2021 hatten wir, jedenfalls in Teilen, einen starken Wachstumsaufschwung, forciert von staatlichen Wachstumsprogrammen (solchen, die die Klimawende beschleunigen sollten). Mit einem so schnellen Wiederaufschwung rechneten die Energieförder-Gesellschaften angesichts des scharfen Einbruchs von 2020 nicht. Daher gingen überall die Explorationsinvestitionen in neue Fördergebiete drastisch zurück, auch in der Gaswirtschaft: Die weltweiten Förderinvestitionen sanken 2020 und auch noch 2021 fast auf die Hälfte der früher üblichen Werte (nach Angaben der Internationalen Energieagentur IEA, ein Energiepolitik-Koordinierungsbüro der OECD, im aktuellen Gasmarktbericht). Umso anspannender wirkte der Verbrauchsrausch in 2021. Nach vorläufigen Daten stieg die weltweite Nachfrage nach Gas um 4,7 % auf 4109 Mrd. m³, erheblich mehr, als sie 2020 sank (minus 1,8 %). Obwohl Erdgas-Kraftwerke gestoppt wurden und Kohle-Kraftwerke verstärkt gefahren wurden, stieg der Gasverbrauch in West- und Mitteleuropa um 5,7 %. Noch stärker nahm er in China und in Russland 2021 zu: um mehr als 10 %. Die russischen Förderstätten von Gas arbeiteten nahe am Limit. Neben zusätzlichen 50 Mrd. m³ für den russischen Bedarf förderten sie noch zusätzliche 19 Mrd. m³ für den Export aus Russland, der sich damit in 2021 auf gut 250 Mrd. m³ hoch schraubte. In jedem Monat in 2021 lag die russische Förderung (etwa 80 % davon fällt auf den Gaskonzern Gazprom) höher als in jedem der fünf Jahre vorher. Ähnlich in den zentralasiatischen Ländern und in Aserbaidschan. Auch in den USA erreichten die Fracking-Gasmengen neue Höchstwerte und haben mittlerweile 80 % Anteil am US-Gas. Kein Wunder, dass die Preise im internationalen Handel für Gas-Spotmengen auf ein Allzeit-Hoch sprangen. Russland verdoppelte die Gaslieferungen an China auf 10 Mrd. m³. Die Lieferungen an West- und Mitteleuropa wurden um 4 % erhöht, wobei im Einzelnen die Lieferungen an/über die Türkei erhöht wurden und die über Belarus und Ukraine direkt an die EU um 3 % sanken. Die LNG-Transporte (tiefgekühltes, verflüssigtes Erdgas, das auf Schiffen transportiert wird, hauptsächlich aus Katar, Australien, USA) wurden zunächst konzentriert Richtung Nordostasien geschickt, wo die Preise am höchsten waren (Japan und Korea sind die wichtigsten Abnehmer), später im Jahr, nach noch stärker steigenden Preisen, nach Europa umgelenkt. Schließlich bleibt zur Erklärung der Marktenge noch zu erwähnen, dass gerade bei den LNG-Projekten sich in den letzten beiden Jahren unerwartete Probleme und Ausfälle häuften.
Die Lage in Deutschland: Mehr freier Markt muss sein!
In Deutschland nahm man die Nachfragedynamik, die diese Marktenge und die Preisdynamik wesentlich bestimmte, nicht gerne zur Kenntnis. Stattdessen machten es sich viele Politiker, insbesondere solche der Grünen, etwas leichter mit der Analyse und nahmen mit moralischen Vorwürfen Gazprom, den mehrheitlich staatlichen russischen Gaskonzern, und speziell Putin ins Visier (aus Russland kommt rund die Hälfte des deutschen Gasverbrauchs). Wegen der neuen, noch nicht zugelassenen Gasleitung Nordstream 2, die direkt von Russland durch die Ostsee nach Deutschland führt, befinde sich Deutschland jetzt in einer „Erpressungssituation“, „in den Händen Russlands“ oder „im Griff Russlands“. Putin und Gazprom würden „die Gaspreise vorsätzlich manipulieren“, sogar eine „bewusste Marktmanipulation“ veranstalten und uns schließlich „im Kalten sitzen“ lassen (Baerbock, Krischer, Bloss, Bütikofer; siehe: Baerbock & Co. gegen Gazprom und Putin – Konfrontation gesucht um jeden Preis). Die vorhin geschilderten Marktlagen nahmen diese Vorwurfsträger genauso wenig zur Kenntnis wie die vielfältigen Meldungen der Abnehmer von Russengas, dass Gazprom vertragstreu liefere. Aber ist das nicht ein Widerspruch, wenn Gazprom alle Verträge einhält, dass dann die Lage hierzulande so ist, dass die Vorräte in den Gasspeichern womöglich nicht ausreichen, wie befürchtet wird? Sind nicht doch die Russen schuld? Hierzu müssen wir uns mit der Art des Gasmarktes beschäftigen. Früher (bis vor etwa 15 Jahren) herrschten durchgehend Langfristverträge vor: vom Förderer an den internationalen Großhändler, an den regionalen Weiterverteiler, an die Stadtwerke, an den Endverbraucher. Auf jeder Ebene Monopolversorgung mit wenig Vertrags- und Handelsbürokratie. Feste Bestimmungen über Preisanpassungen. Staatliche Preiskontrolle für Endverbraucher. Aber wenig Marktwirtschaft mit Konkurrenzkampf. Das mag der Neoliberale nicht. Also wurden die Monopole aufgelöst, die Preisaufsicht abgeschafft (dasselbe wurde übrigens auch auf dem sehr viel wichtigeren Strommarkt durchexerziert), der Gasmarkt an das Vorbild Ölmarkt angenähert: Die Langzeitverträge wurden stark reduziert und großenteils durch Spotmengen ersetzt, d.h. Mengenangebote, die unterschiedlich groß und unterschiedlich befristet sind: mal einige Monate, mal nur einige Stunden, mal große Mengenströme, mal kleine Mengenrinnsale. Diese Mengen sind nur fallweise verfügbar und meistens billiger als die Langfrist-Liefersicherheit. Statt einem Vertrag gab es nun Hunderte. Myriaden von Händlern tummeln sich am Markt, der einem Börsenmarkt ähnelt. Ihre Vorstellung ist, mit einem endlosen Flickenteppich an billigen Spotmengen den etablierten Versorgern ihre Endkunden abzujagen, oder auch erhaltene Billigmengen Weiterverteilern anzubieten. Das geht gut in Überschusszeiten. Heute, in Knappheitszeiten, gibt es weniger freie und billige Mengen. Viele Kleinhändler, die zur Belieferung ihrer Endkunden auf solche Mengen angewiesen sind, haben kapituliert und sind insolvent gegangen, was in der Presse ausführlich diskutiert wurde. Viel wichtiger aber ist, um wieder auf die gesamtwirtschaftliche Ebene zu kommen, die Gasspeicher-Bewirtschaftung. Einen Gasspeicher braucht man für den Sommer-Winter-Ausgleich. Der Gasverbrauch im Spitzenmonat Januar ist bis zu dreimal so hoch wie in einem Hochsommermonat. Die Förderleistung in Russland schwankt dagegen nur um etwa 25 % zwischen den Monaten. Die Vorstellung der Gaswirtschaft ist, mit günstigen überschüssigen Mengen im Sommer den Speicher voll zu füllen. Günstige Spotmengen gab es aber 2021 nicht. „Viele Importeure verzichteten darauf, Gasvorräte für den Winter anzulegen, und hofften auf günstigere Preise in der Zukunft“, wie der Focus schreibt. Eine Fehlspekulation, die eher nicht so möglich gewesen wäre, wenn man das Modell der langfristig orientierten Gasversorgung von früher aufrecht erhalten hätte. Aufgrund der Fehlspekulation und der Gasknappheit lagen die Speicher-Füllstände zu Beginn des Winters erheblich unter dem, was in früheren Jahren angestrebt und erreicht wurde. Allerdings kann man unbesorgt den Frühling erwarten, denn die Speicher werden ausreichen. Gemessen an der Winterspitze sind sie tendenziell überdimensioniert ausgebaut worden, weil man mit Speichern auch die Marge optimieren betreiben kann: In Niedrigpreisphasen verstärkt einkaufen und den Speicher füllen, in Hochpreisphasen den Direktbezug reduzieren und Gas aus dem Speicher nehmen.
Statt freiem Markt und Beschimpfung russischer Lieferanten wäre staatliche Aufsicht und Vorsorgepolitik angebracht
Es ist nun absolut billig und lenkt von den eigentlichen Problemen ab (soll es wohl auch), wenn in einer Situation, wo man sich grundsätzlich auf die dauernde Verfügbarkeit freier überschüssiger und billiger Gas-Spotmengen verlassen hat und deshalb die Wiedereinspeicherung im Sommer 2021 bewusst verzögert hat, der russischen Seite moralische Erpressungsvorwürfe gemacht werden. Es ist der freie Markt, die Fehlspekulation auf Marktlagengewinne, der Rückzug des Staates als Regulator, der diese Situation verursachte. Immerhin denkt Wirtschaftsminister Habeck neuerdings über mehr politische Aufsicht und Vorgaben für die Speicherbewirtschaftung nach. Die Versorgungssicherheit und damit auch die Speicherfahrweise politisch zu verstärken, das ist auch die Empfehlung der IEA. Und, um es noch mal zu wiederholen: Gazprom dürfte die Produktion nicht mehr viel mehr ausweiten können, hat ansteigende Lieferverpflichtungen nach China, muss die eigenen inländischen stark zunehmenden Bedürfnisse befriedigen und nicht zuletzt die russischen Speicher voll befüllen. Mag durchaus sein, wäre plausibel und auch nachvollziehbar, dass der russische Staat Gazprom (das zu 51 % in Staatsbesitz ist) dazu drängt, zusätzliche Spotmengen in der EU nur sehr eingeschränkt anzubieten, solange wesentliche russische Geschäftsinteressen, konkret die Inbetriebnahme von Nordstream 2 und damit die Einsparung von jährlich etwa 2 Mrd. Dollar ukrainischer Durchleitungsgebühren, vom Westen verzögert oder blockiert werden. Ein Verhalten, das der Westen vielfältig und beispielgebend vormachte, etwa der Chip-Boykott an China oder die Huawei-Behandlung. Oder die Sanktionsdrohungen der USA gegen Deutschland wegen Nordstream 2. Von den Erdrosselungs-Blockaden gegen Kuba und andere Länder gar nicht zu reden. Und dann kommt die weltpolitische Lage hinzu. In einer Situation, in der die westlich orientierten Länder, Nato und EU, Russland militärische, wirtschaftliche, politische Repressionen glaubhaft androhen, in einer solchen Situation die staatseigene Gazprom zu beschuldigen und anzuklagen, dass sie nicht freudestrahlend besonders preisgünstige Sondergasmengen über die Vertragsverpflichtungen hinaus anbietet: das ist nicht nur Dummheit und Frechheit. Das kann nur jemand, der Deutschland und sich selber – vielleicht als westlich werteorientierter Politiker – als etwas Besseres, Erhabeneres empfindet als Russland und Putin. So wie ein Kommentator der Süddeutschen Zeitung schreibt: „Autokraten verhalten sich so wie Kinder im Supermarkt“, sie „ignorieren elterliche Appelle an ihre noch verbesserungsfähige Vernunft“ und wollen „sich statt Schokolade gerne die Ukraine einverleiben“.