-Dollar) zugesagt, um gemeinsame Wohlstandsinitiativen bis 2025 zu finanzieren. Alibaba stand bereits Ende 2020 im Rampenlicht, nachdem die Aufsichtsbehörden das Unternehmen mit einer Geldstrafe in Höhe von 2,8 Mrd. USD belegt und den 37 Mrd. USD schweren Börsengang seiner Fintech-Sparte Ant Group abgelehnt hatten, die daraufhin zu einer Umstrukturierung aufgefordert wurde. Die Investitionen von Alibaba werden in die Förderung von technologischer Innovation, wirtschaftlicher Entwicklung und hochwertiger Beschäftigung fließen, sowie in die Unterstützung benachteiligter Gruppen und die Einrichtung eines 20 Milliarden Yuan schweren Entwicklungsfonds für den allgemeinen Wohlstand. Zu erwähnen sind des Weiteren die Reichtums-Übertragungen von jeweils 10 Milliarden Renminbi von den Chefs von Pinduoduo, Xiaomi und Meituan für verschiedene soziale Projekte. Trotz der anhaltenden und kontrovers geführten Debatte um die jetzt umgesetzten Regulierungsmaßnahmen gegenüber den Tech-Unternehmen wäre es absurd anzunehmen, dass diese darauf abzielten, der Wirtschaft zu schaden und die marktwirtschaftliche Öffnung für Investitionen im angewandten Stil der sozialistischen Marktwirtschaft chinesischer Prägung in Frage zu stellen. „Richtig ist, dass in den Jahrzehnten der marktwirtschaftlichen Öffnung Chinas wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft immer oberste Priorität der staatstragenden KPCh geblieben ist, nicht die Interessen privater Investoren.“[5] Die von westlichen Medien und von einigen Wirtschaftsverbänden vorgebrachten Befürchtungen, Privat-Investoren könnten die Lust an dem China-Business verlieren wegen zunehmender Reglementierungen, erscheinen trotz des Rückzugs von Anlegern aus dem chinesischen Immobilienmarkt, dem Glückspielsektor und elektronischen Zahlungsmittel-Sektor aktuell nicht belegbar. Die Börsenkapitalisierung der zehn größten Privatkonzerne des Landes haben sich in den vergangenen 9 Jahren um zwei Billionen $ erhöht[6]. Es bleibt festzuhalten, dass die in die Wege geleiteten Reformbewegungen (graduelle Transformation, ) zur Modernisierung des Landes seit der Marktöffnung durch den Reformführer Deng Xiaoping in den späten 1970er Jahren ihre Entwicklungsdynamik beibehalten haben. Mit seinen häufig zitierten Worten leitete Deng den wachstums-orientierten Aufschwung des Landes mit der Ermahnung ein: „Lasst zuerst einige Leute reich werden“. Seine vollständige Aussage lautete damals, dass von denjenigen, die es zu Reichtum bringen, erwartet würde, dass sie „andere Regionen und Menschen dazu bringen, allmählich gemeinsamen Wohlstand zu erreichen“. Geradlinige gesellschaftliche Entwicklungen kennt die Geschichte bislang nicht. Und insofern sind gesellschaftlichen Prozessen der graduellen Transformation Rückschläge und Kurskorrekturen inhärent. Und so am Rande bemerkt, heftige und konstruktive Debatten über die Zukunft gibt es auch in China nicht erst seit heute[7]. Die Entwicklungsdynamik der chinesischen Gesellschaftsformation zielt darauf ab, die nicht zu leugnende Diskrepanz zwischen reich gewordenen Minderheiten und nach wie vor ärmeren Bevölkerungsgruppen, dem Einkommensgefälle zwischen Stadt und Land, der prekären Situation der Wanderarbeiter mit Maßnahmen zu begegnen. Die oberste Wirtschaftsbehörde des Landes hat aktuell angekündigt, einen Aktionsplan zur Förderung des allgemeinen Wohlstands zu formulieren, der Teil der Bemühungen der Regierung ist, nach der Armutsbekämpfung das zweite Ziel der Schaffung allgemeinen Wohlstands zu erreichen.
[1] isw-Report 119, Ding Xiaoqin, Die Risiken von sozialistischer Marktwirtschaft, Staatskapitalismus und neoliberaler Kapitalismus, 2019, S. 4 [2] Wolfgang Müller: die Rätsel Chinas – Wiederaufstieg einer Weltmacht, 2021 [3] Wolfram Esser: Das chinesische Jahrhundert. Die neue Nummer eins ist anders, Frankfurt, 2020, S, 164 [4] isw-Report 119: Hu Leming, Chinesische Erfahrungen bei Reform und Entwicklung, S. 10 [5] Wolfgang Müller, a. a. O., S 62 [6] Wolfgang Müller, ebenda, S. 63 [7] Wolfram Elsner, Die Zeitwende, China, USA und Europa „nach Corona“, Köln, 2021, S. 240