Wir erleben Krieg aus der Liveperspektive des Schützengrabens. Mahnende Stimmen und Selbstkritik scheinen in diesen Zeiten fehl am Platz. Die Geschichte zeigt, Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges. Und Nachrichtenmedien, als Mittler von Informationen, spielen in Wahrheitsfragen eine zentrale Rolle. Wie im Kosovokrieg zum Beispiel. Laut Nato-Stratege Jamie Shea sei der ein „Medienkrieg“ gewesen. Später zeigte Politikwissenschaftler Jörg Becker, es war auch ein Krieg politischer PR. Bei der liegt die Wahrheit eher im Auge des Betrachters. Wissenschaftliche Nachrichtenanalysen zu den Kriegen in Jugoslawien, Afghanistan und dem Irak belegen sich wiederholende Muster: enge Meinungskorridore, Nachrichten im Häppchenformat, homogene Expert:innen-Pools. Es gab auch Kriegslügen, wie imaginäre Massenvernichtungswaffen im Irak zum Beispiel. Aber selbst ohne bewusste Falschmeldungen, schrieb die Berliner Medienforscherin Sabine Schiffer neulich im Tagesspiegel, „gibt es viele Nuancen der Einfärbung (Framing) und Verdrehung“, zum Beispiel „durch Auslassen, Euphemismen, durch eine Anordnung von Fakten, die Kausalität nahelegt, oder durch Metaphern, wie die von David gegen Goliath“. So kommen Perspektiven als Wahrheiten durch.

Fragen danach, wer wirtschaftlich und politisch vom Krieg profitiert, fehlen

Auch in der aktuellen Kriegsberichterstattung zur Ukraine zeigen sich Parallelen. Stündlich erhalten wir Informationen zu Truppenbewegungen in ukrainischen Städten, die wir bis vor Kurzem nicht kannten. Wir erleben Krieg aus der Liveperspektive des Schützengrabens. Fragen danach, wer wirtschaftlich und politisch vom Krieg profitiert, fehlen. Mahnende Stimmen und Selbstkritik scheinen in Kriegszeiten fehl am Platz. Der Kampf, beschwören uns unsere Politiker:innen heute wie damals, gelte der Demokratie und Freiheit. Allerdings gilt dieser Kampf nicht allen Menschen – auch nicht in den Medien. Seit letzter Woche greift die Türkei Kurdengebiete im Irak an. In der „Tagesschau“ ist davon kaum etwas zu sehen. Warum? Weil dieser Krieg nicht in Europa wütet? Jeder Krieg bringt menschliches und materielles Elend, unterstreicht der Journalist Urs P. Gasche richtig. Jeder Krieg sei es deshalb wert, berichtet zu werden. Dazu zählen auch Krieg und Besatzung im Jemen und der Westsahara. Auch die kommen in den deutschen Medien kaum vor.

Hunderttausende leben in Flüchtlingslagern - mitten in der Wüste

Die rohstoffreiche Westsahara ist die letzte Kolonie Afrikas oder das, was die UN als „nicht selbstverwaltetes Gebiet“ bezeichnen. 1975 verweigerte ihr Spanien, als ehemalige Kolonialmacht, die Unabhängigkeit und teilte das Gebiet zwischen Marokko und Mauretanien auf. Danach floh die Hälfte der saharauischen Bevölkerung ins benachbarte Algerien. Bis heute leben dort Hunderttausende in Flüchtlingslagern, mitten in der Wüste. „Der Westen sagt uns, wir sollen einfach unsere Realität akzeptieren – die Realität der Besatzung,“ schrieb die saharauische Journalistin und Aktivistin Nazha El Khalidi. „Warum haben wir nicht das gleiche Recht auf Selbstbestimmung wie die Ukrainer?“ Das ist eine gute Frage, die niemand beantworten will. Nazha El Khalidi wirft Europa Heuchelei und Ressourcengier vor und hält uns damit den Spiegel vor: Der Kampf um Freiheit und Demokratie muss für alle Gebiete gelten, auch denen außerhalb Europas. Und ob Ukraine, Westsahara oder Kurdengebiete, Medien stehen in der Pflicht, differenziert und ohne Rückhalt über alle Konflikte zu berichten. Denn wir können nicht wissen, was nicht berichtet wird. Erstveröffentlichung Berliner Zeitung.