Mit dem aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht legt der sozialdemokratische Regierungskoalitionär Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil, einen Bericht zu Armut, Reichtum sowie den zentralen Lebenslagen in Deutschland vor. Der Bericht soll im Bundestag weiter debattiert werden. Wie die bisher alle vier Jahre verfassten 5 Vorläufer verfolgt auch der aktuelle Bericht das Ziel, „die soziale Lage in Deutschland faktengestützt zu begutachten, bestehende Maßnahmen zu überprüfen und neue Handlungsschwerpunkte anzuregen. Hierfür trägt er eine Vielzahl an detaillierten Informationen aus relevanten Bereichen zusammen. Er beschreibt Lebenslagen, Aspekte von Wohlstand und Lebensqualität, aber auch Ungleichheiten bei Teilhabechancen und der Verteilung von Einkommen und Vermögen“. In einem hochindustrialisierten, reichen Land wie Deutschland wird Armut über das Haushaltseinkommen und die daraus folgenden Möglichkeiten an gesellschaftlicher Teilhabe definiert. Die aktuell ermittelte Armutsgrenze gibt dabei den Anteil der Bevölkerung an, der mit weniger als 60 Prozent des mittleren Nettolohns auskommen muss. Das sind derzeit 1176 Euro. In wirtschaftsinfo, Ausgabe 58, belegt das isw, dass die Armutsquote in 2018 von 15,8 % auf 15,5 % sank, ein Jahr später allerdings wieder auf 15,9 % anstieg. Die Regierung spricht in ihren Armutsbericht von des sog. Armutsgefährdungsgrenze. Treffender ist allerdings von Armutsquote/-grenze zu sprechen: Als Grenze werden allgemein 60% des Median- Einkommens angegeben (der Mittelwert des Einkommens, der die Einkommen in zwei Hälften unterteilt).
Entwicklung von Arbeitslosigkeit und Armut
Quelle: Mikrozensus; destatis; Bundesanstalt für Arbeit
Reich ist nach Auffassung des vorgelegten Armutsberichts, wer monatlich mehr als 3900 Euro Nettogehalt bezieht. Der Bericht führt zumindest unverbrämt aus, dass der Anteil an reichen Menschen in Deutschland ist in den letzten Jahren immer weiter angestiegen ist. Eine eigene Reichtums- und Vermögensstatistik liegt dem Armutsbericht nicht zugrunde, zumal es eine Übersicht der Verteilung von Vermögen und aktuellen Vertiefung der Ungleichheit in Deutschland nicht gibt. Der Armutsbericht 6 erhärtet in seiner Beschreibung die Auffassung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, es gäbe keinen allgemein anerkannten Maßstab, mit dessen Hilfe sich die Entwicklung der Einkommensungleichheit abschließend bewerten ließe. Deshalb müsse eine ausgewogene Betrachtung mehrerer Indikatoren und Datenquellen einbezogen werden. So zeige sich, dass im Zuge der günstigen wirtschaftlichen Entwicklungen der Jahre vor 2020 die mittleren Einkommen mindestens ebenso stark gestiegen seien wie die Einkommen im unteren Bereich der Einkommensverteilung.
Die Armutsgefährdung hat sich verfestigt
Laut dem nahezu zeitgleich veröffentlichten Datenreport 2021 über ungleiche Lebens-bedingungen und die Folgen von Corona hat sich in Deutschland die Armutsgefährdung in Deutschland deutlich erhöht. So beträgt der Anteil dauerhaft von Armut bedrohter Menschen an allen Armen 44 Prozent. Das entspricht einem vergleichsweise doppelt so hohen Anteil wie noch im Jahr 1998. Die Corona-Pandemie droht die finanzielle Situation benachteiligter Gruppen zu verschärfen: Menschen mit niedrigen Einkommen, Geringqualifizierte und Alleinerziehende und Selbstständige kämpften besonders mit finanziellen Schwierigkeiten, auch wenn höhere Einkommensgruppen im ersten Lockdown häufiger Einkommenseinbußen hatten. Die Ungleichheit der Einkommen schlägt sich auch in den Einstellungen der Bevölkerung nieder. Niedrige Einkommen werden überwiegend als ungerecht bewertet. Gleichzeitig hält nur knapp jede/r zweite Beschäftigte den eigenen Bruttolohn für gerecht.
Armut bedroht dauerhaft mehr Menschen
2018 lebten in Deutschland nahezu 16 Prozent unterhalb der Armutsgrenze. Diese lag 2018 bei 1.040 Euro monatlich für einen Ein-Personen-Haushalt, bei einem Ein-Eltern-Haushalt mit einem Kind unter 14 Jahre bei ca. 1.352 Euro. Das Armutsrisiko liegt damit deutlich über dem Niveau der 11 Prozent gegen Ende der 1990er-Jahre. Auch verfestigen sich die Armutsrisiken. Wer einmal unter die Armutsgrenze rutscht, verbleibt immer länger in diesem Einkommensbereich: Von den Personen, die im Jahr 2018 unter die Armutsgrenze fielen, waren 88 Prozent bereits in den vier Jahren zuvor (Armutsberichtsperiode 2014 bis 2017) von Armut bedroht. Davon war knapp die Hälfte durchgehend diesem niedrigen Einkommenssegment zugeordnet. Der Anteil der dauerhaft von Armut bedrohten Personen an allen Armen hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren mehr als verdoppelt: 1998 betrug er noch 20 Prozent. Das Risiko, in Armut zu leben, ist besonders hoch für Alleinerziehende (41 Prozent), Menschen mit Hauptschulabschluss und ohne Berufsabschluss (35 Prozent) und Menschen mit Migrationshintergrund (29 Prozent).
Die Corona-Auswirkungen
Große Unterschiede zeigen sich bei den finanziellen Auswirkungen der Corona-Pandemie. So berichteten für Ende März bis Anfang Juli im Pandemie-Jahr 2020 17 Prozent der an- und ungelernten Arbeiter*innen und knapp 14 Prozent der einfachen Angestellten von finanziellen Schwierigkeiten. Bei Bezieher*innen von Niedrigeinkommen war es fast jede/r Fünfte. Bei den Facharbeiter-, Meister- und qualifizierten Angestelltenberufen fielen die Anteile mit rund 9 Prozent deutlich niedriger aus. Am häufigsten waren Alleinerziehende (25 Prozent) und Selbstständige (20 Prozent) von finanziellen Problemen im Zuge der Pandemie betroffen. Auch Menschen, die nach Deutschland zugewandert sind, berichteten mit 15 Prozent fast doppelt so häufig von finanziellen Schwierigkeiten wie Menschen ohne Migrationshintergrund (8 Prozent). Der Armutsbericht 6 erhärtet in seiner Beschreibung die Auffassung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, es gäbe keinen allgemein anerkannten Maßstab, mit dessen Hilfe sich die Entwicklung der Einkommensungleichheit abschließend bewerten ließe. Deshalb müsse eine ausgewogene Betrachtung mehrerer Indikatoren und Datenquellen einbezogen werden. So zeige sich, dass im Zuge der günstigen wirtschaftlichen Entwicklungen der Jahre vor 2020 die mittleren Einkommen mindestens ebenso stark gestiegen seien wie die Einkommen im unteren Bereich der Einkommensverteilung.
Beschreibung von Lebenslagen - es fehlt die Ursachen-Analyse
Den sehr ausführlichen Beschreibungen des 6. Armutsberichts ist zu entnehmen, dass in Zeiten der Krise zufolge Lebenslagen wie „Erwerbstätigkeit“, „Bildung“, „Wohnen“, „Gesundheit“ und „Soziale Teilhabe“ verstärkt in die Berichtserstattung miteinzubeziehen seien. Das erscheint für die Koalitionsparteien vor allem deshalb von Bedeutung zu sein, weil ihre getroffenen Krisen-Bewältigungsmaßnahmen, und die noch zu Debattierenden, so interpretiert werden, für die Bewältigung der Krise vieles getan zu haben und befähigt seien, die Krise zu bewältigen. Ob das eine überzeugende Argumentationslinie zur Eindämmung, geschweige denn Bewältigung der Armutssituation und Beseitigung der krassen Ungleichverteilung ist, muss an anderer Stelle vertiefender analysiert und erörtert werden. Zur Abschätzung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die soziale Lage bezieht sich der Armutsbericht auf eine repräsentative Bevölkerungsbefragung. Ziel der Studie war, zu prüfen, ob bzw. wie sich die Pandemie-Krise auf Einkommen, Transferbezug und Vermögen ausgewirkt haben und wie die persönliche Situation jeweils wahrgenommen wird.
- Laut dem Armutsbericht hat sich für den Großteil der Befragten die wirtschaftliche Situation aufgrund der Pandemiekrise kaum verändert. Teilweise hatte sie sich sogar verbessert. (Anmerkung: Die Konzerne als Corona-Gewinnler werden nicht benannt, ebenso wenig die vielen mittelständischen Betriebe, die um ihre betriebliche Existenz bangen).
- Ein Viertel der Befragten hatte teilweise sogar deutliche Einkommensverluste.
- 80 Prozent der Befragten erhielten keinerlei staatliche Unterstützung. Die am häufigsten – von 10 Prozent der Befragten – in Anspruch genommene Leistung war das Kurzarbeitergeld.
- Weniger als die Hälfte der Befragten machten sich Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage.
- In allen Einkommensgruppen gab es Personen, deren Einkommen gesunken war, und Personen, deren Einkommen gestiegen war.
- Die Befragten aus den unteren vier Einkommensdezilen (die 40 Prozent mit den geringsten Einkommen) verzeichneten sowohl häufiger Einkommenseinbußen als auch Einkommenssteigerungen.
- Vom Kurzarbeitergeld profitierten insbesondere Haushalte der unteren Einkommensmitte. (Anmerkung: Im Zusammenhang mit verkürztem Einkommen wie dem Kurzarbeitergeld mit dem Begriff „Profitieren“ zu jonglieren, ist nach wirtschaftstheoretischen Kriterien nicht redlich, eher anmaßend).
- Soforthilfe bezogen Personen aus dem untersten Quintil (den 20 Prozent mit den geringsten Einkommen etwas häufiger). Diese Hilfen haben so die wirtschaftlichen Härten besonders für die untere Einkommensmitte abgefedert.
Mehr Menschen sind dauerhaft von Armut bedroht
Dem zuvor zitierten Datenreport 2021 des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung über ungleiche Lebensbedingungen und die Folgen von Corona ist zu entnehmen, dass es zunehmend seltener gelingt, der Armut zu entkommen, , also die Armutsgrenze durch eine Verbesserung der Einkommenssituation nach oben hin wieder zu überschreiten. Nach Auffassung von Joachim Rock des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, zeige der Armutsbericht der Bundesregierung, dass im Pandemie-Jahr 2020 die Ärmsten am härtesten betroffen waren. „Während Menschen mit geringen Einkommen häufig reale Einkommensverluste hinnehmen mussten, wuchsen höhere Einkommen deutlich stärker. Die Vermögen sind sehr ungleich verteilt: Die reichste Hälfte der Bevölkerung verfügt über 99,5 Prozent der Vermögen.“ Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge gehörte dem Gutachtergremium der Bundesregierung für den Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht an. Er hält dem 6. Armutsbericht zumindest zugute, dass erstmals die Thematik Reichtum stärker als in den vorausgegangenen Berichten behandelt wird. Die der Berichtlogik zugrunde gelegte Herangehensweise, Einkommens-Reichtum bei einem monatlichen Netto-Einkommen von 3894 Euro und den Vermögensreichtum bei einem Nettovermögen von 500 000 Euro hält er allerdings für fragwürdig.
Wenn man einen Großteil der Bevölkerung als reich begreift, gerät der wirkliche Reichtum aus dem Blickfeld. Verschleiert wird, dass Hochvermögende nicht bloß mehr Geld als normale Menschen haben, sondern auch einen größeren politischen Einfluss.
Für ihn liegt das größte Manko des Armuts- und Reichtumsberichts in seiner deskriptiven Vorgehensweise. Der strukturelle Zusammenhang zwischen Armut und Reichtum würde damit ignoriert und nach den gesellschaftlichen Ursachen der ausführlich beschriebenen Verteilungsschieflage gar nicht gefragt. Dafür gerieten die zuvor schon erläuterten Kategorien persönlicher differenzierter Lebenslagen, ohne eine ursächliche Analyse der Gründe für Armut anzustellen, in den Fokus der Beschreibung der Ausprägungen von Armut.
Nach Auffassung von Christoph Butterwegge wäre es dringend erforderlich, die Wurzeln der wachsenden Ungleichheit zu ergründen und daraus entsprechende politische Handlungsmaximen abzuleiten. Damit sei der Armutsbericht der CDU/SPD-Regierungskoalition darauf abgestellt, dem (Wahl)-Volk eine programmatische Leistungsschau ihrer Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik „verkaufen“, statt sich den infolge der Corona-Krise noch gewachsenen sozialen Problemen des Landes zu stellen. „Von Tag zu Tag wird es somit klarer, dass die Produktionsverhältnisse, in denen sich die Bourgeoisie bewegt, nicht einen einheitlichen, einfachen Charakter haben, sondern einen widersprüchlichen; dass in denselben Verhältnissen, in denen der Reichtum produziert wird, auch das Elend produziert wird ...; dass diese Verhältnisse den bürgerlichen Reichtum ... nur erzeugen unter fortgesetzter Vernichtung des Reichtums einzelner Glieder dieser Klasse und unter Schaffung eines stets wachsenden Proletariats.“ Eine eingehende Analyse der sich veränderten Gesellschaftsstrukturen und einer Bestimmung von Klassen-Zugehörigkeit unter den heute herrschenden kapitalistischen Produktionsverhältnissen ist einem beabsichtigten Report des isw vorbehalten. Ungesehen dessen erscheint es naheliegend, dass die Regierungen jetzt handeln und extreme Ungleichheit und Armut bekämpfen müssen. Damit die notwendigen Maßnahmen finanziert werden können, müssen Konzerne und Superreiche ihren fairen Anteil zur Bewältigung der Krise beitragen. „Die Corona-Pandemie muss ein Weckruf sein, extreme Ungleichheit und Armut endlich bei der Wurzel zu packen. Dafür brauchen wir ein Wirtschaftssystem, das die Macht und den Einfluss sehr großer Konzerne reduziert, an dem Beschäftigte, Erzeuger, Verbraucher*innen und andere Akteursgruppen politisch und wirtschaftlich gleichberechtigt teilhaben und das Gewinne unter Beachtung der planetarischen Grenzen erwirtschaftet und von Anfang an gerecht verteilt. Der Schlüssel liegt in einer Demokratisierung der Wirtschaft, das heißt Entscheidungsmacht muss breit geteilt werden und darf sich nicht bei einigen wenigen konzentrieren.“