Die territoriale Erweiterung ist in die Institutionen der EU eingeschrieben – wie es für Imperien typisch ist. Die europäische Integration war zunächst ein westeuropäisches Projekt unter US-amerikanischer Schirmherrschaft und als Bollwerk gegen den Staatssozialismus im Osten Europas konzipiert. Dementsprechend beschränkten sich die ersten Erweiterungsrunden auf den Westen Europas. Mit dem Ende des Staatssozialismus entfiel die scharfe Grenzziehung im Osten. Anfang der 1990er Jahre kamen die Osterweiterungen auf die Tagesordnung. In mehreren Schritten wurden frühere staatsozialistische Länder in die EU aufgenommen. Allerdings wurde bislang nur ein Teil der post-sozialistischen Staaten Vollmitglied der EU. Andere haben Assoziationsabkommen, manche mit Kandidatenstatus, manche ohne. Insofern gibt es verschiedene Abstufungen der (Teil-)Integration in die EU. Auch das ist typisch für eine imperiale Ordnung. Der Prozess der Osterweiterung ist durch Interessenkonflikte in der EU geprägt gewesen. Die engeren wirtschaftlichen und breiteren geopolitischen Interessen der EU sind nicht einheitlich, und die Interessenabwägungen haben sich über die letzten dreißig Jahre verändert. Der Beitrag zeichnet die Dynamiken der Osterweiterung – und deren Grenzen – nach.

Die oft übersehene erste Osterweiterung: EU-Beitritt der DDR

Die erste Osterweiterung der EU erfolgte bereits 1990. Mit dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland trat die DDR gleichzeitig auch der EU bei. Diese europäische Dimension der deutschen Vereinigung wurde in Deutschland – West und Ost – wenig diskutiert. Dabei wurde ein Präzedenzfall geschaffen. Die DDR war das erste post-sozialistische Land, das der EU beitrat. Die Integration in die bundesdeutsche und EU-Wirtschaft bedeutete für die ostdeutschen Bundesländer eine Peripherisierung. Gleichzeitig verschob die deutsche Vereinigung die Kräfteverhältnisse in der EU, was damals sehr wohl Gegenstand von Debatten auf europäischer Ebene war.

Die große Osterweiterung

Liberale Kräfte im östlichen Europa orientierten sich schon sehr früh auf einen EU-Beitritt. Sie bemühten die Formel von einer „Rückkehr nach Europa“. Diese setzte Europa mit dessen kapitalistischen Westen gleich. Gleichzeitig suchten sie sich von einem vermeintlich rückständigen, wenn nicht sogar barbarischen „Osten“ abzugrenzen. Politisch erhofften sich die osteuropäischen Liberalen von verstärkter Westbindung eine Stärkung ihrer politischen Position und die Konsolidierung neoliberaler kapitalistischer Transformation. Über den engeren Kreis der liberalen hinaus war die Westintegration mit der Hoffnung auf eine Steigerung des Lebensstandards verbunden. Manchen eher national-liberalen Kräften, wie der tschechischen ODS, oder den polnischen Nationalkonservativen ging die politische Integration in der EU eigentlich schon zu weit. Insofern hatten sie Vorbehalte gegen die politische Seite eines EU-Beitritts, was sie aber nicht zu einer Ablehnung der EU-Perspektive veranlasste. Speziell diese Strömungen der politischen Rechten waren allerdings tendenziell stärker auf einen NATO- als auch einen EU-Beitritt orientiert. In der EU selbst gab es in der Frage der Osterweiterung zunächst keinen Konsens. Starke Befürworter gab es aus primär ökonomischen, aber auch aus geopolitischen Interessenlagen in Deutschland, dann auch in Österreich und den skandinavischen Ländern. Die britische Regierung war ebenfalls für eine Erweiterung – allerdings aus ganz anderen Gründen. Sie erhoffte sich von einer Erweiterung eine Ausdünnung der politischen Integrationsperspektive. Aus diesem Grund war die französische Regierung, die stärker auf eine vertiefte politische Integration orientiert war, skeptisch gegenüber einer Osterweiterung eingestellt. Frankreich hatte auch ökonomisch nicht viel von einer Osterweiterung zu erwarten. Die Benelux-Länder unterstützen tendenziell die französische Position. Die südeuropäischen Länder fürchteten osteuropäische Konkurrenz und zeigten sich eher skeptisch. Allein Italien mit Wirtschaftsinteressen im östlichen Europa war eher ambivalent. Die deutsche Regierung setzte mit britischer und skandinavischer Unterstützung die Erweiterung letztlich durch – zumindest um die zentralosteuropäischen, die Baltischen und dann auch einzelner südosteuropäischer Länder. Kriterien für Beitritte der post-sozialistischen Länder definierte die EU 1993, nachdem das Maastricht-Abkommen mit zentralen vertiefenden Integrationsschritten (unter anderem der Währungsunion) verabschiedet worden war. Erste Abkommen zwischen der EU und post-sozialistischen Ländern, vollmundig als Europa-Abkommen bezeichnet, betrafen den Handel. In diesen Abkommen verpflichteten sich die osteuropäischen Länder zu Recht weitreichenden Handelsliberalisierungen, auch in für sie sensiblen Sektoren. Hingegen vermochte die EU für sie problematische Sektoren zu schützen. Darin spiegelt sich die unterschiedliche Verhandlungsmacht der beiden Seiten wider. Diese Asymmetrie sollte auch die späteren Beitrittsverhandlungen charakterisieren. 1997 entschied sich die EU für Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit einer ersten Gruppe von post-sozialistischen Ländern – Polen, Tschechische Republik, Ungarn, Slowenien und Estland. Der ökonomische Entwicklungsstand war nicht allein ausschlaggebend. Die slowakische Regierung galt als zu nationalistisch (und autoritär) und wurde daher nicht in die erste Gruppe aufgenommen. Dieser Ausschluss wurde bewusst als Hebel eingesetzt, um stärker EU-orientierte liberale Kräfte bei den Wahlen von 1998 Rückstärkung zu geben. Die Wahlen brachten einen entsprechenden Richtungswechsel. 1999 war die Slowakei Teil der zweiten Gruppe post-sozialistischer Länder, mit der Beitrittsverhandlungen begonnen worden. Zu ihr zählten außerdem Lettland, Litauen, Bulgarien und Rumänien. Mit den Ländern wurde einzeln verhandelt. Die Europäische Kommission setzte die Beitrittskandidaten während der Verhandlungen bewusst in Konkurrenz zueinander. Regelmäßig veröffentlichte sie Fortschrittsberichte, bei denen sie die „Reformen“ beurteilte, die sie für die Beitritte für nötig hielt. Ein besonders zentrales Bewertungskriterium war die rasche Öffnung gegenüber dem (westeuropäischen) Auslandskapital. Die Kommission nutzte die Beitrittsverhandlungen mithin als Hebel, um bestimmte institutionelle Veränderungen und neoliberale Politikmuster durchzusetzen. Institutionell stärkte sie außenorientierte Teile der jeweiligen Staatsapparate. Zentraler Nutznießer der Beitrittspolitik waren westeuropäische Kapitalgruppen. Sie erreichten meist eine dominante Rolle im Bankensektor (zunächst mit Ausnahme Sloweniens) sowie in der verarbeitenden Industrie. In den industriellen Exportsektoren gewann deutsches Kapital die führende Rolle. Die Visegrád-Länder wurden zur verlängerten Werkbank der deutschen Industrie. Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn, Slowenien und die drei Baltischen Staaten traten 2004 der EU bei, Bulgarien und Rumänien folgten 2007. Slowenien wurde als erstes post-sozialistisches Land Teil der Eurozone, später folgten die Slowakei und die Baltischen Länder. Obwohl die NATO-Mitgliedschaft nicht Teil des EU-Vertragswerks ist, sind alle diese post-sozialistischen Länder zuvor der NATO beigetreten. Damit ist die Verzahnung zwischen EU und NATO verstärkt worden. Die große Finanzkrise „erschütterte“, wie der frühere tschechische EU-Kommissar Vladimír Špidla festhält“, „den Glauben in die Europäische Integration. Es wurde deutlich, dass die Europäische Union keine automatische Garantie für Prosperität ist.“ Die Krise hatte auch politische Folgen. In Ungarn und Polen sahen die nationalistischen Rechtsparteien, Fidesz und PiS, die Krise als Chance, wirtschaftsnationalistische Akzente zu setzen und einheimische Kapitalgruppen zu stärken. Außerhalb der Eurozone hatten sie hierzu auch Spielräume. In Slowenien hingegen, wo zunächst nur eine Politik der selektiven Außenöffnung verfolgt worden war, setzte die Europäische Kommission in der Eurozonenkrise recht weitgehende Privatisierung zugunsten des Auslandskapital, gerade auch im Bankensektor, durch. Die öffentliche Debatte über die EU wurde auch in Slowenien kritischer, aber ohne konkrete Folgen.

Stockende Osterweiterung: der post-jugoslawische Raum

Jugoslawien hatte als blockfreies Land früher institutionalisierte Kontakte zur EU als die anderen Staaten der Region. In der ersten Beitrittsrunde war aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens nur Slowenien mit von der Partie. Die Unabhängigkeitserklärung Sloweniens hatte nur zu einem sehr kurzen militärischen Konflikt geführt. Auch war Slowenien unter den jugoslawischen Republiken wirtschaftlich am Engsten mit Westeuropa verbunden gewesen. In anderen Fällen führte die Desintegration Jugoslawiens zu anhaltenden militärischen Konflikten. Auch die Aufsplitterung des jugoslawischen Wirtschaftsraums hatte massive negative wirtschaftliche Konsequenzen. Die Haltung der EU-Länder war vor allem zu Beginn der Desintegrationskonflikte in Jugoslawien uneinheitlich. Erst mit dem Ende der offenen militärischen Konflikte, dem Sturz der nationalistischen, west-kritischen Milošević-Regierung im Jahr 2000 und dem Ableben des ebenfalls nationalistischen, aber als pro-westlich wahrgenommen kroatischen Staatspräsidenten Franjo Tuđman im Jahr 1999 waren aus Sicht der EU-Staaten Bedingungen gegeben, um erste Schritte in Richtung EU-Integration der post-jugoslawischen Staaten zu unternehmen. Die rein wirtschaftlichen Interessen waren hier weniger ausgeprägt, da Desintegration und Kriege tiefe Spuren in den Ökonomien dieser Länder hinterlassen hatten. Das BIP lag an den am stärksten von Kriegen bzw. westlichen Sanktionen betroffenen Ländern – Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Serbien – am Vorabend der großen Finanzkrise 2008 deutlich unter dem Niveau von 1989. In diesen Ländern konzentrierten sich die ausländischen Direktinvestitionen auf den Banken- und andere Dienstleistungssektoren. Das Interesse der EU ist eher geopolitischer Natur. In der politischen Debatte der letzten Jahre wird primär hervorgehoben, dass dem zunehmenden Einfluss von Ländern wie China, Russland und der Türkei entgegengewirkt werden müsse. Formale Schritte in Richtung Erweiterung, zunächst vor allem der Abschluss von Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen, dann auch fallweise die Verleihung des Kandidatenstatus und sogar offizieller Verhandlungsbeginn, wurden zwar initiiert, aber real wurde diese Erweiterungsrunde mit wenig Schwung in Angriff genommen und machte dann „Erweiterungsmüdigkeit“ Platz. Einerseits brachte die große Erweiterung zumindest im Hinblick auf die erwünsche Stabilisierung und Etablierung von Rechtsstaatlichkeit aus Sicht der Zentrumsländer ernüchternde Ergebnisse. Als besonders krasser, wenn auch öffentlich wenig diskutierter Fall gilt Bulgarien – mit umfassendem Klientelismus, grassierender Korruption, fehlender Rechtsstaatlichkeit, regelmäßigen massiven Protestbewegungen und einer politischen Dauerkrise. Andererseits sieht sich die EU, speziell seit der großen Finanzkrise, mit einer Kumulation von Krisen und institutionellen Problemen sowie mageren Krisenbearbeitungskapazitäten konfrontiert. Dementsprechend sind speziell Frankreich und die Niederlande voll auf die Bremse getreten. Die deutsche Bundesregierung verfolgt die Erweiterungspolitik im post-jugoslawischen Raum sehr verhalten. Deutlich für eine Erweiterung sprechen sich Österreich und einige zentralosteuropäische Länder aus. Aus der Ländergruppe ist bislang im Jahr 2013 allein Kroatien als möglicherweise überhaupt letztes Land als Mitgliedsstaat in die EU aufgenommen worden. Kroatien wird in Kürze auch Mitglied der Eurozone werden. Die Eurozonenmitgliedschaft dürfte die Fokussierung auf den Tourismus und die starke De-Industrialisierung zementieren. Als letzter relativ avancierter Industriesektor Kroatiens fiel der Schiffsbau dem Privatisierungsdruck und der EU-Wettbewerbspolitik zum Opfer. Dauerten die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien bereits sechs Jahre, so zeichnet sich in den anderen Fällen eine unendliche Verhandlungsgeschichte ab. Neben Kroatien hat Serbien für die EU eine Schlüsselrolle in der Region. Dementsprechend gingen die ersten Schritte recht zügig: Antrag auf Mitgliedschaft 2009, Beitrittsstatus 2012 und Verhandlungsbeginn 2013. Dauerbrenner in den Gesprächen zwischen Brüssel und Belgrad ist der Kosovo. Serbien hat die einseitige Unabhängigkeitsklärung des Kosovo aus dem Jahr 2008, die von den USA und zentralen EU-Ländern aktiv unterstützt worden war, nicht anerkannt. Ebenso sehen das fünf EU-Mitgliedsstaaten. Damit ist die Kosovo-Frage auch innerhalb der EU ein dorniges Thema. Kurzfristig ist Brüssel daran gelegen, zu praktischen Entspannungsschritten zwischen Belgrad und Pristina zu kommen. Zumindest EU-Kernländern wie Deutschland geht es langfristig darum, eine Anerkennung des Kosovo seitens Serbiens zu erreichen. Auch auf die Außenpolitik Serbien sucht die EU Einfluss zu nehmen. In den letzten Jahren war die serbische Außenpolitik multi-vektoral ausgerichtet und strebt gute Beziehungen einerseits zur EU, andererseits aber auch zu Russland und China an. Im jüngsten Konflikt um die Ukraine sucht die serbische Regierung zwischen den Lagern zu lavieren und hat sich – zumindest vorerst – den westlichen Sanktionen nicht angeschlossen. Serbien ist kein NATO-Mitglied. Ähnlich rasch wie im Fall Serbiens ging es mit den ersten Schritten in Montenegro: Kandidatenstatus 2010, Verhandlungsbeginn 2012. Mit beiden Ländern wird seit ungefähr einem Jahrzehnt verhandelt. Der Fall Nord-Mazedonien macht deutlich, dass aus dem Kandidatenstatus noch lange kein Verhandlungsbeginn folgen muss. Nord-Mazedonien wurde offiziell bereits 2005 Kandidat – und ein Verhandlungsbeginn wurde erst im Juli 2022, zusammen mit Albanien, nach heftigen Unmutsbekundungen in der Region wegen des Express-Kandidatenstatus für die Ukraine fixiert. In der Zwischenzeit legte sich zunächst Griechenland quer, das den Staatsnamen Mazedonien nicht akzeptieren wollte. Erst nach langen bilateralen Verhandlungen und einer Änderung des Staatsnamens in Nord-Mazedonien machte Griechenland den Weg frei. Doch dann trat die bulgarische Regierung mit diversen, vor allem geschichtspolitischen Forderungen an Skopje auf den Plan. Aus offizieller bulgarischer Sicht sind die MazedonierInnen eigentlich BulgarInnen… Dieser Punkt ist nicht wirklich ausgeräumt und dürfte während der Verhandlungen wieder auf das Tapet kommen. Dass mit derartigen identitätspolitischen Forderungen jahrelang die Beitrittsgespräche mit Skopje blockiert werden konnten, zeigt nicht nur den niedrigen Stellenwert Nord-Mazedoniens für die EU, sondern auch der Erweiterungspolitik im post-jugoslawischen Raum. Mit Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo hat die EU zwar Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen geschlossen, aber weitere Schritte sind nicht erfolgt. Beide Länder stehen seit Ende der militärischen Konflikte ohnehin unter partieller internationaler Kuratel. In der Region hat sich völlige Ernüchterung über die EU-Erweiterungspolitik breitgemacht. Beide Seiten tun so, als würde es einen ernsthaften Verhandlungsprozess geben. In den Stabilisierungs-und Assoziationsabkommen hat die EU noch ökonomische Liberalisierungsschritte festschreiben können. Mangels realer Beitrittsperspektive kann sie die Beitrittsgespräche selbst allerdings nicht mehr wirksam als Hebel für die Durchsetzung einer neoliberalen Reformpolitik nutzen, wie die European Stability Initiative in ihrem jüngsten Bericht „The Balkan Turtle Race“ beklagt. Auf das EU-Lippenbekenntnis zum EU-Beitritt reagieren die Regierungen der Region mit Lippenbekenntnissen zu Reformen und Rechtsstaatlichkeit. Auch in der Bevölkerung ist die Stimmung teils markant gekippt. So sprachen sich in einer Meinungsumfrage des serbische Meinungsforschungsinstituts Demostat aus dem Juni 2022, wie das Belgrader Wochenmagazin Vreme (7. Juli 2022) berichtet, 51% gegen einen EU-Beitritt Serbiens und nur 34% für einen solchen aus. Fünf Jahre zuvor war das Verhältnis noch 54% für und 43% gegen einen Beitritt gewesen. Derzeit werden verschiedene Möglichkeiten einer partiellen Bindung der post-jugoslawischen Staaten und Albaniens – beispielsweise in Form einer Integration in den EU-Binnenmarkt – ventiliert. Es zeichnet sich ab, dass die Region nicht als Peripherie direkt in die EU integriert, sondern eher über diverse Abkommen Teil einer EU-Einfluss-Sphäre werden soll. Die bereits erfolgten ökonomischen Liberalisierungsschritte, die in den Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen festgeschrieben sind – zementieren die ökonomisch periphere und untergeordnete Position der post-jugoslawischen Staaten. Sie sind im wesentlichen Arbeitskräftereservoirs für Westeuropa.

Konfliktive Osterweiterung: der post-sowjetische Raum

Mit Ausnahme der Baltischen Länder, die 2004 der EU beitraten, war der post-sowjetische Raum zunächst außerhalb der Osterweiterungsperspektiven der EU. Praktisch der gesamte Raum erlebte in den 1990er Jahre in Gefolge der kapitalistischen Transformation und der Desintegration der Sowjetunion einen ökonomischen Zusammenbruch. Russland behielt innerhalb dieses Raumes auch in der schweren Krise eine herausragende Rolle, erlebte aber auf globaler Ebene einen starken Statusverlust. Relativ unbeschadet von Krise und Umbruch blieb der Erdöl- und Erdgashandel zwischen Russland und westeuropäischen Ländern wie Deutschland, Österreich und Italien, mit denen bereits zu sowjetischen Zeiten entsprechende Handelsverbindungen und Infrastrukturen geschaffen worden waren, sowie den zentralosteuropäischen Staaten. Für die Russische Föderation schien damals eine europäische Ordnung mit zwei Grundpfeilern – der EU und Russland – denkbar, die miteinander kooperieren würden. Diese Perspektive wurde auch von manchen westeuropäischen PolitikerInnen geteilt, stieß aber im US-Establishment auf Ablehnung. Erst mit der allmählichen Konsolidierung Russlands und anderer Nachfolgestaaten der Sowjetunion gewann die EU-Politik gegenüber dem post-sowjetischen Raum deutlichere Konturen. Sie war tendenziell stärker durch geo-politische Interessen als durch wirtschaftliche Interessen im engeren Sinn geprägt. Während Kapital aus Deutschland, Österreich und einigen anderen EU-Ländern an Geschäften mit Russland im Energiesektor und teils auch in anderen Bereichen (z.B. Banken) Interesse hatte, war das Interesse des westeuropäischen Kapitals an einem wirtschaftlichen Engagement in den anderen post-sowjetischen Staaten wegen der auch in Konsolidierungsphasen oft noch prekären wirtschaftlichen Lange und sehr niedrigen Pro-Kopf-Einkommen, die der Binnenmarktentwicklung enge Grenzen setzten, sehr begrenzt. Bei den geo-politischen Positionierungen der EU im post-sowjetischen Raum ging es primär um das Verhältnis zu Russland. In Ländern wie Deutschland, Italien und Österreich, die bereits mit der Sowjetunion Kooperationen speziell im Energiebereich eingegangen waren, gab es Kapitalgruppen denen an einem kooperativen Verhältnis zu Russland gelegen war. Teils spielte bei einer solchen Positionierung auch das Erbe der Entspannungspolitik eine Rolle. Der US-Regierung war an einer Schwächung dieser Energiebeziehungen gelegen. Starke Kreise des US-Establishments suchten auch post-sowjetische Nachfolgestaaten, speziell die Ukraine, Moldawien und Georgien, von Russland abzunabeln und in diesen Ländern Positionierungen gegen Moskau zu stärken. Eine solche Perspektive wurde von den meisten zentralosteuropäischen Ländern, aber auch von Großbritannien geteilt. In der Positionierung in der Region ist eine zunehmende Ausrichtung der EU-Politik auf die US-Linie zu erkennen. Anfang der 2000er Jahre kam es kurzfristig noch zu einer politischen Annäherung der Regierungen Russlands, Deutschlands und Frankreichs. Sie waren sich einig in der Ablehnung der US-geführten Invasion im Irak. In Deutschland und Frankreich veränderten sich bald die innenpolitischen Konstellationen, und die USA zeigten sich von dieser Annäherung alarmiert. Die geopolitische Konkurrenz im post-sowjetischen Raum wurde verschärft ausgetragen. In deren Zentrum stand die Ukraine, in der verschiedene Oligarchengruppen miteinander um die Kontrolle der Staatsmacht konkurrierten und auch taktische außenpolitische Allianzen eingingen. Regional zeigte die ukrainische Bevölkerung starke regionale Unterschiede in der außenpolitischen Orientierung – nach Westen im Westen des Landes, nach Russland im Osten. Die staatliche Politik schwankte zwischen multi-vektoralen Positionen, die versuchten mit beiden Seiten ein Auskommen zu finden, und pro-westlichen Positionierungen. Eine ähnliche Konstellation war auch in Moldawien und tendenziell in Georgien gegeben. Im Kontext verschärfter Spannungen zwischen der NATO und Russland systematisierte die EU 2009 ihre Östliche Partnerschaftspolitik. Diese war auf europäische Nachfolgestaaten der Sowjetunion mit Ausnahme Russlands gerichtet, konkret ging es um Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldawien und die Ukraine. Einen besonders hohen Stellenwert maß die EU dabei der Ukraine als größtem Land zu. Im Kern ging es um den Abschluss von Assoziationsabkommen, in deren Zentrum Freihandelsabkommen und die partielle Übernahme von EU-Normen in der wirtschaftlichen Governance steht. Diese Abkommen vertiefen die wirtschaftlichen Asymmetrien zwischen der EU und den post-sowjetischen Ländern, im Fall der Ukraine beispielsweise die Spezialisierung im agro-industriellen Bereich. Die Abkommen hatten auch eine explizit geopolitische Stoßrichtung. Sie beinhalten einige allgemeinere Paragraphen zur politischen Sicherheitszusammenarbeit. Diese Komponente war für den tschechischen Politikwissenschaftler Oskar Krejčí auf die Schaffung eines Cordon sanitaire gegenüber Russland gerichtet. Ein Versprechen auf eine spätere EU-Vollmitgliedschaft war mit diesen Abkommen nicht verbunden. Die EU entwickelte die Assoziationsabkommen in Konkurrenz zum russischen Integrationsprojekt einer Eurasischen Wirtschaftsunion. Die Assoziationsabkommen waren anfänglich so konzipiert, dass sie eine gleichzeitige Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion ausschlossen. Im Fall Armeniens zeigte sich die EU allerdings später flexibler. Belarus und Aserbaidschan zeigten kein Interesse an den Assoziationsabkommen mit der EU. Belarus trat der Eurasischen Wirtschaftsunion bei, wie aus geopolitischen Gründen auch Armenien. In Georgien war das Abkommen wenig strittig, in Moldawien führte es zu Kontroversen. In der Ukraine kam es hingegen zum offenen Konflikt und dem Verlust der innen- und außenpolitischen Balance, als das Land vor die Alternative EU oder Russland gestellt wurde. In der Ukraine verhandelte die Regierung Janukovyč, die eigentlich eher auf das Lavieren zwischen West und Ost ausgerichtet war, das Abkommen fertig aus, nahm im Jahr 2013 dann aber kurz vor der anstehenden Unterzeichnung wieder Abstand von dem Abkommen, nachdem die russische Regierung ihr mit nachteiligen Konsequenzen gedroht hatte. Der plötzliche Positionswechsel führte zu einer starken Protestbewegung, die sich dann auch ganz allgemein gegen die Regierung und breiter gegen die Oligarchenherrschaft richtete. Aus westlichen Ländern erhielten die Kräfte der Protestbewegung Unterstützung. Die Proteste mündeten letztlich im Februar 2014 im Sturz der Regierung. Dieser läutete eine grundlegende Westorientierung der Ukraine ein. Das Abkommen mit der EU wurde 2014 unterschrieben. Die russische Regierung reagierte sehr scharf auf die Ereignisse. Es kam zur militärisch abgesicherten Abtrennung und späteren Eingliederung der Krim in die Russische Föderation. Im Osten des Landes entstanden Separatistengruppen, die zunehmend militärisch agierten und aus Russland Unterstützung erhielten. Der militärische Konflikt im Donbass mündete in der Gründung von separatistischen Republiken in Luhansk und Doneck. Die westlichen Länder reagierten auf die Ereignisse in der Ukraine mit einer Reihe von Sanktionen. Mit dem verschärften Konflikt mit den westlichen Ländern bekamen im russischen Establishment jene Kräfte Aufwind, die einen imperialen Nationalismus vertraten und sich mit den territorialen Konsequenzen der Auflösung der Sowjetunion nicht abgefunden hatten. In der Ukraine ihrerseits kam es zum Ausbau der Beziehungen mit den westlichen Ländern und zur Verstärkung ethno-nationaler Tendenzen. Die wechselseitige Eskalation erhielt eine neue Qualität, als die Russische Föderation die Ukraine am 24. Februar 2022 militärisch angriff. Unter Führung der USA reagierten westlichen Länder mit massiven Wirtschaftssanktionen gegen Russland, oftmals auch mit Waffenlieferungen an die Ukraine. Die ukrainische Regierung forderte als Form der politischen Solidarisierung den Status massiv eines Beitrittskandidaten ein. Speziell von den zentralosteuropäischen Ländern wie Polen und Baltischen Ländern, die direkt an Russland grenzen und deren Verhältnis zum großen Nachbarn historisch belastet ist, erhielt diese Forderung innerhalb der EU-Unterstützung. Andere Regierungen ließen Vorbehalte erkennen, in besonders offener Form die österreichische Regierung, die insgesamt in dem Konflikt relativ moderat auftritt. Die stark transatlantisch orientierte Kommissionsvorsitzende Ursula von der Leyen forcierte den Kandidatenstatus für die Ukraine und Moldawien stark. Diesen beiden Ländern wurde dieser im Juni 2022 auch zuerkannt. Dies ist primär als symbolische geopolitische Geste und als Markierung einer eigenen Einflusszone zu verstehen. Real dürfte der Beitritt nie vollzogen werden. Die Ukraine ist Kriegsgebiet, und die ukrainische Regierung kontrolliert nicht das gesamte De Jure-Territorium. Schon vor dem Beginn des jetzigen Krieges lag die Wirtschaftsleistung der Ukraine deutlich unter dem Niveau von 1989. Die Ukraine und Moldawien sind Katastrophenfälle der kapitalistischen Transformation und die ärmsten Länder Europas. Der Beitritt würde die Heterogenität der bereits unter starken Spannungen stehenden EU weiter verschärfen. Wie im Fall des post-jugoslawischen Raums weckt die EU in der Ukraine und Moldawien Erwartungen, die real nicht in Erfüllung gehen dürften. Die Desillusionierung dürfte dort angesichts des derzeitigen Krieges noch bitter ausfallen.

Schlussfolgerungen

Die Osterweiterung der EU ist an ihre Grenzen gestoßen. Die EU-Mitgliedschaft dürfte bis auf Weiteres auf die bislang aufgenommenen Mitglieder beschränkt bleiben. Für die verbleibenden post-jugoslawischen und post-sowjetischen Staaten wird es Formen der untergeordneten Teilintegration geben. Insofern kann man von einer politisch abgestuften Osterweiterung sprechen. Ökonomisch sind die osteuropäischen Länder untergeordnet in die die europäische Arbeitsteilung integriert worden. Für die peripheren EU-Mitglieder bieten regional und strukturpolitische Mittel, für die anderen Länder andere Formen von Unterstützungszahlungen der EU eine gewisse Kompensation für die untergeordnete wirtschaftliche Integration. In Polen und Ungarn suchen Rechtsregierungen, das Verhältnis von Auslandskapital und einheimischen Kapitalgruppen neu auszutarieren. Der Charakter der Integration ist umkämpft.